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MITTELAMERIKA/094: Frauenmorde in Mexiko - Straflosigkeit und Schweigen (ai journal)


amnesty journal 4/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Gegen die Straflosigkeit und das Schweigen"

Interview: Ferdinand Muggenthaler, Rebekka Rust


Ein Gespräch mit Marsiela Ortiz von der mexikanischen Organisation "Nuestras Hijas de Regreso a Casa" ("Unsere Töchter sollen nach Hause zurückkehren") über die Frauenmorde in Ciudad Juárez.


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FRAGE: Wann endete Ihr normales Leben?

MARSIELA ORTIZ: Am 14. Februar 2001 wurde die Tochter von Norma Andrade, Lilia Alejandra, entführt. Ich war ihre Lehrerin. Für mich brach eine Welt zusammen, als sie acht Tage später tot aufgefunden wurde. Nach dem, was wir von ähnlichen Fällen wussten, konnten wir nicht auf die Polizei hoffen. Deshalb gründeten wir unsere Organisation. Wir begannen mit kleinen Protestaktionen. In der Zeitung haben wir über den Fall von Alejandra berichtet. Wir versuchen, Druck auf die Polizei und auf die Regierung auszuüben. Unsere Forderungen sind eine andere Geschlechterpolitik, strengere Gesetze und ein Ende der Gewalt gegen Frauen.

FRAGE: Wie viele Mitglieder hat Ihre Organisation?

MARSIELA ORTIZ: Wir haben rund 60 Mitglieder - alles Menschen, in deren Umfeld eine Frau verschwunden ist oder ermordet wurde.

FRAGE: Und es kommen ständig neue Mitglieder hinzu?

MARSIELA ORTIZ: Ja, denn die Morde gehen weiter. Wir hoffen, gemeinsam etwas ausrichten zu können. Bislang kommen die Täter straffrei davon, und der Staat hält sich zurück - obwohl jeder von den Morden weiß. Binnen kurzer Zeit werden wir das Problem nicht lösen können, aber wir werden nicht aufgeben.

FRAGE: Wie können Sie den Angehörigen in einem konkreten Fall helfen?

MARSIELA ORTIZ: Wir unterstützen Familien dabei, ihren Fall bei den Behörden zu melden. Wir fordern eine rasche Suche nach den Verschwundenen, oder nach einem Mord eine effektive Untersuchung und die Festnahme der Täter. Daneben bieten wir den Familien psychologische Hilfe und stellen ihnen Anwälte zur Verfügung. Wir kümmern uns um die Kinder, die als Waisen zurückbleiben. Auf Gemeindeebene haben wir Programme zur Vorbeugung der Verbrechen ins Leben gerufen, um gezielt junge Frauen zu schützen, die sehr gefährdet sind. Und wir betreuen Programme, in denen die Menschenrechte und ihre Umsetzung vermittelt werden.

FRAGE: Hat sich die Situation der Frauen in Ciudad Juárez aufgrund Ihrer Arbeit verbessert?

MARSIELA ORTIZ: Wir haben es geschafft, auf die Probleme aufmerksam zu machen. Wir haben das Schweigen durchbrochen. Um die Morde wirklich zu stoppen, dürfen die Täter nicht ungestraft davonkommen. Aber die Regierung tut nichts. In der Politik herrscht buchstäblich Stillstand - während weitere Frauen verschwinden und ermordet werden.

FRAGE: Was halten Sie von der Sonderstaatsanwaltschaft, die eingerichtet wurde, um die Morde aufzuklären?

MARSIELA ORTIZ: Sie deckt die Regierung und spielt das Ausmaß der Morde herunter. Den Familien von Verschwundenen wird erzählt, dass ihre Töchter im Land herumreisen. Wir lehnen diese Institution wegen der Lügen, die sie verbreitet, ab. Die einzige Institution, die gut arbeitet und sich für die Familien einsetzt, ist die "Kommission zur Vorbeugung und Beendigung der Gewalt gegen die Frauen in Ciudad Juárez". Sie wurde von der Bundesregierung aufgrund des öffentlichen Drucks eingerichtet. Doch ausgerechnet diese Kommission soll nun aufgelöst werden! Der Staat macht sich zum Komplizen dieser Verbrechen. Wegen der internationalen Aufmerksamkeit, die das Thema bekommen hat, haben die Behörden zunächst die Sonderstaatsanwaltschaft und die Kommission eingesetzt. Aber jetzt versuchen sie, die neuen Fälle zu vertuschen.

FRAGE: Sind Sie in Gefahr, weil Sie über das Thema sprechen?

MARSIELA ORTIZ: Ja. Unserer Organisation wird vorgeworfen, die Regierung und Mexiko in ein schlechtes Licht zu rücken. Wir werden eingeschüchtert - zum Teil durch brutalen Einsatz von Gewalt. Einige Mütter sind von Unbekannten zusammengeschlagen worden. Mir haben sie eine Pistole an den Kopf gehalten. Ich hatte Todesangst. Dann ließen sie mich doch laufen, drohten aber, sie würden meine Kinder entführen, wenn ich nicht mit der Arbeit aufhöre.

FRAGE: Von wem gehen die Bedrohungen aus?

MARSIELA ORTIZ: Einen habe ich erkannt. Aber die Polizei sagt, die Untersuchung habe ergeben, dass er ein unbescholtener Bürger ist. Auch sonst haben unsere Anzeigen wegen der Bedrohungen zu keinem Ergebnis geführt. Gott sei Dank ist amnesty international eingeschritten, als man mich bedroht hat. Es gingen tausende von Petitionen beim Gouverneur von Mexiko ein, in denen es hieß: "Schützen Sie das Leben von Marisela Ortiz".

FRAGE: Ist die Aufmerksamkeit auf internationaler Ebene nach wie vor wichtig?

MARSIELA ORTIZ: Ja, denn in Mexiko gibt es gerade wieder einen Rückschritt. Die alte Regierung hat das Problem wegen des internationalen Drucks eingestanden und zumindest die Kommission und die Sonderstaatsanwaltschaft eingesetzt. Es scheint so, als wolle die neue Regierung das Problem wieder herunterspielen und die Kommission nicht weiter finanzieren.

FRAGE: Es ist also auch der richtige Moment, dass der Film "Bordertown" in die Kinos kommt?

MARSIELA ORTIZ: Durch den Film entsteht überall auf der Welt eine Öffentlichkeit. Das ist wichtig, weil wir in Mexiko auf uns gestellt sind.


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"BORDERTOWN"

Der Film von Regisseur Gregory Nava, der im Februar auf der Berlinale Premiere hatte, thematisiert die Mordserie an Hunderten von jungen Fabrikarbeiterinnen in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez. Eine Reporterin aus Chicago (Jennifer Lopez) will Karriere machen. Als sie einwilligt, im Auftrag ihrer Redaktion nach Ciudad Juárez zu fahren, um dort der Mordserie nachzugehen, tut sie das zunächst vor allem für eine große Geschichte. Sie bittet einen ehemaligen Freund und Kollegen (Antonio Banderas), der die örtliche Zeitung leitet, um seine Hilfe. Gemeinsam nehmen sie sich eines jungen Mädchens (Maya Zapata, Foto) an, das einen Mordversuch nach einer Vergewaltigung überlebt hat und versuchen mit ihr zusammen, die Täter zu finden. Für den Film erhielt Lopez den "amnesty for artist award" verliehen.

Der Film basiert auf Tatsachen. Seit 1993 sind in Ciudad Juárez und in Chihuahua mehr als 400 Frauen entführt, vergewaltigt, misshandelt und getötet worden. Die Zahl "verschwundener" Frauen ist um ein Vielfaches höher. ai fordert seit langem eine unabhängige Untersuchung der Morde und die Bestrafung der Täter.


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Quelle:
amnesty journal, April 2007, S. 26-27
Herausgeber: amnesty international
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E-Mail: info@amnesty.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. April 2007