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GRUNDSÄTZLICHES/334: Ausgrenzung als Prinzip (ai journal)


amnesty journal 10/11/2016 - Das Magazin für die Menschenrechte

Ausgrenzung als Prinzip

von Tobias Peter


Die rassistischen Ausschreitungen in den neunziger Jahren und die aktuelle Flüchtlingsdebatte markieren keineswegs eine Wiederholung der Geschichte. Es handelt sich vielmehr um zwei Stationen einer seit langem geführten Auseinandersetzung um den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten.


"Leben in Unsicherheit: Wie Deutschland die Opfer rassistischer Gewalt im Stich lässt" heißt der umfassende Bericht, mit dem Amnesty International im Juni 2016 auf den mangelnden Schutz Geflüchteter und ihrer Unterkünfte in Deutschland aufmerksam machte. Amnesty bemängelt zudem, dass die deutschen Strafverfolgungsbehörden nicht entschieden genug gegen Gewalt vorgehen und Polizisten rassistische Straftaten oftmals nicht als solche erkennen. Die politisch motivierten Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte stiegen nach Angaben von Amnesty von 63 (2013) auf 1.031 im vergangenen Jahr. Gleichzeitig fanden 2015 durchschnittlich sechs Demonstrationen gegen Geflüchtete pro Woche statt, unter ihnen die Pegida-Kundgebungen in Dresden mit mehreren Tausend Teilnehmern.

In den Kommentaren zum Bericht von Amnesty in den sozialen Medien zeigen sich viele Menschen empört: "Sorry aber was ist mit den ganzen Übergriffen von den Asylanten? Ich finde es wirklich erschreckend, was hier abgeht, hier werden Täter zum Opfer und Opfer zum Täter gemacht [...]", heißt es in einem Facebook-Beitrag. Neben dem Vorwurf, dass die Asylsuchenden die Brände selbst legen würden, stören sich viele Kommentare auch an der Kritik an der Polizei.

In der "Asyldebatte" werden wie in den neunziger Jahren von Teilen der Politik apokalyptische Zustände beschworen, wenn der "Zustrom der Massen von außen" nicht beendet werde. Sprachen CDU-Politiker in den achtziger Jahren davon, dass 50 Millionen "Asylanten" kommen könnten, erklärt CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer heute, dass 60 Millionen Menschen an der Grenze zu Deutschland warten. Vor dem Hintergrund einer erstarkenden Parteienkonkurrenz von rechts prägen rassistische Alltagsdiskurse "besorgter Bürger" die gesamte politische Diskussion - das war damals nicht anders als heute. Gleichzeitig nimmt rechtsradikale Gewalt sprunghaft zu. Die Täter werden viel zu selten von der Polizei ermittelt und oft wird der politische Hintergrund ihrer Tat ausgeblendet. Stattdessen bestimmen diskriminierende Praxen und institutioneller Rassismus das Handeln der Strafverfolgungsbehörden.

Im Ergebnis wurde die Asylgesetzgebung deutlich verschärft: 1993 mit einer Grundgesetzänderung und seit 2014 mit schrittweisen Verschärfungen der Gesetze. Die Abwehr von Geflüchteten rückt gleichzeitig geografisch von Deutschland weg. Die ­Vorverlegung des (europäischen) Grenzregimes begann mit der sicheren Drittstaatenregelung im Zuge des Asylkompromisses und wurde später durch europäische Partnerschaften mit Diktatoren wie Libyens Staatsoberhaupt Muammar al-Gaddafi fortgeführt. Zurzeit plant die EU unter anderem eine Kooperation beim Grenzmanagement mit dem sudanesischen Präsident Omar al-Bashir, der vom Internationalen Strafgerichtshof wegen Völkermords gesucht wird.

Es werden jedoch auch Unterschiede zwischen der Situation damals und heute deutlich. Eine zuvor ungeahnte Welle der Hilfsbereitschaft erfasste Deutschland im vergangenen Jahr. In vielen Städten fanden sich Menschen zusammen, um die Geflüchteten willkommen zu heißen und bei ihrer Versorgung zu helfen. Auch wenn die gelebte Solidarität im Laufe der Monate abnahm, sind weiterhin unzählige Freiwillige im Einsatz, um die zum Teil völlig überforderten staatlichen Institutionen zu unterstützen. Das Internet und die sozialen Medien bieten einerseits einen Rahmen zur Vernetzung von hilfsbereiten Freiwilligen. Andererseits werden Hass und Verschwörungstheorien in einem bisher ungekannten Maße ungefiltert verbreitet. Emotional aufgeladene Mythen über sexualisierte Gewalt durch Geflüchtete schüren unter anderem bei Facebook Hass und verunsichern die Menschen systematisch.

Der Jahrestag der rassistischen Ausschreitungen von Hoyerswerda und die aktuelle Flüchtlingsdebatte markieren keineswegs eine Wiederholung der Geschichte. Es handelt sich vielmehr um zwei Stationen einer seit mehr als drei Jahrzehnten geführten Debatte, zumeist ausgelöst durch steigende Zahlen von Grenzübertritten. Das Ziel der deutschen und der europäischen Regierungspolitik ist dabei überwiegend die Abwehr von Geflüchteten, menschenrechtliche Aspekte spielen eine untergeordnete Rolle. In der gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzung vermischen sich die verschiedenen Aspekte von Migration, Flucht und Zuwanderung zu einem rassistisch gefärbten Abwehrkampf gegen das als bedrohlich wahrgenommene Fremde. Im Ergebnis herrscht ein gesellschaftliches Klima vor, bei dem der Grundgedanke die Ablehnung des Fremden ist, der allein durch seine Einreise die (kulturellen und religiösen) Fundamente Europas bedroht. Teile der Politik zielen mit populistischen und rassistischen Parolen auf die Gunst der Wähler. Vermeintlich einfache Antworten, wie eine nationale Abschottung, werden komplizierten globalen Zusammenhängen entgegengesetzt.

Der Schutz von Geflüchteten vor Gewalt in ihrem Herkunftsland, auf der Flucht, aber auch vor Übergriffen in Deutschland ist nachrangig. Im Gegenteil - der Alltagsrassismus in Deutschland wird geschürt und politisch so kanalisiert, dass die eigene Abschottungspolitik als alternativlos erscheint. Die Anknüpfungspunkte sind groß: Rassistische Einstellungen sind in Deutschland und Europa weit verbreitet, auch Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen sind nicht dagegen gefeit.

Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa sind eine direkte Folge europäischer Politik und das Ergebnis der globalen Herrschaftsverhältnisse. Doch es sind nicht nur die geistigen Brandstifter in Teilen der Politik, die an der Verfestigung von Feindbildern arbeiten, um die eigene Herrschaft zu festigen. Jede und jeder von uns hat einen Anteil daran, wenn wir zulassen, dass in Deutschland wieder Flüchtlingsheime brennen und die Polizei tatenlos zuschaut.


Der Autor ist Mitglied der Koordinationsgruppe "Menschenrechte und Polizei" der deutschen Amnesty-Sektion.

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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2016, S. 22-23
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Dezember 2016

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