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GRUNDSÄTZLICHES/327: Das Flüchtlings-Problem kann gelöst werden! (ai journal)


amnesty journal 01/2016 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Das Problem kann gelöst werden!"

von Carole Scheidegger


Die Holländerin Gauri van Gulik und ihr Team waren in den vergangenen Monaten für Amnesty International an den Brennpunkten der Flüchtlingsrouten. Sie ist überzeugt, dass die aktuelle Krise bewältigt werden kann.


Unerwartet kommt es für Gauri van Gulik wirklich nicht, dass derzeit unzählige Menschen quer durch Europa auf der Flucht sind. "Was nun geschieht, war angesichts des Kriegs in Syrien absolut vorhersehbar. Amnesty International wusste, dass dies geschehen würde, und ich bin sicher, die europäischen Regierungen wussten es auch."

Dass nun Regierungen und manche Medien den Anschein erwecken, eine Art Naturkatastrophe sei über Europa hereingebrochen - "Flüchtlingsflut", "Migrantenstrom" - will die tatkräftige Holländerin nicht unwidersprochen stehen lassen. Sie betont, dass die aktuelle Krise gelöst werden kann. "Aber es braucht dazu den politischen Willen."

Gauri van Gulik ist stellvertretende Leiterin des Europa-Programms von Amnesty International. Sie hat ihre Funktion im Januar 2014 angetreten. Langweilig wurde es ihr seither nicht und dominierend war das Thema Flüchtlinge. Anfang des Jahres beschäftigte sie sich mit einer Kampagne, die forderte, dass die EU ihre Such- und Rettungsmission im Mittelmeer ausdehnt.

"Wir haben dabei einen schönen Erfolg erzielt. Aber dieses Anliegen war ja auch einfacher zu erklären. Wir konnten etwas Konkretes fordern: mehr Schiffe, die Menschen aus Seenot retten. Nun ist die Arbeit viel trockener und komplexer", sagt sie. Amnesty International hat eine "Agenda für den Schutz von Flüchtlingen" entwickelt, die nun den Regierungen präsentiert wird. Ein wichtiger Punkt: Die EU muss sichere und legale Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge schaffen, um weitere Todesopfer zu verhindern.

Gauri van Gulik unterstreicht, wie viel die europäischen Staaten in den vergangenen Monaten schon geleistet haben. "Mir ist klar, dass es für die Behörden eine große Herausforderung ist, die vielen Flüchtlinge unterzubringen. Aber das Problem kann gelöst werden", betont Gauri van Gulik. Sie und ihr Team wissen, wovon sie sprechen, denn sie waren in den vergangenen Monaten immer wieder an den Brennpunkten: in Griechenland, Ungarn, den Balkanstaaten.

Sie haben dort so viele Interviews mit Flüchtlingen wie möglich geführt, um zu erfahren, wie die Bedingungen auf den Fluchtrouten sind. "Der Zugang für unsere Teams war im Allgemeinen gut. Aber die Umstände gestalten sich schwierig und nicht alle Regierungen sind wirklich erpicht darauf, uns dabeizuhaben.

In Ungarn und Mazedonien zum Beispiel hatten wir Schwierigkeiten, in manche Flüchtlingslager hineinzukommen." Was die Delegationen vor Ort ermitteln, wird gegengecheckt und - falls gesichert - in einem Bericht von Amnesty veröffentlicht. Dass sich die aktuelle Lage ständig verändert, macht van Guliks Leben nicht leichter. Anspruchsvoll ist auch der Druck, immer möglichst schnell zu sein. "Ich bin total für Geschwindigkeit und ich dränge darauf, Amnestys Arbeit vor Ort rascher zu machen. Aber noch wichtiger als schnell zu sein, ist es, stets nur gesicherte Angaben zu verwerten. Jeder einzelne Satz, den Amnesty veröffentlicht, muss stimmen."

Vor ihrer Anstellung bei Amnesty International war Gauri van Gulik bereits zehn Jahre lang in der Menschenrechtsarbeit tätig, sie hat Rechtsverletzungen auf der ganzen Welt gesehen. "Dass wir nun solche Szenen in Europa sehen, erschüttert mich sehr", sagt die Europarechtlerin und die Stimme der ansonsten bestimmt auftretenden Frau bricht für einen Moment.

Sie erzählt von Begegnungen mit Flüchtlingskindern, die immer wieder gefragt haben: "Wo sind wir? Und was passiert jetzt?" Diese fehlende Orientierung habe sie auch bei vielen Erwachsenen beobachtet, erzählt van Gulik. Weil es an Kommunikation mit den Migranten und Migrantinnen mangelt, entstehe ein Gefühl des Verlorenseins. Ein Problem, das behoben werden könnte.

Zu schaffen macht der Holländerin auch, dass der Bürgermeister von Lesbos Anfang November verkünden musste, es gebe nun keinen Platz mehr, um all die Leichen ertrunkener Flüchtlinge zu begraben. In ihrer täglichen Arbeit erlebt sie aber auch Szenen, die ihr Mut machen. Etwa der Geschäftsmann, der erklärte: "Ich war früher immer der Typ, der auf Partys gesagt hat, es gebe zu wenig Platz für all die Flüchtlinge, man müsse die Grenzen dicht machen." Doch als er selbst mit den Flüchtlingen in Berührung kam, sah er die Not und half tagelang bei der Essensausgabe.

Zuversicht zieht van Gulik daraus, dass die Regierungen durchaus hören wollen, was Amnesty zu sagen hat - selbst wenn sie die Ratschläge nicht immer umsetzen. In den vergangenen Monaten mussten van Gulik, ihr Team und die verschiedenen Amnesty-Sektionen allerdings die Strategie ändern: War es zum Beispiel für die Suchmissionen-Kampagne ausreichend, vor allem an Brüssel zu appellieren, so ist es heute zielführender, mit jedem einzelnen europäischen Land direkt zu sprechen - was natürlich die Zahl der Gespräche multipliziert.

Van Gulik betont, dass die europäischen Staaten das Gesamtbild nicht aus den Augen verlieren dürfen: "Es muss allen klar sein, wie die Dinge zusammenhängen. Es wirkt sich zum Beispiel auf die Balkanstaaten aus, wenn Spanien seine Außengrenze stärker abriegelt oder wenn Griechenland mit den Asylgesuchen völlig überfordert ist und alleingelassen wird."

Nach den fürchterlichen Anschlägen in Paris und Beirut Mitte November rief Amnesty International die Regierungen dazu auf, Kurzschlusshandlungen in der Flüchtlingspolitik zu vermeiden. "Die meisten Flüchtlinge aus dem Irak und aus Syrien, die jetzt in den Nachbarländern und in Europa Schutz suchen, fliehen ihrerseits vor Gewalt und Terror in ihrer Heimat", macht van Gulik deutlich. "Es dient nicht der Sicherheit Europas, wenn Grenzen dicht gemacht und Flüchtlinge abgewiesen werden. Im Gegenteil: Die Menschen, die vor dem gleichen Horror fliehen, müssen organisiert und menschenwürdig aufgenommen werden."

Gauri van Gulik setzt auch immer wieder Zahlen in Relation: Von Januar bis Anfang September 2015 wurden 700.000 neue Asylsuchende in den EU-Staaten registriert. Eine auf den ersten Blick hohe Zahl, die sich aber doch relativiert, wenn man sich vor Augen führt, dass dies weniger als 0,2 Prozent der 500 Millionen Einwohner der EU-Länder ist.

Selbst wenn in den nächsten Monaten 3,7 Millionen weitere Flüchtlinge eintreffen, wie Griechenland voraussagt, so steigt die Quote nicht über ein Prozent. "Wir sollten in der Lage sein, diese Zahl zu bewältigen", betont van Gulik. "Das ist nicht unmöglich, wenn die Politiker auf all jene Menschen hören, die laut und deutlich sagen: 'Refugees welcome'".

Die Autorin ist Redakteurin des Schweizer Amnesty Magazins.

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Quelle:
amnesty journal, Dezember 2015/Januar 2016, S. 20-21
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Februar 2016

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