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FRAGEN/037: Deutsche Behörden lassen die Opfer rassistischer Gewalt im Stich (ai journal)


amnesty journal 08/09/2016 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Die Behörden müssen selbstkritischer sein"
Deutsche Behörden lassen die Opfer rassistischer Gewalt im Stich - das belegt ein neuer Amnesty-Bericht.

Ein Interview mit Marco Perolini, Amnesty-Researcher und Autor des Berichts, von Ralf Rebmann


Frage: In vielen EU-Ländern erleben wir einen Anstieg rassistischer Rhetorik und Gewalt. Wieso hat Amnesty International dieses Thema gerade in Deutschland untersucht?

Marco Perolini: Zunächst wegen der Verbrechen des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Im Laufe der Recherche kamen die Angriffe auf Asylsuchende und Flüchtlingsunterkünfte hinzu. Der Bericht ist Teil einer europäischen Recherche, bei der wir Hassverbrechen in mehreren EU-Ländern untersuchen, darunter auch in Bulgarien, Frankreich, Griechenland, Polen und Ungarn. Uns interessiert dabei vor allem, wie Polizei und Justiz auf Hassverbrechen und rassistische Straftaten reagieren, wie sie diese untersuchen und zu verhindern versuchen.

Frage: Was lässt sich über die Polizei in Deutschland sagen?

Marco Perolini: Ein großes Problem tritt gleich zu Beginn der Strafverfolgung auf, wenn Beamte Beweise sicherstellen und Aussagen von Zeugen oder Betroffenen aufnehmen. Diese Phase ist ausschlaggebend, um später die Täter und deren Motive identifizieren zu können. Dabei haben wir Defizite festgestellt: Beweise vom Tatort werden nicht immer aufgenommen und die Perspektive der Opfer wird nicht ausreichend erfragt. Dies betrifft allerdings mehr den Streifendienst als die Kriminalpolizei. Dadurch wird es schwieriger, rassistisch motivierte Straftaten als solche zu erkennen und aufzuklären.

Frage: Warum werden rassistische Straftaten in Deutschland nicht immer als solche erkannt?

Marco Perolini: Das hat verschiedene Gründe. Eine eher technische Ursache ist die Art und Weise, wie politisch motivierte Straftaten in Deutschland definiert und erfasst werden. Dazu wird das System "Politisch Motivierte Kriminalität" (PMK) genutzt. Das System ist zum einen relativ komplex. Und zum anderen begünstigt es, dass Hassverbrechen - sofern sie nicht von dezidiert extrem rechten Tätern begangen werden - von der Strafverfolgung oft nicht als rassistisch motivierte Taten eingestuft und erfasst werden. Eine weitere wichtige Ursache sind gesamtgesellschaftlich verbreitete Stereotype und Vorurteile, die dazu führen können, dass auch Beamte diskriminierend handeln.

Frage: Amnesty wirft den Behörden vor, dass viele Fälle in Deutschland auf institutionellen Rassismus hindeuten. Was ist damit gemeint?

Marco Perolini: Institutioneller Rassismus ist nicht notwendigerweise offener Rassismus. Bezogen auf die Polizei heißt das also nicht, dass Beamte rassistische Einstellungen offen vertreten. Sondern es bedeutet, dass sie Teil einer Institution sind, die durch ihre Arbeitsweise bestimmte Personen aufgrund ihrer Religion oder ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert, indem zum Beispiel rassistische Tatmotive nicht als solche anerkannt werden - sei es bewusst oder unbewusst.

Frage: Wie lässt sich einer Behörde institutioneller Rassismus nachweisen?

Marco Perolini: Es gibt Elemente, die auf institutionellen Rassismus hindeuten. Bei den Ermittlungen zum "NSU" wurden etwa Angehörige der Opfer, die einen türkischen Hintergrund hatten, als Verdächtige behandelt. Oder wenn Polizeikontrollen auf Grundlage äußerer Merkmale stattfinden, das sogenannte Racial Profiling, dann ist dies ebenfalls ein Element von institutionellem Rassismus. Um jedoch systematische Schlussfolgerungen zu institutionellem Rassismus in Deutschland treffen zu können, sind Untersuchungen notwendig, die die Kapazitäten einer Nichtregierungsorganisation übersteigen. Deshalb fordern wir unabhängige und öffentliche Untersuchungskommissionen, die die Arbeit von Strafverfolgungsbehörden untersuchen können. Abgesehen davon, müssen die deutschen Behörden selbstkritischer sein, wenn es um rassistische Straftaten geht.

Frage: Wie schwierig war die Recherche in Deutschland?

Marco Perolini: Wir wollten etwa in Berlin mit Polizeivertretern verschiedener Stadtteile sprechen, um ein differenziertes Bild zu bekommen. Dieser Anfrage hat der Berliner Senat allerdings nicht zugestimmt. Auch in Sachsen konnten wir nur mit einem Polizeivertreter sprechen. Das ist eine Strategie, um widersprüchliche Aussagen zwischen Behörden zu verhindern. Als NGO können wir nur mit Behördenvertretern sprechen, die sich dazu bereit erklären. Deshalb sind unabhängige Untersuchungskommissionen so wichtig, denn sie haben die Befugnis, Personen vorzuladen und anzuhören.


Marco Perolini arbeitet seit 2011 im Internationalen Sekretariat von Amnesty International in London zu den Themenschwerpunkten Diskriminierung und Hassverbrechen.

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Quelle:
amnesty journal, August/September 2016, S. 26
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2016

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