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EUROPA/304: "Wir haben uns in der Ignoranz eingerichtet" (ai journal)


amnesty journal 06/07/2011 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Wir haben uns in der Ignoranz eingerichtet"

Rund die Hälfte aller Europäer ist der Meinung, dass es zu viele Zuwanderer im eigenen Land gibt. So lautet das Ergebnis der Studie "Die Abwertung der Anderen" zu Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung in Europa. Ein Gespräch mit Andreas Zick, Sozialwissenschaftler und Mitautor der Studie.

Die Fragen stellte Ralf Rebmann


FRAGE: Das Thema Flüchtlinge bestimmt derzeit die öffentliche Debatte. Steigt die Fremdenfeindlichkeit in Europa?

ANDREAS ZICK: Mich beunruhigt, dass die Flüchtlinge auf ein Europa treffen, in dem Vorurteile schon weit verbreitet sind. Unsere bisherigen Studien über Migration weisen daraufhin, dass wir mit einem Anstieg von Fremdenfeindlichkeit rechnen müssen. Ein Indiz dafür ist auch die Art und Weise, wie wir über Flüchtlinge reden. Ganz schnell tauchen in den Medien wieder Begriffe wie "Asylanten" oder "Asylantenschwemme" auf.

FRAGE: Der italienische Innenminister hat im Februar vor einem "biblischen Exodus" gewarnt...

ANDREAS ZICK: Ja, das sind die alten Bilder: "Das Boot ist voll", "biblischer Exodus", Überfremdung, Wirtschaftsflüchtlinge oder der Begriff der "Heuschrecken". Diese Begriffe aus den neunziger Jahren finden wir jetzt wieder.

FRAGE: Hat sich nichts geändert?

ANDREAS ZICK: Teilweise, aber wir sollten uns nichts vormachen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Vorurteile weiter verbreitet sind als wir annehmen. Und die Frage des Umgangs mit Flüchtlingen ist immer die Frage, ob wir anderen Menschen dieselben Rechte zugestehen wollen, die wir uns selbst auch zugestehen.

FRAGE: Wie tolerant sind die Europäer?

ANDREAS ZICK: Gemessen am Ausmaß der Vorurteile sind weite Teile tolerant. Aber wir sehen auch, dass zum Beispiel rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung Multikulturalismus ablehnt und Vielfalt für ein Problem hält. Am deutlichsten zeigt sich das beim Islam: Rund 80 Prozent der Deutschen finden, dass er eher nicht oder überhaupt nicht zu unserer Kultur passt. Das ist ein sehr exklusives Verhältnis zu Multikulturalismus.

FRAGE: Gleichzeitig geben 70 Prozent der Befragten an, dass Zuwanderer eine Bereicherung für die eigene Kultur darstellen

ANDREAS ZICK: Ja, man sieht hier eine hohe Ambivalenz: Einerseits will man Kultur als Bereicherung und man will das Exotische. Auf der anderen Seite möchte man aber selbst definieren, was Bereicherung ist. Den Italiener in der Pizzeria um die Ecke akzeptieren wir. Aber der Flüchtling, der sozusagen nichts zu bieten hat, wird abgelehnt. Flüchtlinge werden dann nicht als Gruppe gesehen, die nach dem Grundrecht Unterstützung bekommen müsste, sondern als ökonomische Größe: "Was kosten sie?" und "Was für eine Belastung sind sie?"

FRAGE: Gibt es eine "Hierarchie der Ausländer"?

ANDREAS ZICK: Ganz klar. Selbst als wir Studierende zu diesem Thema befragt haben, ordneten sie Asylbewerber ganz unten in der Hierarchie ein. Außerdem existieren über diese Menschen eindeutige Stereotype. Da ist die Angst vor den "jungen Männern", die kommen und gewalttätig und unordentlich sind. Wobei das natürlich ein Irrtum ist.

FRAGE: In Europa wird die Demokratiebewegung in der arabischen Welt euphorisch befürwortet, aber Grundrechte wie Reisefreiheit will man den Menschen nicht zugestehen...

ANDREAS ZICK: Wenn wir in Deutschland nach Migration fragen, fragen wir immer nach Sicherheit. Und alles, was diese Sicherheit in irgendeiner Weise bedroht, wird erst einmal abgelehnt. Wir haben nach der "grünen Revolution" im Iran 2009 untersucht, ob sich in Deutschland die Einstellung gegenüber Muslimen positiv verändert hat. Im Ergebnis konnten wir keine Veränderung feststellen, vielmehr wurden die alten Stereotypen bestätigt.

FRAGE: Die Niederländer haben in der Studie etwas besser abgeschnitten als die restlichen Europäer

ANDREAS ZICK: Die Niederländer machen etwas sehr viel besser und etwas sehr viel schlechter: Sie pflegen zwar weniger Vorurteile, favorisieren aber ein Gesellschaftskonzept, das interkulturellen Austausch verhindert. Man akzeptiert sich - aber nur auf Distanz. Die Bereitschaft, mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu leben, ist sehr gering ausgeprägt. Eine Folge dieses Konzepts ist, dass der Rechtspopulismus seinen Platz findet.

FRAGE: Auch in Frankreich, Ungarn und Finnland gewinnen rechtspopulistische Parteien an Boden. Müssen wir uns um die europäischen Demokratien Sorgen machen?

ANDREAS ZICK: Als Vorurteils- und Konfliktforscher macht man sich vermutlich immer Sorgen. Wir sehen positive Tendenzen, was Demokratie und Demokratiebildung betrifft, das reicht aber noch nicht aus. Wenn es um Diskriminierung geht, schauen wir in Europa zu sehr weg. Wir haben uns in der Ignoranz eingerichtet. In Deutschland ist das Ausmaß an autoritärer Rechtsorientierung stark verbreitet: In unseren Befragungen gibt es immer 70 bis 80 Prozent der Bürger, die härter gegen Unruhestifter und Außenseiter vorgehen wollen.

FRAGE: Mit welchem Ergebnis Ihrer Studie haben Sie nicht gerechnet?

ANDREAS ZICK: Ich habe nicht mit der starken Ablehnung des Islams gerechnet. Alarmierend ist auch, dass in Deutschland Islamfeindlichkeit und Antisemitismus vor allem in der einkommensstarken Bevölkerungsschicht angestiegen sind.

FRAGE: Wie lässt sich die Radikalisierung dieser Schicht erklären?

ANDREAS ZICK: Wir beobachten, dass der Rechtspopulismus sehr stark in die Mitte der Gesellschaft drängt, was unter anderem am Misstrauen gegenüber etablierten Parteien und der Politik liegt. Gleichzeitig erleben wir eine gesellschaftliche Zersplitterung und Orientierungslosigkeit. Wenn eine Gesellschaft nach ökonomischen Prinzipien funktionieren muss und die Krise eintritt, führt das dazu, dass Randgruppen, die angeblich nichts zur Gesellschaft beitragen, in den Fokus geraten.

FRAGE: Und wieso muss gerade der Islam als Feindbild herhalten?

ANDREAS ZICK: Islamfeindlichkeit ist ein Phänomen der Terroranschläge vom 11. September 2001. Stereotype gegenüber Muslimen gab es bereits vorher, doch die Feindlichkeit entstand vor allem nach dem Anschlag. Man unterstellte der Religion, dass sie den Terrorismus verursache. Die derzeitigen demokratischen Entwicklungen in Nordafrika bieten deshalb eine große Chance für Europa, nochmals zu verhandeln, in welcher Form der Islam Teil unserer Gesellschaft sein kann.

FRAGE: Was kann man präventiv gegen Fremdenfeindlichkeit tun?

ANDREAS ZICK: Schutzfaktor Nummer eins ist Bildung. Und dabei meine ich demokratische Grundbildung. Vor Vorurteilen und Diskriminierung schützen außerdem positive Kontakte, Austausch und Freundschaften mit Angehörigen einer Minderheit. Eine wichtige Rolle spielt auch die Zivilcourage: Wir sollten aufmerksam sein und bei Notfällen nicht wegschauen. Vor allem müssen wir aber Verantwortung übernehmen - ohne die geht es nicht.


Andreas Zick ist Professor am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Zusammen mit Beate Küpper und Andreas Hövermann untersuchte er in der Studie "Die Abwertung der Anderen" das Ausmaß von Vorurteilen und Diskriminierung in Europa. Die Studie ist im Auftrag des Projekts "Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus" des Forum Berlin der Friedrich-Ebert-Stiftung entstanden und unter folgender Adresse abrufbar:
www.fes-gegen-rechtsextremismus.de


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Quelle:
amnesty journal, Juni/Juli 2011, S. 32-33
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2011