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RUSSLAND/052: Dunkle Aussichten - Zur Menschenrechtslage in Russland


amnesty journal 5/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Starker Staat
Dunkle Aussichten: Zur Menschenrechtslage in Russland

Von Peter Franck


Die Einschätzung vieler, die sich seit Jahren mit der Lage der Menschenrechte in der Russischen Föderation befassen, fällt immer pessimistischer aus. Zwar muss man nachdrücklich darauf hinweisen, dass die heutigen Zustände nicht mit denen der alten Sowjetunion zu vergleichen sind: Damals musste ai jedes Jahr von Hunderten von gewaltlosen politischen Gefangenen berichten, die teilweise in psychiatrischen Kliniken zwangstherapiert wurden.

Doch die Situation der Menschenrechte war schon einmal besser: 1999 wurde Alexander Nikitin von einem Gericht in St. Petersburg vom Vorwurf des Landesverrats freigesprochen, nachdem er über die Gefahren berichtet hatte, die von einer verrottenden Flotte ausgingen. Dabei bezog er sich auf öffentlich zugängliche Quellen. Sein Urteil begründete das Gericht mit dem Hinweis auf die für Russland verbindlichen Normen der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wie eine Nachricht aus einer anderen Epoche mutet diese Meldung heute an. Sein Strafverteidiger Jurij Schmidt hatte den Versuchen des Inlandsgeheimdienstes "FSB" getrotzt, aus dem früheren Kapitän der sowjetischen Nordmeerflotte einen Spion zu machen, und seinen Freispruch erreicht. Gegenüber der Zeitung "Komsomolskaja Prawda" erklärte Schmidt nach seinem Freispruch: "Unsere Gerichte waren zu allen Zeiten vom Staat abhängig, von seiner politischen Führung. Zu Sowjetzeiten war diese Abhängigkeit absolut. Nach einigen Jahren der Versuche, eine unabhängige Judikative aufzubauen, kehren wir zum Ausgangspunkt zurück. Und zwar in recht hohem Tempo."

Seitdem hat sich einiges verändert: Das Aufdecken von Missständen und die Kommunikation auch öffentlich zugänglicher Forschungsergebnisse insbesondere ins Ausland ist nicht (mehr) gewünscht. Eine Reihe russischer Bürger, die wegen Spionagedelikten zu Freiheitsstrafen von bis zu 15 Jahren verurteilt wurden, hat das zu spüren bekommen. Namen wie der des Militärjournalisten Grigorij Pasko, des Atomwissenschaftlers Igor Sutjagin und des Rechtsanwalts Michail Trepaschkin stehen für diese Entwicklung.

Auch die Lage in Tschetschenien und im Nordkaukasus hat sich in den letzten Jahren nicht durchgreifend verbessert. Zwar prägen die schweren Menschenrechtsverletzungen, die mit dem massiven militärischen Eingreifen russischer Einheiten zu Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges verbunden waren, heute nicht mehr den Alltag in Tschetschenien. Zudem gibt es Wiederaufbaumaßnahmen und Entschädigungsprogramme, die allerdings angesichts der weit verbreiteten Korruption nur zum Teil die Empfänger erreichen.

All dem steht aber die Ausweitung des Konfliktes auf Nachbarrepubliken wie Inguschetien oder Dagestan gegenüber. Ein Mitte Juni 2005 bekannt gewordener Bericht von Dmitri Kosak, dem nach dem Geiseldrama von Beslan von Putin eingesetzten Generalgouverneur für den südlichen Föderalbezirk, beschreibt die Lage in den Nordkaukasusrepubliken ungeschminkt: Die dortigen Führungen würden nur ihre eigenen Interessen vertreten.

Die Zivilbevölkerung leidet zudem unverändert unter willkürlichen Verhaftungen, dem "Verschwindenlassen", Folterungen und Misshandlungen. Dieses Vorgehen führt zwar immer wieder zu Verurteilungen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, bleibt in Russland aber nach wie vor weitgehend straflos. Die Situation von unabhängigen NGOs und Menschenrechtsverteidigern wird immer schwieriger. Durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen - Änderungen des Parteiengesetzes und des Wahlrechts, die Abschaffung der direkten Wahl der Gouverneure - wurden Vorkehrungen gegen mögliche Entwicklungen "von unten" getroffen, die dem Konzept der Zentralmacht zuwiderlaufen könnten. Spätestens seit der "orangenen" Revolution in der Ukraine wurde auch die Entwicklung der Zivilgesellschaft zur Angelegenheit der zentralen Macht erklärt: Zivilgesellschaft findet im Rahmen der vom Kreml weitgehend kontrollierten Gesellschaftskammer statt. Unabhängige NGOs sehen sich infolge eines neuen NGO-Gesetzes mit verschärfter Kontrolle und einschneidenden Sanktionen konfrontiert. Die von den staatlich kontrollierten Medien gegen NGOs geführte Kampagne, in der sie als Handlanger ausländischer Geheimdienste dargestellt werden, zeigt Wirkung: Prominente Bürger- und Menschenrechtler finden sich plötzlich als "Feinde des russischen Volkes" mit Privatadresse auf den Webseiten nationalistischer Organisationen wieder. Der Mord an Anna Politkowskaja zeigt, wie unsicher sie inzwischen selbst in Moskau leben.

Die Politik übersieht, dass sie die von ihr geschürten Stimmungen selbst nicht mehr zu kontrollieren vermag. Das starke Anwachsen nationalistischer und fremdenfeindlicher Kräfte im traditionell multiethnischen Russland, rassistische Übergriffe bis hin zu Morden sind dafür Beispiele. Rhetorische Verurteilungen durch den Präsidenten sind vor dem Hintergrund der realen Politik wenig glaubhaft. Vermisst wurde etwa ein öffentliches Auftreten Putins nach den Ausschreitungen im karelischen Kondopoga in Nordwestrussland im September 2006. Nachdem dort zwei Russen in einem kaukasischen Restaurant umgebracht worden waren, ging ein alkoholisierter Mob mehrere Tage lang gegen kaukasische Zuwanderer vor, zerstörte deren Marktstände und Geschäfte, bis alle Kaukasier aus der Stadt geflohen waren. Statt eines Appells an die Bürger, sich solchen Tendenzen entgegenzustellen, weist Präsident Putin kurze Zeit später darauf hin, es gelte die Interessen russischer Handwerker und der ortsansässigen Bevölkerung zu schützen.

Es wäre wünschenswert, dass im Kreml die Worte des kürzlich verstorbenen Soziologen Jurij Lewada gehört und vor allem verstanden werden: "Zivilgesellschaft kann nicht von Regierungen, Präsidenten oder Königen organisiert werden. Geschichtlich gesehen entwickelt sie sich selbst und zwar langsam." Ohne Vertrauen auf Entwicklungen von unten werden Menschenrechte auch in Russland nicht dauerhaft zu gewährleisten sein.

Der Autor ist Sprecher der Russland-Kogruppe der deutschen ai-Sektion.


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JURIJ MARKOWITSCH SCHMIDT

Am 10. Mai 2007 wird Jurij Markowitsch Schmidt 70 Jahre alt. Am Beispiel seiner eigenen Familie erlebte er, wie russische Geschichte geschrieben wurde: Sein Vater wurde drei Wochen nach seiner Geburt verhaftet; er sah ihn zum ersten Mal nach seiner Rückkehr aus dem Gulag 1956. Ab den sechziger Jahren war Jurij Schmidt im damaligen Leningrad als Strafverteidiger tätig und unterhielt enge Kontakte zu Dissidentenkreisen. Mit der Perestroika konzentrierte er seine Tätigkeit auf Prozesse mit politischem Hintergrund und gründete 1990 das "Russische Anwaltskomitee zur Verteidigung der Menschenrechte". Darüber hinaus setzte er sich dafür ein, dass in den Schulen "Menschenrechte" als Unterrichtseinheit eingeführt wurden. Derzeit leitet Jurij Schmidt das Team der Rechtsanwälte, die den früheren Yukos-Chef Michail Chodorkowskij gegen eine neue Anklage verteidigt, die ihm bis zu 25 Jahren Haft einbringen kann.


Bildunterschrift:

Die Rechtsanwältin Lydia Jusupowa steht mit einem Buch der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja am Fenster ihrer Wohnung in Moskau. Jusupowa arbeitete u.a. für das Büro von "Memorial" in Grosny. Sie sammelt und veröffentlicht Zeugenaussagen über Menschenrechtsverletzungen durch Rebellen und russische Streitkräfte. Jusupowa wurde für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.


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Quelle:
amnesty journal, Mai 2007, S. 12-13
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Mai 2007