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EUROPA/342: Abschottungspolitik - "Das ist eine Schande für Europa" (ai journal)


amnesty journal 01/2015 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Das ist eine Schande für Europa"

von Selmin Çaliskan


Die Abschottungspolitik der EU drängt immer mehr Flüchtlinge auf die gefährliche Route über das Mittelmeer. Eine internationale Amnesty-Delegation reiste daher Ende September nach Italien, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Selmin Çaliskan, Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion, schildert ihre Eindrücke und Erlebnisse.


Ende September sind wir als Amnesty-Delegation drei Mal über das Mittelmeer geflogen. Erst von Rom nach Palermo auf Sizilien, von dort zur Insel Lampedusa und wieder zurück nach Palermo. Als ich aus dem Flugzeugfenster sah, lag das Meer still und friedlich unter uns. Doch jedes Mal, wenn ich ein kleines Boot oder Schiff erkannte, erschrak ich und dachte sofort: "Hoffentlich sind das keine Flüchtlinge, die in Seenot sind ..."

Wenn man das Meer von oben betrachtet, denkt man automatisch an die Tausende von Menschen, die auf der Flucht nach Europa dort ihr Leben verloren haben. Und das nur, weil die EU die Außengrenzen dicht gemacht hat und sich immer mehr abschottet. Vielen Flüchtlingen, die Schutz in Europa suchen, bleibt nur die Möglichkeit, in zumeist untauglichen Booten das Meer zu überqueren, das häufig alles andere als still und friedlich ist.

Im Alleingang startete Italien im Oktober 2013 die groß angelegte Seenotrettungsaktion "Mare Nostrum", die innerhalb eines Jahres mehr als 170.000 Menschen das Leben gerettet hat. Doch von den anderen EU-Staaten erhielt Italien weder finanzielle noch logistische Unterstützung.

Um uns ein Bild von der Lage vor Ort zu machen, reisten wir als Amnesty-Delegation durch Italien. Mit dabei waren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Aktivistinnen und Aktivisten der italienischen und französischen Amnesty-Sektion. Die deutsche Amnesty-Sektion wurde außer von mir vertreten durch die Asyl-Referentin Franziska Vilmar, den Leiter der Abteilung "Kampagnen und Kommunikation" Markus Beeko, den Schauspieler und Amnesty-Unterstützer Benno Fürmann und das Amnesty-Mitglied Ingeborg Heck-Böckler, die sich in Aachen seit Jahrzehnten für Flüchtlinge politisch, aber auch ganz praktisch einsetzt.

Gemeinsam machten wir das, was eigentlich auch die EU tun sollte: über Landesgrenzen hinweg zusammenarbeiten und sich solidarisch zeigen mit den Flüchtlingen und denjenigen, die sich für sie einsetzen.

Unsere Reise führte uns unter anderem in das Hauptquartier von "Mare Nostrum" in Rom und zu einem Marinestützpunkt im sizilianischen Augusta, wo uns Offiziere von ihren Erfahrungen berichteten. Unter ihnen waren auch Männer, die selbst bereits ins Meer gesprungen sind, um Menschen zu retten. Ihnen konnte man ansehen, wie viel Leid sie gesehen haben. Für sie ist es selbstverständlich, Flüchtlinge auf hoher See zu retten und aufs sichere Festland zu bringen - wohlwissend, dass viele ihrer Landsleute es lieber sehen würden, wenn die Flüchtlinge nicht nach Italien kämen.

Flüchtlinge wie Alieu und Mamadou. Nur knapp überlebten die beiden jungen Männer aus Gambia im Juni 2014 ein Schiffsunglück, bei dem mindestens 30 Menschen starben. Sie selbst trieben stundenlang im Wasser, bis sie gerettet wurden. Nun warten sie im Aufnahmelager im sizilianischen Mineo auf die Entscheidung über ihren Asylantrag, fast eine Stunde Taxifahrt entfernt von der nächsten größeren Stadt. Einen Tag lang begleiteten sie uns. Ihre Schilderungen werden mir noch lange im Gedächtnis bleiben. Aber es ist gut zu wissen, dass sich Mitglieder des sizilianischen Amnesty-Bezirks engagiert um sie und andere Flüchtlinge kümmern.

Wir besuchten auch die Insel Lampedusa, die in den vergangenen Jahren Anlaufstation für Tausende Flüchtlinge war und vor deren Küste sich immer wieder Tragödien ereignen. Dort trafen wir die Bürgermeisterin der Insel, Giusi Nicolini. Sie war sehr freundlich und offen, gleichzeitig aber auch gezeichnet von der Zeit, in der es mehr Flüchtlinge als Einwohnerinnen und Einwohner auf der Insel gab. Man konnte Nicolini die Erschöpfung ansehen. Sie ist eine zierliche Person mit viel Kraft, auf der viel Verantwortung lastet.

Sie sagte uns, dass Lampedusa das Alibi für Europa sei, das ja eigentlich seinem Selbstverständnis nach für Menschenrechte steht. Doch es waren die Menschen auf Lampedusa, die sich um die Flüchtlinge kümmerten - und nicht die Behörden oder Politikerinnen und Politiker, weder in Italien noch auf EU-Ebene. Nicolini stellte klar: "Es ist eine Schande für Europa, wie die Flüchtlinge und die Inselbewohnerinnen und -bewohner immer wieder alleingelassen werden."

Und natürlich bekamen auch die Kinder mit, was vor ihrer Küste passiert, wenn im Hafen die Särge für die im Meer geborgenen Leichen der Flüchtlinge standen. Ein kleiner Junge fragte die Bürgermeisterin einmal: "Aber warum nehmen die Menschen denn nicht einfach ein Flugzeug, um hierher zu kommen?" Ja, warum müssen Menschen eigentlich ihr Leben riskieren, um in Europa Schutz zu finden? Das ist die Kernfrage, der sich alle stellen müssen.

Einige Gesprächspartner sagten uns, dass ein humanitäres Visum eine Lösung sein könnte. Flüchtende könnten es in den Botschaften, beim UNHCR oder in den Büros der EU-Delegationen direkt vor Ort beantragen, um dann sicher nach Europa kommen zu können, um Schutz zu beantragen.

Das Treffen mit Bürgermeisterin Nicolini hat mich sehr beeindruckt. Genauso wie das mit Mimmo Zambito, Pastor von Lampedusa, der den Flüchtlingen hilft, wo er nur kann. Er kann einfach nicht begreifen, dass Europa wegschaut, wenn Menschen aus Angst vor Krieg und Gewalt so verzweifelt sind, dass sie ihr Leben auf dem Meer riskieren und dabei sterben ... Und ich begreife es auch nicht.

Auf Lampedusa trafen wir auch den Kommandanten der Küstenwache, Giuseppe Cannarile. Als wir auf das Bootsunglück vom 3. Oktober 2013 zu sprechen kamen, bei dem ungefähr 380 Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea vor der Insel ertranken, musste er sich vor Anspannung erst eine Zigarette anzünden.

Später trafen wir die Aktivistin Paola Rosa vom "Komitee 3. Oktober". Sie ging mit uns auf den Friedhof der Insel, der geradezu pittoresk wirkt mit seinen hellen, gepflegten Grabsteinen und Steinplatten, teilweise verziert mit kleinen Statuen oder Fotos der Verstorbenen.

Doch inmitten dieses akkurat gepflegten Friedhofs gibt es eine Grasfläche mit kleinen aufgeschütteten Erdhügeln. Dort liegen die Gräber der Flüchtlinge, die nur noch tot aus dem Wasser geborgen werden konnten. Ihre Gräber sind versehen mit schiefen Holzkreuzen, ohne Namen. Man weiß nicht, wer hier begraben liegt. Es ist schwer, Menschen zu gedenken, die keinen Namen haben und von denen man nicht weiß, wo sie herkamen. Was hinter ihnen lag. Was sie sich erhofft hatten ... Aber auch an einigen dieser Gräber liegen frische Blumen. Das hat mich sehr berührt, denn es zeigt: Diese Flüchtlinge kannte niemand - und trotzdem gibt es hier Menschen, die an sie denken und die Erinnerung an sie wachhalten.

Auf unserer Reise trafen wir sehr viele hilfsbereite und engagierte Menschen. Doch erweckten sie nicht den Eindruck, als würden sie etwas Heldenhaftes tun. Sie sind bescheiden, fast demütig, weil sie mit eigenen Augen menschliche Tragödien miterlebt haben - und auch die Ohnmacht angesichts des allgegenwärtigen Todes. Aber es steht für sie außer Frage, dass sie das Richtige tun.

So wie die Ordensschwestern, die wir in Agrigento auf Sizilien trafen. Die Schwesterngemeinschaft hat ein Netzwerk von 100 ehrenamtlichen Helfern aufgebaut, die Flüchtlinge unterstützen. Als eine Helferin vor Kurzem verstarb, vermachte sie ihr Haus der Initiative und verfügte in ihrem Testament, dass das Haus zukünftig als Unterkunft für Flüchtlinge und Asylsuchende dienen soll. Dabei ist die Unterstützung illegaler Einwanderer in Italien verboten. Als wir eine der Ordensschwestern fragten, ob sie sich vor juristischen Konsequenzen fürchte, lächelte sie nur und antwortete gelassen: "Wir haben doch den besten Anwalt auf unserer Seite, den es nur geben kann: den lieben Gott".

Wir sind allen Menschen sehr dankbar, die sich Zeit genommen haben, uns ihre Sicht der Dinge und ihre Erfahrungen zu schildern. Aber auch wir wurden mit großer Dankbarkeit empfangen. Die Menschen freuten sich über unsere Solidarität und den Einsatz von Amnesty auf Kampagnen- und Lobby-Ebene, denn sie wissen, dass unsere Stimme laut ist und zählt, wenn es um politischen Druck geht. Wir wissen auch von Gesprächen mit Admiral Foffy, dem Chef der italienischen Marine, dass er alles tut, damit seine Flotte weiterhin Menschen retten kann, auch wenn das Innenministerium die Operation "Mare Nostrum" erst kürzlich offiziell beendet hat.

Denn die Nachfolgeoperation "Triton" hat weder die nötige Ausstattung, noch den expliziten Auftrag, Menschen zu retten. Noch fährt sie bis in libysche Gewässer, wo die meisten Boote sinken. "Triton" soll nur in EU-Gewässern nach Flüchtlingen Ausschau halten. Viele Gesprächspartner bestätigten uns, dass wir uns nicht in einer Ausnahmesituation befinden, sondern, dass wir alle uns darauf einstellen müssen, dass noch viele Menschen kommen werden. Also ist weiterhin politischer und moralischer Druck dringend nötig. Denn die EU muss endlich alle notwendigen Maßnahmen treffen, um den Tod von Menschen im Mittelmeer zu verhindern, statt ihn stillschweigend in Kauf zu nehmen - was viele EU-Regierungen bis heute tun.

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Quelle:
amnesty journal, Dezember 2014 / Januar 2015, S. 36-38
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2015

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