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FRAGEN/023: Brasilien - "Die Amnesty-Aktionen bereiteten den Militärs große Probleme" (ai journal)


amnesty journal 04/05/2014 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Die Amnesty-Aktionen bereiteten den Militärs große Probleme"

Interview mit Dr. Luiz Ramalho von Anton Landgraf



Vor 50 Jahren putschten sich in Brasilien Generäle an die Macht. Bis heute wirkt die Zeit der Militärdiktatur nach, auch, weil viele Verbrechen nie aufgeklärt wurden. Luiz Ramalho hat als Schüler in Rio de Janeiro und anschließend als Student in Deutschland gegen die Diktatur protestiert. Viel Unterstützung fand er dabei durch eine Amnesty-Gruppe aus Köln.



ai: Wie sind Sie nach Deutschland gekommen?

Luiz Ramalho: Ich komme ursprünglich aus Rio und schloss mich in den sechziger Jahren noch als Schüler der Protestbewegung gegen die Militärdiktatur an. Ich wurde 1968 bei einer Demonstration angeschossen, festgenommen, aber anschließend als junger Mitläufer wieder freigelassen. Danach entschied ich mich, zunächst für ein Jahr nach Deutschland zu gehen. Nach meiner Ankunft bin ich einige Male öffentlich aufgetreten und habe über die Ereignisse in Brasilien berichtet. Sogenannte "Freunde Brasiliens", in dem Fall ein Honorarkonsul aus Aachen, haben mich deswegen bei der brasilianischen Botschaft denunziert. Daraufhin wurde mir mein Pass entzogen. Heute gibt es viele solcher "Papierlosen", damals aber war es ein außergewöhnlicher Fall. Es gab aber eine große Bereitschaft, sich um den jungen Mann zu kümmern, der hier gestrandet war.

ai: Können Sie die damalige Situation in Brasilien beschreiben?

Luiz Ramalho: Als die Generäle 1964 an die Macht kamen, marschierte die Mittelklasse noch für die Militärs. "Mit Gott für die Familie und die Freiheit", wie es damals hieß, gegen Kommunisten und Gewerkschafter. Die traditionellen Politiker versuchten ein Jahr später erfolglos, die Militärs wieder von der Macht abzulösen. Daraufhin entstand vor allem in den urbanen Zentren eine starke Protestbewegung aus Intellektuellen, Künstlern, Christen, aber auch aus Angehörigen der Arbeiterklasse. 1969 wurde der sogenannte "Institutionelle Akt Nr. 5" verabschiedet und das Parlament aufgelöst. Die Rechte aller bekannten Politiker wurden auf zehn Jahre suspendiert. Das trieb einen Teil dieser Massenbewegung in den Untergrund. Als im selben Jahr der US-Botschafter von einer Guerillagruppe entführt wurde, nahmen die Sicherheitskräfte Massenverhaftungen vor und begannen, systematisch zu foltern. Allein aus meiner ehemaligen Klasse kamen sechs oder sieben Mitschüler dabei ums Leben.

ai: Wer hat Sie in Deutschland unterstützt?

Luiz Ramalho: Ich wurde von einer Familie in Aachen aufgenommen, als ich das Abitur nachgemacht habe. Die Diakonie stellte für mich als Flüchtling ein Monatsgeld zur Verfügung, nebenher habe ich noch gearbeitet. So bin ich über die Runden gekommen. Die Evangelische Kirche hat 1973 ein Stipendienprogramm für Flüchtlinge aufgelegt. Dadurch sind viele Chilenen und Brasilianer nach Deutschland gekommen.

ai: In Köln arbeiteten Sie eng mit einer Gruppe von Amnesty International zusammen. Wie haben Sie die Aktivisten erlebt?

Luiz Ramalho: Das waren ganz normale Bürger, die sich engagiert haben. Das war ja das Beeindruckende daran - es waren keine Politprofis, sondern Leute, die sich für Menschenrechtsfragen interessiert und unmittelbar den Menschen, die hier gestrandet sind, geholfen haben.

ai: Welche Wirkung hatte dieses Engagement?

Luiz Ramalho: Brasilien war in der deutschen Öffentlichkeit überhaupt kein Thema. Aber die Arbeit der Amnesty-Gruppe zeigte durchaus Wirkung. Ein Freund von mir war damals noch eine Zeitlang Abgeordneter im brasilianischen Parlament. Er erzählte mir, wie sehr sich die Militärs über die Postkartenaktion von Amnesty geärgert haben. Der Justizminister hat getobt und versucht, diese Aktionen zu unterbinden - was ihm natürlich nicht gelang. In Deutschland wurde unter anderem mit Unterstützung von Amnesty 1972 ein Brasilien-Tribunal aufgelegt. Ich habe die Unterlagen des brasilianischen Geheimdienstes bekommen. Darin wird unter der Rubrik "Internationaler Kommunismus" beschrieben, wie in Deutschland angeblich die Presse manipuliert wird. Diese Aktionen von Amnesty haben die Militärs sehr stark wahrgenommen, sie bereiteten ihnen erhebliche Probleme. Sie reagierten empfindlicher als die argentinische Militärjunta auf Druck von außen, denn sie legten Wert darauf, einen demokratischen Schein zu bewahren.

ai: Die brasilianische Militärdiktatur wurde in der deutschen Öffentlichkeit nie so kritisch verfolgt wie beispielsweise die Junta in Chile.

Luiz Ramalho: Ein Grund besteht sicherlich darin, dass der Militärputsch kurz nach der Kuba-Krise erfolgte, während eines Höhepunkts des Kalten Krieges. Dann agierten die brasilianischen Militärs zunächst eher vorsichtig und versuchten zumindest einen formalen Anschein demokratischer Legitimität zu wahren. In Chile wurde hingegen eine demokratisch gewählte Regierung gestürzt und bereits in den ersten Tagen Tausende Menschen inhaftiert oder getötet. Entscheidend war aber auch, dass Brasilien wirtschaftlich viel bedeutender war als Chile oder Argentinien. Für die deutsche Wirtschaft war es ein faszinierendes Wachstumsland.

ai: São Paulo galt schon damals als die Stadt mit den meisten deutschen Unternehmen in Lateinamerika.

Luiz Ramalho: Nachdem die Militärs die Regierung übernahmen, entwickelte sich bald eine Diskussion, wie wir sie heute über China kennen: Menschenrechte gegen wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die Militärregierung sei zwar nicht sympathisch, hieß es damals, aber man könne diesen wichtigen Wachstumsmarkt nicht einfach ignorieren. Die brasilianische Wirtschaft wuchs Anfang der siebziger Jahre jährlich um bis zu acht Prozent, die Rede war von einem "brasilianischen Wirtschaftswunder". Willy Brandt hat als Außenminister die enge Zusammenarbeit vorangetrieben und diese Politik unter seiner Kanzlerschaft fortgesetzt. 1975 folgte der deutsch-brasilianische Atomvertrag, der während der Amtszeit von Bundeskanzler Helmut Schmidt vereinbart wurde. Dieser Vertrag beinhaltete auch militärische Komponenten, wie man heute weiß.

ai: Wann änderte sich die Situation?

Luiz Ramalho: Die Militärs haben sich 1979 mit dem Amnestiegesetz selbst amnestiert. Wenig später kehrten über 90 Prozent der Exilierten nach Brasilien zurück und machten schnell Karriere als Politiker, Professoren, Künstler oder Schriftsteller. Dieser "brasilianische Übergang" ist für die Aufarbeitung der Militärdiktatur eine schwierige Geschichte. Beide Seiten, Exilierte wie Militärs, wollten nicht an die Vergangenheit rühren.

ai: Andere lateinamerikanische Länder wie Argentinien betreiben eine intensive Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen, die während der Diktatur stattfanden. Warum fällt diese Aufarbeitung in Brasilien so schwer? Fehlt es an Informationen?

Luiz Ramalho: Die Zeit wurde sogar sehr gut aufgearbeitet. Das Projekt "Tortura nunca mais" (Nie wieder Folter) listet ausführlich die Repressionsmethoden auf, ebenso die Namen der Folterer. Wann aber ist der richtige Zeitpunkt, an dem sich eine Gesellschaft mit der Diktatur auseinandersetzen kann? Als die Militärs noch regierten, war eine Aufarbeitung nicht möglich. Ebenso, als die ersten demokratischen Regierungen an die Macht kamen. Die Militärs hatten klare Bedingungen formuliert, bevor sie sich wieder in die Kasernen zurückzogen. Dazu gehörte das Amnestiegesetz. Das war eine rote Linie, die nicht überschritten werden durfte.

ai: Die aktuelle brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff saß während der Diktatur selbst in Haft und wurde gefoltert. Welche Rolle spielt sie bei der Aufarbeitung?

Luiz Ramalho: Sie ist dabei sehr wichtig. Unter anderem hat sie die Wahrheitskommission ins Leben gerufen. Damit erfolgt zwar keine strafrechtliche Aufarbeitung wie in Argentinien. Dort sind schließlich viele Mitglieder der Junta zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Aber durch die Wahrheitskommission wird das Thema erstmals von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen.

ai: Nach dem Ende der Militärdiktatur ging die politisch motivierte Gewalt deutlich zurück. Zugleich aber nahm im Alltag die Polizeigewalt sogar zu. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Luiz Ramalho: Während der Diktatur waren die Kinder der Mittelklasse Opfer der Repression. Damit möchte ich deren Leiden keineswegs mindern. Aber sie können ihre Erlebnisse öffentlich machen, sie können schreiben, sie treten in Filmen oder im Fernsehen auf. Heute richtet sich die Repression gegen die Ausgeschlossenen, die keine Lobby haben, die sich oft nicht ausdrücken können. Diese Repression ist brutal wie früher. Ein Bewusstsein für Demokratie ist im Militärapparat ebenso wie bei der kasernierten Militärpolizei (Policia Militar) nur defizitär vorhanden. Es fehlt ein Konzept für eine demokratiewürdige Polizei auf allen Ebenen. Aber das ist eine der entscheidenden Fragen einer demokratischen Gesellschaft: Ob es gelingt, auch gegenüber der armen Bevölkerung die Mindeststandards von Menschenrechten und Demokratie einzuhalten.

ai: Welche Rolle kann Amnesty in diesem Konflikt spielen?

Luiz Ramalho: Ich sehe leider noch viel Arbeit für Amnesty. Denn dieses Moment der internationalen Beobachtung, die früher eine so wichtige Rolle gespielt hat, ist auch für die aktuelle brasilianische Situation wichtig.


Dr. Luiz Ramalho, geb. 1952 in Rio de Janeiro, ist Soziologe, Ökonom und Initiator der "Nunca Mais"-Brasilientage. Er hat in Frankfurt/M., Paris und Berlin studiert und an der Freien Universität Berlin promoviert, wo er von 1977 bis 1982 als wissenschaftlicher Assistent gearbeitet hat. In Juni 1968 erlitt er in Rio de Janeiro bei der "Sexta Feira Sangrenta" (Blutiger Freitag) eine schwere Schussverletzung. 1969 verließ er Brasilien. Wegen öffentlicher Auftritte in Deutschland gegen die Militärregierung wurde ihm der brasilianische Pass 1970 entzogen. Ohne Papiere wurde er jahrelang von der Deutschen Ausländerbehörde geduldet, nachdem die Evangelische Kirche und mehrere Politiker sich für seinen Verbleib in Deutschland eingesetzt hatten.

Dr. Luiz Ramalho ist seit über 35 Jahren in der internationalen Zusammenarbeit und Entwicklungsarbeit tätig. Er hat in Westafrika (Mali, Kapverde, Guinea) und im Südpazifik (Papua-Neuguinea) mehrere Jahre gearbeitet und hatte berufliche Kurzzeiteinsätze in mehr als 30 Ländern, zuletzt in Zentralasien und dem Kaukasus. Von 1990 bis 1995 kehrte er nach Brasilien als Landesdirektor des Deutschen Entwicklungsdienstes zurück. Zurzeit berät er die mexikanische Regierung beim Aufbau der mexikanischen Entwicklungsagentur AMEXCID.

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Quelle:
amnesty journal, April/Mai 2014, S. 27-29
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2014