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FRAGEN/016: Urteil gegen Pinar Selek - "Der Prozess war gespenstisch" (ai journal)


amnesty journal 04/05/2013 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Der Prozess war gespenstisch"

Interview mit Günter Wallraff von Ramin M. Nowzad



Mit diesem Urteil hatte kaum jemand gerechnet: im französischen Exil lebende Feministin Pinar Selek soll in ihrer Heimat lebenslang ins Gefängnis. Der Autor Günter Wallraff hat den Prozess in Istanbul beobachtet.


Frage: Herr Wallraff, die türkische Justiz sagt, die Soziologin Pinar Selek sei eine Bombenlegerin. Glauben Sie das auch?

Günter Wallraff: Wer Pinar Selek kennt, weiß, wie absurd der Vorwurf ist. Man ist ja von der Türkei einiges gewohnt, aber dies ist selbst für türkische Verhältnisse eine Singularität. Man wirft Pinar Selek seit 15 Jahren vor, sie habe auf dem Gewürzbasar in Istanbul eine Bombe gezündet, die sieben Menschen in den Tod riss. Doch es gibt nicht die Spur eines Beweises. Die Anklage stützt sich auf das "Geständnis" eines angeblichen Komplizen. Aber der hat längst erklärt, dass seine Aussage durch Folter erpresst worden sei und er Pinar Selek gar nicht gekannt habe. Außerdem kamen Gutachter zu dem Schluss, dass nicht Sprengstoff, sondern eine defekte Gasflasche die Explosion auslöste.

Frage: Pinar Selek wurde ja auch dreimal freigesprochen. Aber jedes Mal hob der Oberste Gerichtshof das Urteil wieder auf. Warum ließ die Justiz nicht locker?

Günter Wallraff: Es scheint so, als sei Pinar Seleks Verurteilung von allerhöchster Stelle angeordnet worden. Als unabhängige Soziologin hat sie sich viele Feinde gemacht. Ihre Studien über den Männlichkeitswahn der Armee düpierten die alten Militärs. Ihr Einsatz für die Rechte der Frauen und sexueller Minderheiten ist den Islamisten ein Dorn im Auge. Im Hass gegen Pinar Selek sind die alten und die neuen Mächte der Türkei vereint.

Frage: Wie kam es überhaupt zu der Anklage?

Günter Wallraff: Pinar Selek forschte in den Neunzigern zur Kurdenfrage und recherchierte dabei auch im Umfeld der verbotenen PKK. Die Polizei erfuhr davon und wollte wissen, mit wem sie gesprochen hatte. Man nahm sie im Juli 1998 fest und folterte sie. Doch sie blieb standhaft und gab keine Namen preis. Zwei Wochen später erfuhr sie im Gefängnis zufällig aus dem Fernsehen, dass man sie für die Explosion auf dem Basar verantwortlich machte.

Frage: Sie saßen nun während des jüngsten Prozesses im Gerichtssaal. Welchen Eindruck hatten Sie?

Günter Wallraff: Es war gespenstisch. Ich musste an Kafkas "Der Prozess" denken. Die ganze Verhandlung wurde flüsternd geführt, sozusagen hinter vorgehaltenen Aktendeckeln. Mehrfach wurde der Prozess unterbrochen. Man gewann den Eindruck: Die Richter telefonieren in den Pausen mit Ankara, um sich das Urteil von höchster Stelle diktieren zu lassen.

Frage: Nach der Urteilsverkündung wirkte Pinar Selek wie unter Schock.

Günter Wallraff: Sie stand unter Schock! Sie ist in ihrem Land für viele Menschen eine Hoffnungsträgerin und wird dort gebraucht. Sie lebt ja nun schon seit Jahren im Exil. Nach dem letzten Freispruch im Jahr 2011 war Pinar Selek euphorisch. Sie saß schon auf gepackten Koffern und wollte sofort in die Türkei zurückkehren. Zum Glück hat sie dann doch noch ein paar Tage abgewartet, denn das Urteil wurde ja sofort wieder kassiert.

Frage: Pinar Selek hat in Frankreich nun politisches Asyl beantragt. Die Türkei hat sie derweil bei Interpol zur Fahndung ausgeschrieben.

Günter Wallraff: Das ist der Gipfel der Unverfrorenheit. Man hat den Eindruck, die Türkei habe gar kein Interesse mehr, der EU beizutreten. Ich nannte das Land früher eine "Militär-Demokratur": Trotz Wahlen behielten die Militärs die Zügel in der Hand. Nun entwickelt sich die Türkei zunehmend zu einer "Islamokratur". Ich bin mir sicher: Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wird das Urteil keinen Bestand haben.

Fragen: Ramin M. Nowzad

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Quelle:
amnesty journal, April/Mai 2013, S. 15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2013