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GRUNDSÄTZLICHES/312: Für eine Welt frei von Folter (ai journal)


amnesty journal 06/07/2014 - Das Magazin für die Menschenrechte

Für eine Welt frei von Folter

von Daniel Kreuz



Folter ist eines der schlimmsten Verbrechen, das einem Menschen angetan werden kann. Seit mehr als fünf Jahrzehnten setzt sich Amnesty International für Folteropfer und ein weltweites Folterverbot ein.


Bushra Hussein ist seit vielen Jahren ein engagierter Kämpfer für die Menschenrechte. In seiner Heimat Sudan genügt das bereits, um ins Visier der Behörden zu geraten. Unzählige Male wurde er wegen seines Engagements festgenommen. Doch nie erlebte er ein solches Martyrium wie im Juni 2011, als er an einen unbekannten Ort gebracht und die ganze Nacht über gefoltert wurde. Er wurde mit Fäusten geschlagen, mit Gewehrkolben, mit Plastikrohren.

Am darauffolgenden Tag hatte das Foltern ein Ende. Verschiedene Organisationen, darunter Amnesty International, hatten innerhalb kürzester Zeit mit Kampagnen und Eilaktionen auf die Situation des sudanesischen Menschenrechtsaktivisten aufmerksam gemacht. "Ich merkte sofort, dass die internationale Gemeinschaft begonnen hatte, Druck auszuüben", erzählte Bushra Hussein später. Es dauerte allerdings noch ein Jahr, bis er endlich freigelassen wurde. Da er sich im Sudan nicht sicher fühlte, floh der Menschenrechtler zunächst nach Uganda. Von dort aus reiste er nach Deutschland, um sich medizinisch behandeln zu lassen und von den Spuren der Folter zu erholen. Bushra Husseins Reise und seine Behandlung in Hannover von Mai bis September 2013 wurden von Amnesty International organisiert und finanziert.

Er ist eines von Tausenden Folteropfern, für die sich Amnesty in den vergangenen Jahrzehnten eingesetzt hat. Eine Welt frei von Folter ist eines der Hauptanliegen der weltweit größten Menschenrechtsorganisation seit ihrer Gründung durch Peter Benenson vor mehr als fünfzig Jahren. Der britische Rechtsanwalt hatte am 28. Mai 1961 in der Zeitung "The Observer" einen Artikel mit dem Titel "Die vergessenen Gefangenen" veröffentlicht. Er begann mit den Worten: "Schlagen Sie Ihre Zeitung an irgendeinem beliebigen Tag auf, und Sie werden eine Meldung aus irgendeinem Teil der Welt lesen: Ein Mensch ist eingekerkert, gefoltert, hingerichtet worden, weil seine Ansichten oder religiösen Überzeugungen nicht mit denen der Regierung übereinstimmen." Benenson forderte die Leserinnen und Leser auf, mit Appellen Druck auf die Regierungen auszu­üben und sich für die Freilassung politischer Gefangener einzusetzen. Dieser "Appeal for Amnesty" war der Beginn von Amnesty International.

Doch schnell war klar, dass den Gefangenen nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihre Gesundheit und ihre Würde genommen wurden - durch Tritte und Schläge, durch Elektroschocks, Vergewaltigungen und Scheinhinrichtungen. Für die Mitglieder von Amnesty stand außer Frage, dass sie sich nicht nur die Freilassung von politischen Gefangenen, sondern auch für den Schutz vor Folter und anderen Misshandlungen einsetzen würden.

1968 erklärte der damalige Generalsekretär von Amnesty International, Martin Ennals: "Wir bekommen täglich von überall aus der Welt Berichte über Menschen, die gefoltert werden." Diese Berichte kamen jedoch nicht nur aus entfernten Ländern Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas, sondern auch aus Diktaturen vor der Haustür, so zum Beispiel aus dem von Salazar beherrschten Portugal oder aus dem Spanien Francos, die beide ­erbarmungslos gegen Regimekritiker vorgingen.

In Griechenland hatte sich am 21. April 1967 eine Armee-Junta an die Macht geputscht. Allein am ersten Tag wurden 10.000 Menschen festgenommen. In den folgenden Jahren wurden Tausende inhaftiert, gefoltert und ermordet. Schon kleinste Verstöße konnten Konsequenzen haben: Für Männer waren lange Haare verboten, für Frauen kurze Röcke. Amnesty veröffentlichte nach dem Putsch in Griechenland einen Bericht, der auf die weit verbreitete Folter hinwies. Er brachte unter anderem die Existenz eines großen Verhörzentrums in Athen ans Licht, das von der Armee eingerichtet worden war, "um ganz Griechenland erzittern zu lassen". Der US-amerikanische Rechtsanwalt James Becket, der im Auftrag von Amnesty nach Griechenland gereist war, berichtete: "Nach vorsichtiger Schätzung sind nicht weniger als 2.000 Personen Folterungen ausgesetzt gewesen."

Anfang der siebziger Jahre gab es auf internationaler Ebene nur wenige Regelungen zum Folterverbot und vor allem zu seiner Durchsetzung. Im Dezember 1972 startete Amnesty daher die erste weltweite "Kampagne zur Abschaffung der Folter" und erzielte damit einen großen internationalen Erfolg. Die Organisation schlug der Generalversammlung der Vereinten Nationen vor, eine Konvention gegen Folter und zur Behandlung von Gefangenen zu verabschieden und bat die UNO-Mitgliedstaaten um Unterstützung. Weltweit wurden eine Million Unterschriften gesammelt - allein 110.000 Polizisten aus Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Norwegen und Schweden unterstützten die Amnesty-Initiative mit ihrer Unterschrift.

Amnesty-Generalsekretär Martin Ennals sprach mit Vertretern mehrerer Mitgliedsstaaten. Acht von ihnen reichten schließlich eine entsprechende Resolution in die UNO-Generalversammlung ein, die am 2. November 1973 einstimmig angenommen wurde. Entscheidend hierfür war nicht zuletzt der durch die Amnesty-Kampagne entstandene Druck. Außerdem standen die Delegierten unter dem Eindruck der Ereignisse in Chile, wo nach dem Pinochet-Putsch im September 1973 Tausende Menschen in Fußballstadien zusammengepfercht und gefoltert worden waren.

Im Dezember 1973 veröffentlichte Amnesty zum ersten Mal eine Dokumentation über Folter und Misshandlungen weltweit. Der 260 Seiten starke "Bericht über die Folter" wurde in neun Sprachen übersetzt und später regelmäßig aktualisiert. Welche Brisanz das Thema hatte und auf welchen politischen Widerstand Amnesty damals stieß, wird deutlich an einem Streit mit der Unesco, zu dem es kurz nach der Veröffentlichung des Berichts kam. Amnesty hatte geplant, in den Räumen der UNO-Kulturorganisation in Paris eine Konferenz zur Abschaffung der Folter zu veranstalten. Entgegen der ursprünglichen Absprache verweigerte die Unesco jedoch die Nutzung der Räumlichkeiten. Amnesty hatte sich zuvor verpflichtet, Mitgliedsstaaten der Unesco in deren Räumlichkeiten weder mündlich noch in Konferenzdokumenten zu kritisieren. Die ­Unesco bewertete den eine Woche zuvor veröffentlichten "Bericht über die Folter" jedoch als Konferenzdokument und warf Amnesty Vertragsbruch vor. Nach Erkenntnissen von Amnesty wurde die Unesco von einigen Regierungen unter Druck gesetzt, deren Folterpraktiken in dem Bericht dokumentiert worden waren.

Amnesty verlegte die Konferenz schließlich kurzerhand an einen anderen Ort in Paris. 250 Delegierte aus 40 Ländern beteiligten sich an dem Treffen am 10. und 11. Dezember 1973, darunter neben Vertretern von Regierungen und internationalen Organisationen auch Künstler und Intellektuelle. Der bekannte Psychiater Erich Fromm sagte damals: "Folter ist eine Unsitte, die mit keiner anderen vergleichbar ist. Wenn man einen Menschen tötet, zerstört man seinen Körper. Wenn man ihn foltert, zerstört man seine Menschlichkeit. Es ist die absolute Entwürdigung des Menschen. Wenn sich die Welt nicht mehr über diese ultimative Schamlosigkeit empört, sind wir verloren."

Ebenfalls 1973 entwickelte Amnesty ein Instrument, das bis heute eingesetzt wird, um Menschen in Gefahr schnellstmöglich zu helfen: die sogenannte "Urgent Action". Wenn Amnesty von willkürlichen Festnahmen, Folterungen oder bevorstehenden Hinrichtungen erfährt, startet die Organisation eine Eilaktion. Binnen weniger Stunden wird ein weltweites Netzwerk, dem Tausende Menschen angehören, aktiv und fordert die Einhaltung der Menschenrechte ein. Die zuständigen Behörden erhalten Tausende von Appellschreiben aus aller Welt. Es ist dieser rasche und massive Protest, der immer wieder Menschenleben rettet. So wie bei der ersten Urgent Action, die für den Brasilianer Luiz Rossi gestartet wurde. Der Universitätsprofessor war Mitglied der Kommunistischen Partei Brasiliens und wurde am 15. Februar 1973 von Handlangern der Militärdiktatur inhaftiert und mit Elektroschocks gefoltert (siehe Amnesty Journal 04-05/2014). Nachdem Amnesty davon erfahren hatte, gingen Hunderte Appellschreiben bei der Geheimpolizei ein. Rossis Haftbedingungen verbesserten sich, im Oktober 1973 wurde er freigelassen. Auch im eingangs beschriebenen Fall des Sudanesen Bushra Hussein war das Urgent-Action-Netzwerk erfolgreich.

Ziel der Arbeit von Amnesty ist es, Folter und Misshandlungen zu beenden und Zeichen zu setzen: Die Opfer sollen wissen, dass sie nicht allein und vergessen sind, und die Täter sollen wissen, dass sie beobachtet werden und für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.

1984 startete Amnesty eine zweite weltweite Kampagne gegen Folter. Im Dezember desselben Jahres verabschiedete die Generalversammlung der UNO das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Darauf hatte Amnesty jahrelang hingearbeitet. Darin wurde verankert, welche Pflichten aus dem Folterverbot entstehen: Das absolute Verwertungsverbot für erfolterte Beweise vor Gericht, das Verbot der Abschiebung von Menschen, wenn ihnen im Zielland Folter droht und vieles mehr. Es war nicht abzusehen, dass es keine 20 Jahre später einen enormen Rückschlag geben würde. Auslöser dafür waren die islamistischen Terroranschläge auf das World-Trade-Center in New York und auf das Pentagon in Washington am 11. September 2001, bei denen mehr als 3.000 Menschen getötet wurden.

Hatte man systematische Folter bis dahin vor allem mit Diktaturen und autoritären Regimen in Verbindung gebracht, so begannen im Zuge des von den USA ausgerufenen "Kriegs gegen den Terror" auch immer mehr Rechtsstaaten das absolute Folterverbot aufzuweichen. Das Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba wurde zum Symbol für die menschenrechtswidrige Terrorbekämpfung der USA und ihrer Verbündeten. Unbefristete und geheime Inhaftierungen, rechtswidrige Überstellungen von Gefangenen, Folter und andere Formen grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe waren Bestandteil des "Kriegs gegen den Terror". Weltweites Entsetzen riefen die Bilder aus dem Gefängnis von Abu Ghraib im Irak und Berichte über die CIA-Geheimlager in Ländern wie Polen oder Rumänien hervor, in die Terrorverdächtige zur Folter verschleppt wurden. Angesichts dieser Verbrechen klang es wie blanker Hohn, als US-Präsident George W. Bush im Juni 2003 verkündete: "Die Vereinigten Staaten sind der weltweiten Abschaffung der Folter verpflichtet, und wir gehen in diesem Kampf mit gutem Beispiel voran." Dass Folter falsch ist, wissen selbst die Folterer. Denn sie würden sich niemals als solche bezeichnen. Stattdessen sprechen sie beschönigend von "verschärften Verhörmethoden" und meinen damit doch grausame Folter, wie etwa Unterkühlung, Schlafentzug, Isolationshaft und simuliertes Ertrinken ("Waterboarding").

Amnesty hat terroristische Anschläge, Entführungen und Geiselnahmen stets scharf verurteilt, aber auch immer dagegen protestiert, im Namen der Terrorismusbekämpfung den Schutz der Menschenrechte auszuhöhlen. Eine Haltung, die nicht überall Unterstützer fand, wie die Äußerung eines ranghohen US-Regierungsbeamten gegenüber einer Amnesty-Delegation wenige Monate nach den Anschlägen 2001 verdeutlichte: "Mit dem Einsturz der Zwillingstürme in New York hat sich Ihre Rolle erledigt." Angesichts der Rückschritte ist der Einsatz für die Menschenrechte und gegen Folter heute wichtiger denn je. Amnesty wird sich daher auch in Zukunft für Folteropfer und für ein Verbot von Folter engagieren, egal, in welchem Land sie stattfindet, wer sie anordnet und wer sie ausführt. Die aktuelle Kampagne unterscheidet sich damit nicht von der ersten im Jahr 1972, die sich zum Ziel gesetzt hatte, "dass die Existenz von Folter irgendwann genauso undenkbar ist wie die Existenz von Sklaverei".



Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

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Quelle:
amnesty journal, Juni/Juli 2014, S. 26-29
Herausgeber: amnesty international
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Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion amnesty journal,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2014


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