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EUROPA/337: Die Rechte von Transgender in Norwegen (ai journal)



amnesty journal 10/11/2014 - Das Magazin für die Menschenrechte

Aufgetaucht

Die Norwegerin John Jeanette Solstad Remø ist eine Frau, die ihr wahres Geschlecht lange verbergen musste. Doch heute setzt sie sich offen für die Rechte von Transgender ein.

von Daniel Kreuz

Jahrzehntelang hatte John Solstad Remø seiner Heimat Norwegen als Soldat in der Königlichen Marine treu gedient. Als Remø in den Ruhestand ging, konnte er auf eine beachtliche Karriere zurückblicken, in der er es bis zum Kommandanten eines U-Boots gebracht hatte. Abtauchen, sich unter der Oberfläche verstecken, im Verborgenen operieren - das gehörte zu seinem Alltag. Aber leider nicht nur im Beruf, sondern auch im Privatleben. Denn John Solstad Remø ist Transgender - und heißt mittlerweile John Jeanette.

Ihre wahre Identität konnte die heute 65-Jährige aus Angst vor Ausgrenzung und Anfeindungen lange Zeit nicht ausleben. Stattdessen musste sie sich verstellen und konnte nur im Verborgenen so sein, wie sie wirklich ist: eine Frau geboren im Körper eines Mannes: "Als ich vier oder fünf Jahre alt war, erwischte mich meine Mutter, als ich Frauenkleider anprobierte. Sie sagte mir, dass so etwas streng verboten sei und eine Schande für die ganze Familie, wenn ich mich so anziehen würde."

Bei der Marine diente John Jeanette nicht als Kommandantin, sondern als Kommandant. Sie stammt aus einer Militärfamilie. Es stand außer Frage, dass auch sie diese Tradition fortführen und eine militärische Laufbahn einschlagen sollte. Um die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen, führte sie ein Doppelleben: Bei der Marine arbeitete sie als Seelotse und U-Boot-Kommandant, doch in ihrer Freizeit nutzte sie jede Gelegenheit, um sich als Frau zu kleiden. "Das war anstrengend für mich. Ich war voller Angst und als ich später damit begann, mehr und mehr als Frau gekleidet auszugehen, wurde die Angst immer schlimmer." John Jeannette sagt, sie sei schon ihr "gesamtes Leben lang Transgender". Doch sie musste es viele Jahre verstecken: "Es war sehr hart für mich, aufzuwachsen ohne jemanden zu haben, mit dem ich über alles reden konnte. Aber ich überlebte, indem ich in anderen Bereichen herausragende Leistungen erbracht und gleichzeitig meine Gefühle unterdrückt habe".

Im Jahr 1986 schloss sich John Jeanette der "Norwegian Association for Transgender people (FTP-N)" an, doch erst 2010 hatte sie ihr "Coming Out". Sie engagiert sich als Aktivistin in verschiedenen Organisationen für die Rechte von Transgender: "Ich habe immer davon geträumt, dass ich eines Tages mit der Tatsache, dass ich selbst Transgender bin, dazu beitragen kann, dass sich etwas ändert. Es hat fast 61 Jahre gedauert, bis ich einfach nur ich sein konnte, aber nun kann ich meinen Traum endlich richtig ausleben."

In ihrem Pass steht nun als Name John Jeanette, doch ihre Freunde nennen sie einfach nur Jeanette. In der Öffentlichkeit benutzt sie aber auch den Namen John - aus Protest, um auf die diskriminierenden Gesetze aufmerksam zu machen. Denn es ist in Norwegen zwar relativ einfach, den Namen zu ändern, aber dies geht nicht einher mit einer Änderung der Anrede "Herr" oder "Frau". Daher steht auch in John Jeanettes Pass nach wie vor als Geschlecht "männlich", obwohl sie sich selbst als Frau fühlt.

Um dies zu ändern, haben die Ämter große Hürden aufgebaut. Alle Einwohner Norwegens bekommen von der Steuerbehörde eine elfstellige Identifikationsnummer zugewiesen, die auch die Angabe über das Geschlecht enthält. Auf Grundlage dieser Nummer werden alle offiziellen Dokumente ausgestellt. Wenn Transgender die Nummer ändern wollen, damit sie mit dem von ihnen bevorzugten Geschlecht identifiziert werden, müssen sie eine komplette Geschlechtsumwandlung über sich ergehen lassen. Dazu gehören psychiatrische Begutachtungen und medizinische Behandlungen, einschließlich einer geschlechtsangleichenden Operation, bei der die Fortpflanzungsorgane chirurgisch entfernt werden, was eine unumkehrbare Sterilisation zur Folge hat. Damit diese Operation durchgeführt wird, müssen Psychiater zuvor diagnostizieren, dass ein Fall von Transsexualität vorliegt. Wie viele andere Transgender verweigert John Jeanette einen solch massiven Eingriff: "Das wäre nicht gut für meinen Körper. Das weiß ich genau, denn ich habe viele Menschen gesehen, die danach Probleme hatten. Außerdem möchte ich, dass meine Sexualität so bleibt, wie sie ist. Und um diese Operation zu bekommen, muss man gewissermaßen geisteskrank sein, und darüberhinaus würde ich kastriert werden - nur, damit die Regierung mich so anerkennt, wie ich möchte."

Patricia Kaatee von der norwegischen Amnesty-Sektion stellt klar: "Die einzige Voraussetzung, die nötig sein sollte, um sein Geschlecht zu ändern, ist die eigene Wahrnehmung der Geschlechtsidentität und keine Diagnose oder Sterilisation. Es ist ein grundlegendes Menschenrecht, seine eigene Identität auszudrücken. Das gilt auch auf offiziellen Papieren."

Doch in der Realität wird John Jeannettes Recht auf Privatsphäre und gesetzliche Anerkennung tagtäglich verletzt. "Wenn ich mit einem Rezept in die Apotheke gehe, wundern sich die Mitarbeiter sofort und stellen mir alle möglichen Fragen: 'Sind das wirklich Sie? Dieses Papier sagt, dass sie ein Mann sind, aber Sie sehen aus wie eine Frau.' Dasselbe passiert, wenn ich mir in der Bibliothek ein Buch ausleihen möchte, bei der Post ein Paket abholen möchte oder in Hotels einchecke. Solche beschämenden Momente passieren die ganze Zeit."

In den vergangenen Jahren haben verschiedene Organisationen mit Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit versucht, endlich eine Besserung herbeizuführen. Auch Amnesty hat sich für John Jeannette eingesetzt. Im Juni kündigte der norwegische Gesundheitsminister Bent Høie Verbesserungen an: "Ich bin mir im Klaren darüber, dass das gegenwärtige System nicht akzeptabel ist." Es sei sehr schlecht konzipiert.

John Jeannette hofft, dass der Minister Wort hält: "In meinem Pass steht, dass ich ein Mann bin. Überall werde ich als Frau wahrgenommen, bis sie meine Papiere sehen. Es würde die Regierung nicht viel kosten, dies zu ändern. Gebt mir einfach einen neuen Pass. Ich bezahle ihn auch gerne selbst."



Der Autor ist freier Journalist und lebt in Berlin.

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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2014, S. 30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2015

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