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GRUNDSÄTZLICHES/336: Überwachung - Die illegalen Fünf (ai journal)


amnesty journal 10/11/2016 - Das Magazin für die Menschenrechte

Die illegalen Fünf

von Lena Rohrbach


Weltweit greifen Geheimdienste durch Überwachung in das Menschenrecht auf Privatsphäre ein - auch der Bundesnachrichtendienst, der Kommunikationsdaten speichert. Da werden schnell Millionen unbescholtene Bürger abgeschöpft. Die Datenbanken unterlaufen die gesetzlich vorgeschriebene Kontrolle durch Datenschutzbeauftragte. Der Bundestag will nun nachbessern, dabei aber nur deutsche sowie EU-Bürger besser schützen.


Susan ist genervt. Ihre Nachbarin hat schon wieder drei Anrufe auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, weil die Kinder auf dem Nachbargelände gespielt haben. Die Nachbarin hat sich anwaltlich beraten lassen, ihr Anwalt sagt, sie müsse dies nicht dulden. Wirklich nachvollziehen kann der Anwalt die Aufregung allerdings nicht, denn er hat selbst drei spielfreudige Kinder. Der Kleinsten geht es derzeit nicht gut, er war gerade mit ihr bei der Kinderärztin.


Die "fünf Hüpfer"

Susan ist 37, arbeitet als Sportlehrerin und lebt in Kanada. Wann sie mit wem telefoniert hat, wo und wie lange, wem sie eine E-Mail geschrieben hat - diese Informationen speichert der deutsche Bundesnachrichtendienst. Denn der Notfallpatient der Ärztin des Anwalts von Susans Nachbarin ist verdächtig. Susan hat ihn noch nie getroffen. Über fünf Ebenen ihrer Kommunikation ist sie jedoch mit ihm verknüpft.

Susan ist fiktiv, doch wir können davon ausgehen, dass es viele Beispiele wie sie gibt. Denn der Bundesnachrichtendienst (BND) speichert Informationen über Kommunikation bis in die fünfte Verbindungsebene. Das heißt: Wer jemanden kennt, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der jemanden kennt - der oder die ist verdächtig. "Kennen" heißt, miteinander telefoniert, eine E-Mail geschrieben oder eine SMS verschickt zu haben. Über fünf Ebenen "kennt" eine überwachte Person schnell mehrere Millionen Menschen, die auf diese Weise ebenso ins Netz der Überwachung geraten. Kanada, wo Susan lebt, hat rund 35 Millionen Einwohner und mehr als eine verdächtige Person. So könnte sich schnell die gesamte Bevölkerung eines Landes im Datenspeicher wiederfinden.

Gegen die "fünf Hüpfer" - so nennt sich die Speicherung über Verbindungsebenen im Szenejargon der Geheimdienste - wirkt selbst die amerikanische NSA mustergültig. Sie speicherte bis in die dritte Verbindungsebene, seit einer Reform darf sie aber nur noch zweimal hüpfen. Denn wie die "American Civil Liberties Union" vorgerechnet hat, produziert ein Verdächtiger mit vierzig Kontakten im Telefonbuch in der dritten Ebene bereits bis zu 2,5 Millionen "Beifänge".


Sieben BND-Datenbanken

In Deutschland landen Susans Daten in der BND-Datenbank "VerAS". Dort werden Metadaten gespeichert, also Daten über die Umstände einer Kommunikation. Wer telefoniert oder mailt mit wem? Wo befindet er oder sie sich dabei? Um welche Uhrzeit findet das Gespräch statt und wie lange dauert es? "Vera" heißt übersetzt "Wahrheit", ist aber das Kürzel für "Verkehrsanalysesystem". Welche Wahrheiten über wen dort gespeichert sind, durfte eine BND-Regierungsdirektorin, die als Zeugin im Untersuchungsausschuss des Bundestages zur Überwachungsaffäre geladen war, allerdings nicht sagen. Das hören die Abgeordneten im Ausschuss oft, die Geheimniskrämerei erschwert ihre Aufklärungsarbeit.

Aufzuklären gibt es jedoch einiges. Erst im vergangenen September kam heraus, dass "VerAS" nur eine von insgesamt sieben Datenbanken ist, die der BND illegal betreibt. Der BND speichert dort private Informationen ohne die gesetzlich vorgeschriebene Kontrolle durch Datenschutzbeauftragte.

Eine andere dieser illegalen Datenbanken heißt "XKeyscore". Dieser Name war schon einmal in weltweiten Schlagzeilen, als der Whistleblower Edward Snowden 2013 den globalen Überwachungsskandal enthüllte. Es ist das Programm, mit dem die NSA das gesamte Internet nach Zielpersonen durchsucht. XKeyscore kann herausfinden, wonach eine Person in Suchmaschinen wie Google gesucht hat, was sie in Chats und in privaten E-Mails schreibt. Eine ungefilterte Sammlung aller Daten kann sogar in Echtzeit - also z. B. während eine Person chattet - abgegriffen werden. Snowden beschreibt es als ein System, das die nahezu unbegrenzte Live-Überwachung jeder Person auf der Welt ermöglicht. Die NSA hat das dementiert.

Der BND, der eng mit der NSA zusammengearbeitet hat, setzt XKeyscore offenbar ebenfalls ein. Auch in dieser Datenbank könnte sich Susan wiederfinden, denn sie speichert die Daten vieler Personen, gegen die es keinen Verdacht gibt.

Weil der BND die Datenbanken illegal betreibt, müssen die gespeicherten Informationen nach Ansicht der Datenschutzbeauftragten "unverzüglich gelöscht" werden. Ob das geschehen ist, ist nicht bekannt. Auch nicht, ob es vielleicht noch mehr ungenehmigte Datenbanken gibt. Die Beauftragte schreibt in ihrem Bericht: "Der BND hat meine Kontrolle rechtswidrig mehrfach massiv beschränkt. Eine umfassende, effiziente Kontrolle war mir daher nicht möglich."


Das Recht auf Privatsphäre

Der BND ist damit nicht allein. Weltweit greifen Geheimdienste durch Überwachung in das Menschenrecht auf Privatsphäre, das durch die allgemeine Erklärung der Menschenrechte geschützt wird, ein. Das ist nicht immer illegal: Im Gegensatz zum absolut geltenden Recht, nicht gefoltert zu werden, kann in das Recht auf Privatsphäre durchaus eingegriffen werden. Dafür gibt es aber klare Regeln. Überwachung darf nur stattfinden, wenn ein Verdacht vorliegt und die Maßnahme gezielt, verhältnismäßig und notwendig ist, um ein legitimes Ziel zu erreichen - um zum Beispiel ein schweres Verbrechen abzuwehren. Es muss eine öffentlich zugängliche gesetzliche Grundlage für die Überwachung geben, so dass Menschen einschätzen können, ob sie von Überwachung betroffen sein könnten.

Die Rechtmäßigkeit der Überwachung muss von einer unabhängigen Stelle kontrolliert werden. Alle Staaten müssen sich bei der Überwachung von Kommunikation an diese menschenrechtlichen Vorgaben zum Schutz der Privatsphäre halten. Praktischer Nebeneffekt: Die Kräfte der Behörden werden dort gebündelt, wo es tatsächlich Verdächtige gibt.

Diese Regeln schützen zugleich auch weitere Menschenrechte. Denn unsere Privatsphäre ist die Grundlage dafür, dass wir andere Rechte überhaupt auszuüben wagen. Wie würde Susan sich wohl verhalten, wenn sie von der möglichen Speicherung ihrer Daten wüsste? Wer weiß, dass Informationen über ihn gespeichert werden, überlegt sich vielleicht dreimal, ob er oder sie wirklich die HIV-Beratungsstelle anruft, jede Woche zum Gewerkschaftstreffen geht oder per Telefonkette eine Demonstration organisiert.

Diese sogenannten "Chilling Effects", eine Form von Selbstzensur, sind durch zahlreiche Studien gut belegt. So fand das Pew Research Center heraus, dass 13 Prozent der Befragten bestimmte Begriffe nicht mehr in ihrer Online-Kommunikation verwendeten, 17 Prozent gaben diese nicht mehr in Suchmaschinen ein. In einer Umfrage des Schriftstellerverbandes PEN gaben 28 Prozent der Befragten an, soziale Medien weniger oder nicht mehr zu nutzen, 24 Prozent mieden bestimmte Themen in Telefonaten oder E-Mails, weitere neun Prozent überlegten ernsthaft, dies zu tun.

Besonders betroffen sind davon Menschen, die glauben, dass sie mit ihrer Meinung eher in der Minderheit sind. Überwachung führt also zu einer Schweigespirale: Wer sich in der Minderheit wähnt, äußert sich seltener und verhält sich konformer. Die Minderheit wird dadurch noch kleiner, andere schweigen noch öfter.


Auch Deutsche überwacht der BND

Susan ist Kanadierin. Der BND ist ein Auslandsgeheimdienst. Doch in den Datenbanken, in denen er Informationen über Susan speichert, stehen auch Informationen über deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger. Obwohl diese eigentlich besser vor Überwachung durch ihren eigenen Geheimdienst geschützt sind, geraten sie immer wieder ins Netz. Denn technisch ist es nicht möglich, Datenströme anhand der Staatsbürgerschaft ihrer Urheberinnen und Urheber zuverlässig zu filtern. Eine E-Mail-Adresse, die auf .de endet, oder eine deutsche Vorwahl lassen sich zwar noch ausfiltern. Eine .org- oder .com-Adresse oder ein Skype-Telefonat sind jedoch schon weniger eindeutig.

Außerdem nutzt der BND verschiedene Theorien, um die Überwachung von Deutschen zu rechtfertigen. So sollen etwa die deutsche "Spiegel"-Journalistin Susanne Koelbl, der deutsche Diplomat Hansjörg Haber während seiner dreijährigen Zeit als Leiter einer EU-Beobachtungsmission sowie deutsche und andere Angestellte der Welthungerhilfe in Afghanistan überwacht worden sein. Die Welthungerhilfe wurde damals von der Ehefrau des Bundesinnenministers, Ingeborg Schäuble, geleitet.

Überwacht haben soll der BND auch die EU-Außenbeauftragte, den französischen Außenminister, den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, das Kinderhilfswerk UNICEF, Oxfam und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Oft geschah das in Zusammenarbeit mit der NSA, die dem BND sogenannte "Selektoren", also Suchbegriffe, vorgab. Die lädt der BND mehrmals täglich von der NSA herunter, um sie in seine Überwachungssysteme einzuspeisen. Etwa 14 Millionen sollen es insgesamt bisher gewesen sein. Diese Fülle hatte der BND irgendwann nicht mehr im Griff. So überwachte er auch die europäischen Rüstungsfirmen EADS und Eurocopter für die USA. Auch deutsche Unternehmen waren, neben vielen unbescholtenen Privatpersonen, betroffen. Ihre Daten wurden an die USA weitergereicht - wie viele und welche, bleibt geheim.


Vage Regeln für den BND

Nach diesen Skandalen soll der BND nun reformiert werden. Derzeit debattiert der Bundestag einen Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen. Dieser sieht vor, deutsche Staatsbürger besser zu schützen, auch für EU-Bürgerinnen und -Bürger sowie -Institutionen sind Verbesserungen vorgesehen. Susan und der größte Teil der Weltbevölkerung allerdings bleiben außen vor. Menschen wie sie darf der BND laut Gesetzentwurf künftig nahezu grenzenlos und massenhaft überwachen, auch dann, wenn es keinen Verdacht gegen sie gibt.

Menschen wie Susan sind nach Auffassung der Bundesregierung und des BND nämlich nicht durch Artikel 10 des Grundgesetzes geschützt, der das Fernmeldegeheimnis, also das Recht auf private Telekommunikation schützt. Entgegen der gängigen Meinung von Verfassungsrechtlern, die betonen, Artikel 10 sei ein allgemeines Menschenrecht, interpretieren Regierung und BND es nur als "Deutschengrundrecht". Denn andernfalls müssten Überwachungsmaßnahmen gegen Nicht-Deutsche im Ausland, also das tägliche Brot eines Auslandsgeheimdienstes, nach dem G10-Gesetz reguliert und von der G10-Kommission genehmigt werden. Die Kommission ist zuständig für die Kontrolle der BND-Überwachung, wenn das Fernmeldegeheimnis betroffen ist.

Gesetzliche Beschränkungen und Kontrolle hat sich der BND mit dieser Interpretation also "wegdefiniert". Für den Staatsrechtler Matthias Bäcker baut sich der BND so einen rechtsfreien Raum. Der BND-Mitarbeiter T.B. sagte im Untersuchungsausschuss, Nicht-Deutsche im Ausland seien "zum Abschuss freigegeben".

Weil das G10-Gesetz für nichtzuständig erklärt wird, gibt es allerdings keine gesetzliche Grundlage mehr für die reine Auslandsüberwachung. Das ist illegal. Im neuen BND-Gesetz sollen daher gesetzliche Gründe für eine Überwachung definiert werden. Das Problem: Sie sind so vage und breit, dass in Zukunft nahezu alles erlaubt scheint. Oder, wie es das Nachrichtenportal "Spiegel Online" ausdrückte: "Der BND darf künftig manchmal immer fast alles vielleicht."

Susan zu überwachen, soll künftig erlaubt sein, um etwa die "Handlungsfähigkeit" Deutschlands zu wahren oder "sonstige Erkenntnisse von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung" zu gewinnen. Was das heißt, ist unklar. Ist es eine "sonstige Erkenntnis von außenpolitischer Bedeutung", wie Susan und andere Menschen weltweit über die Politiker ihrer oder der deutschen Regierung denken? Ist es wichtig für Deutschlands Handlungsfähigkeit, solche Einstellungen zu kennen? Was ist mit der Kommunikation einer "New York Times"-Journalistin, die für den Politikteil schreibt, oder eines Menschenrechtsanwaltes aus Saudi-Arabien?

Und: Diese vagen Regeln gelten nur dann, wenn der BND die Kommunikation innerhalb des deutschen Staatsgebietes abgreift, zum Beispiel an deutschen Internetkabeln. Wenn der BND Susans Daten direkt im Ausland überwacht, braucht er dazu überhaupt keine Begründung mehr.

Auch sonst liest sich der Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD fast wie eine "Geheimdienst-Wunschliste". Statt wie bisher nur einzelne Kabel- oder Funkverbindungen abhören zu dürfen, darf der BND künftig gleich ganze Telekommunikationsnetze überwachen. Dabei dürfen 100 Prozent des Datenstroms abgegriffen werden. "Full Take" nennt sich das in der Sprache der Geheimdienste.

All das lädt zu Missbrauch und Massenüberwachung ein. Mit den menschenrechtlichen Regeln für Eingriffe in die Privatsphäre hat es nicht mehr viel zu tun. Weltweit gehen auch andere Geheimdienste so vor: Die eigenen Bürgerinnen und Bürger werden etwas besser geschützt, der größte Teil der Weltbevölkerung "zum Abschuss freigegeben". Wenn Deutschland mit schlechtem Beispiel vorangeht, wird es schwer sein, sich noch über unsere Überwachung durch NSA & Co. zu beschweren. Regierungen müssen uns alle besser schützen und das Recht auf Privatsphäre als Menschenrecht anerkennen, das uns allen zusteht.


Die Autorin ist Expertin der deutschen Amnesty-Sektion für Menschenrechte im digitalen Zeitalter

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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2016, S. 38-40
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2016

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