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EUROPA/332: Auf Kosten der Menschen (ai journal)


amnesty journal 08/09/2014 - Das Magazin für die Menschenrechte

Auf Kosten der Menschen
Während Europa enorme Summen ausgibt, um den Kontinent abzuschotten, spielen sich an den Grenzen menschliche Tragödien ab.

von Franziska Vilmar



Wer nach Europa fliehen will, scheitert meistens bereits auf dem Weg dorthin. Welche fatalen Folgen es für Migranten und Schutzsuchende hat, dass die Außengrenzen der EU immer hermetischer abgeriegelt werden, lässt sich im neuen Amnesty-Bericht "The human cost of fortress Europe" nachlesen, der im Juli veröffentlicht wurde. Von den knapp vier Milliarden Euro, die die EU-Kommission in den Jahren 2007 bis 2013 unter anderem aus dem Fonds "Solidarität und Steuerung der Migrationsströme" (Solid) zur Verfügung stellte, wurden nur 700 Millionen Euro dafür verwendet, um Asylverfahren zu unterstützen, Aufnahmebedingungen zu verbessern und Resettlement-Programme für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge auszubauen. Fast die Hälfte des Etats diente dazu, die Außengrenzen zu verstärken. So investierte z.B. Spanien in dem genannten Zeitraum aus dem Solid-Fonds knapp 290 Millionen Euro in die Grenzsicherung, gab aber nur etwa 9,3 Millionen Euro für Flüchtlinge aus.

Menschenrechtliche Aspekte spielen bislang bei der Finanzierung des Grenzschutzes keine Rolle. Die EU-Kommission hat keine wirksame Überprüfung geschweige denn Sanktionsmechanismen im Fall von Missbrauch vorgesehen. An den EU-Außengrenzen ist deutlich sichtbar, worauf die Europäische Union drängt: So entstand an der griechisch-türkischen Grenze 2012 ein mehr als zehn Kilometer langer Zaun. Seither geht die griechische Küstenwache routinemäßig mit lebensgefährlichen "Push-Back"-Operationen gegen Bootsflüchtlinge vor, bei denen die Boote gewaltsam zurückgeführt werden. Die griechische Regierung negiert diese Menschenrechtsverletzungen weitgehend, und die EU-Kommission schreitet ebenfalls nicht wirksam dagegen ein. Auch die Europäische Grenzschutzagentur Frontex ist mit ihrer "Operation Poseidon" weiterhin aktiv. Dabei könnte und müsste sie ihren Einsatz zumindest aussetzen - Amnesty International und Pro Asyl werfen der Behörde massive Menschenrechtsverletzungen in der Region vor. Es fehlt zudem an klaren Vorgaben, unter welchen Voraussetzungen und mit welchem Ziel Frontex tätig werden muss, wenn über Menschenrechtsverletzungen berichtet wird.

An der Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei ist seit Frühjahr 2014 zudem das neue Grenzüberwachungssystem Eurosur im Einsatz. Mit Hilfe kostspieliger Technologie (u.a. durch den Einsatz von Drohnen) soll die EU-Außengrenze noch stärker abgeriegelt werden. Bulgarische Grenzoffiziere haben Amnesty berichtet, dass Eurosur nicht nur dabei helfen soll, Migranten und Migrantinnen beim irregulären Grenzübertritt zu identifizieren. Vielmehr soll die neue Technik Menschen bereits daran hindern, die bulgarische Grenze überhaupt zu erreichen. Die Überwachungskameras sind so aufgestellt, dass sie jedes bewegliche Objekt im Umkreis von 15 Kilometern jenseits der Grenze Richtung Türkei registrieren können.

Als im vergangenen Herbst immer mehr syrische Flüchtlinge in Bulgarien ankamen, reagierte das überforderte Land prompt. Mehr als 1.500 zusätzliche Polizisten sind seither an der Grenze zur Türkei eingesetzt, der Bau eines 30 Kilometer langen Zauns hat begonnen. Die Grenzübertritte nach Bulgarien gingen von etwa 1.700 Fällen pro Monat auf hundert zurück.

Die größte Hürde für Migranten und Flüchtlinge, um in die "Festung Europa" zu gelangen, bilden daher die Transitländer. Mit Hilfe bilateraler Abkommen sollen sich Staaten wie Libyen, Marokko, die Türkei oder die Ukraine in Pufferzonen verwandeln. Libyen hat sich gegenüber Italien verpflichtet, Menschen bereits an der Ausreise nach Europa zu hindern. Im Gegenzug finanzieren die EU oder einzelne Mitgliedsstaaten die notwendige Überwachungstechnologie in den Transitländern, bilden deren Grenzschützer aus oder investieren in den Bau oder Erhalt von Gefängnissen, z.B. in der Türkei oder in der Ukraine.

Im Rückübernahmeabkommen zwischen der EU und der Türkei verpflichtet sich die Regierung in Ankara sogar dazu, ihrerseits Abkommen mit jenen Staaten zu schließen, aus denen die meisten Flüchtlinge oder Migranten in die Türkei kommen. Deutlicher lässt sich kaum beschreiben, wie unerreichbar Europa werden soll. Wer in einem Transitland festsitzt, ist zudem mit zahlreichen Problemen konfrontiert: Es fehlt an einem ordentlichen Asylverfahren, oft erhalten die Betroffenen keinen dauerhaften rechtlichen Status. Sie sind von Obdachlosigkeit bedroht und arbeiten häufig in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen. Es drohen ihnen Haft und Misshandlung, in Libyen sogar Folter.

Die menschlichen Kosten der europäischen Festung sind immens. Die illegalen Zurückweisungen von Migranten und Flüchtlingen durch Griechenland und Bulgarien in die Türkei stellen nicht nur klare Verstöße gegen das völkerrechtliche Verbot kollektiver Ausweisung dar. Sie gehen zusätzlich mit Misshandlungen und Erniedrigungen einher. Opfer von "Push-Back"-Operationen haben Amnesty International berichtet, wie sie von EU-Grenzschützern bestohlen und geschlagen worden sind. Anschließend wurden sie in oft lebensbedrohlichen Situationen allein zurückgelassen. Doch die Verzweiflung der Menschen ist zu groß. Als im Februar 2014 einige Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende versuchten, von Marokko aus schwimmend in die spanische Exklave Ceuta zu gelangen, beschoss die spanische Guardia Civil sie mit Gummigeschossen. 14 Menschen verloren dabei ihr Leben.

Dass aufgrund der Abschottung der südöstlichen Landesgrenzen immer mehr Flüchtlinge, insbesondere aus Syrien, versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, ist naheliegend. Im Oktober 2013 kam es vor der Küste Lampedusas zu zwei katastrophalen Vorfällen, bei denen mehr als 400 Flüchtlinge starben. Seither hat die italienische Marine im Rahmen der Operation "Mare Nostrum" mehr als 74.000 Menschen gerettet. Italien kann diesen Einsatz, der pro Monat bis zu neun Millionen Euro kostet, selbstverständlich nicht allein tragen. Finanzielle oder andere nachhaltige Unterstützung seitens der EU-Mitgliedsstaaten sind jedoch bis heute ausgeblieben.

Die Autorin ist Expertin für Asylpolitik der deutschen Amnesty-Sektion.


Flucht vor Gewalt und Verfolgung

Begründet wird die Abschottung durch Politiker und Medien zumeist damit, dass Europa bereits einen hohen Anteil an Flüchtlingen und Migranten zu verkraften habe. Häufig wird auch argumentiert, dass es sich bei der großen Mehrheit der Migranten, die Europa erreichen, um sogenannte "Wirtschaftsflüchtlinge" handele. Beide Argumente entsprechen nicht den Fakten: Die meisten Flüchtlinge weltweit verlassen ihre Herkunftsregion nicht, nur ein kleiner Bruchteil erreicht die EU. Das höchste Flüchtlingsaufkommen hatten 2013 Länder wie Pakistan, Iran, Libanon, Jordanien, die Türkei, Kenia, der Tschad, Äthiopien, China und die USA. Seit Beginn der Syrienkrise im Frühjahr 2011 haben mehr als 2,9 Millionen Syrer ihr Land verlassen. Nur 96.000 von ihnen erreichten bis Ende April 2014 ­Europa, um dort Schutz zu suchen. 48 Prozent aller Ankömmlinge und 63 Prozent aller, die auf dem Seeweg eintrafen, stammten aus Syrien, Eritrea, Afghanistan oder Somalia. Die Mehrzahl der Menschen aus diesen Ländern ist auf der Flucht vor Gewalt oder Verfolgung und benötigt internationalen Schutz.

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Quelle:
amnesty journal, August/September 2014, S. 24-25
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2014


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