Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → AMNESTY INTERNATIONAL

RUSSLAND/056: Überblick über die russische Medienlandschaft (ai journal)


amnesty journal 5/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Die Vertikale der Macht

Von Alexej Simonow


Das Fernsehen ist unter staatlicher Kontrolle, und nun sind auch die letzten unabhängigen Zeitungen bedroht. Ein Überblick über die russische Medienlandschaft.


*


Russland existiert zweifach: zum einen in den Vorstellungen der Regierung, zum anderen im Alltagsbewusstsein seiner Bürger. Dementsprechend existieren auch zwei Bilder der Massenmedien. Im Bewusstsein der Regierenden sind 95 Prozent der Zeitungen, Radio- und Fernsehsender unabhängig. In Fachkreisen, das heißt bei Menschen, die über die Möglichkeit verfügen, Medienerzeugnisse inhaltlich zu analysieren, stellt sich das Bild - milde gesagt - etwas anders dar. Das gesamte Fernsehen - vier Sender und 88 regionale Rundfunkgesellschaften - ist staatlich. Die Politik dieser Sender wird nicht nur durch staatliche Gelder beeinflusst, sondern auch durch tägliche Vorlagen und Impulse von Seiten der Regierenden. Die "Vertikale der Macht", die in Russland errichtet wurde, schafft eine Homogenität der Vorstellungen darüber, was möglich ist und was nicht. Diese Vorstellungen ziehen sich vertikal durch die Medien, auch durch jene, die dem Staat nicht direkt gehören. Sie ziehen sich ebenso durch die neuen Substrukturen der gewählten Bürgermeister und Leiter der städtischen Selbstverwaltungen, wie sie jetzt aufgebaut werden und folglich auch durch die städtischen Medien, die sich unter ihrem Einfluss befinden.

Daneben nimmt der Staat auch Einfluss auf Fernsehsender, die sich im privaten Besitz befinden. Diese Sender sind unmittelbar mit den Interessen der Unternehmen verbunden, die sie besitzen, während die Unternehmen sich in einer stetig wachsenden Abhängigkeit vom Staat befinden. Schließlich gibt es eine dritte Komponente. Die Mehrheit der Fernsehsender lebt von Werbung, wobei der wachsende russische Werbemarkt, der mittlerweile einen Umfang von über fünf Milliarden Rubel hat, niemanden zu Illusionen verleiten sollte - die Werbehaushalte und ihre Zuteilung befinden sich unter der direkten Aufsicht von Beamten.

Wenn wir uns nun dem Weltbild zuwenden, wie es im Fernsehen erzeugt wird, so wird Russland vom Fernsehen in zwei Varianten gezeichnet: entweder als totales Positivum oder aber als bedrückendes, finsterstes Negativum mit Verbrechen und Katastrophen. In diesem Fernseh-Russland leben vor allem die "richtigen" Politiker, gute und schlechte Banditen, gute und schlechte Gesetzeshüter, Moderatoren und TV-Kulturschaffende. In diesem Land gibt es sehr wenig gewöhnliche Leute, insbesondere wenig Frauen und Kinder. Das Leben dieses Fernseh-Russlands findet vor allem in Moskau und St. Petersburg statt.

Während sich das Fernsehen unter der totalen Kontrolle der Regierenden befindet, ist die Lage der Zeitungen komplexer, und die Mehrzahl der Konflikte um die Zeitungen trägt ausgesprochen regionale Züge. Allerdings sind auch hier alarmierende Veränderungen zu beobachten, die einzelne überregionale Blätter betreffen. So verlor zum Beispiel die Zeitung "Iswestija" unmittelbar nach dem Terroranschlag in Beslan ihren Chefredakteur, weil sie einige tragische Photos auf der ersten Seite platziert hatte. Der neue Redakteur setzte die Linie fort, doch erschien die Zeitung ihren Besitzern, Gasprom-Media, zu tolerant. Es wurde ein dritter Chefredakteur ernannt, der zuvor lange Jahre bei der "Komsomolskaja Prawda" gearbeitet hatte. Sofort nach seiner Ernennung wurden mehrere leitende Mitarbeiter der Informationssparte entlassen, darunter der Träger des Sacharow-Preises "Für Journalismus als Handlung" von 2005.

Dies ist ein anschaulicher Beleg dafür, dass im Zeitungsbereich zweifellos die gleichen Gesetze wirken wie beim Fernsehen. Gleichzeitig vernehmen wir ständig vom Präsidenten und von anderen Repräsentanten der Macht, dass sich das Land ohne Pressefreiheit nicht entwickeln könne, ein Kampf gegen die Korruption unmöglich sei und dergleichen mehr. Zur Umsetzung dieser Vorgaben existiert in der russischen Zeitungsbranche eindeutig ein kleines Reservat in dem Unabhängigkeit und - diesen Begriff wage ich hier zu verwenden - sogar Meinungsfreiheit aktiv demonstriert wird. Dieses Reservat mit einer Gesamtauflage von rund einer halben Million besteht aus der in Moskau erscheinenden "Nowaja Gazeta" mit ihren zwölf Regionalbeilagen (Auflage rund 300.000), der Zeitung "Nowyje Iswestija" (Auflage rund 80.000, erscheint in Moskau) sowie zwei bis drei Dutzend kleinerer regionaler Blätter. Es besteht also unbestreitbar ein lokales "Reservat der Freiheit", und da niemandem bewusst ist, dass es sich um ein Reservat handelt, lässt es sich stets als Beleg für eine unabhängige Presse in Russland anführen.

Es hat in Russland nie eine Tradition des freien Wortes gegeben. In den zwanzig Jahren, die seit dem Beginn der Perestroika vergangen sind, konnte sich eine solche Tradition kaum herausbilden. Selbst wenn sich die Anstrengungen von Regierung und Gesellschaft vereint auf die Schaffung einer solchen Tradition gerichtet hätten, wäre dies kaum möglich gewesen. Denn Traditionen können nur im Lauf der Zeit wachsen. Das journalistische Handwerk und die Erwartungen der Leser, Hörer und Zuschauer stellen sich recht widersprüchlich dar. Die ältere Generation, die Ende der Achtziger Jahre begann, sich die Fertigkeiten eines demokratischen Journalismus anzueignen, bewahrte zu viele der alten Sünden der Sowjetzeit, als Journalismus noch der Name für Propaganda war. Es dominierte der Ansatz, jedermann von etwas zu überzeugen, woran man selbst kaum glaubte. Anfang der neunziger Jahre wuchs die Zahl der Medien stark an, und eine ungeheure Menge fachlich nicht ausgebildeter Leute stürzte sich in den Journalismus. Diese hatten zwar Ideen, ließen jedoch schlichtweg das Verantwortungsgefühl für Formen und Methoden der Darstellung vermissen.

Heute besetzt ein bedeutender Teil der ehemals sowjetischen Journalisten die Dozentenstellen an den Journalismusfakultäten. Dadurch entwickelt sich ein um objektive und gute Darstellung bemühter Journalismus nur schwach. Den Journalisten fehlt es außerdem an Solidarität, Organe der korporativen Selbstregulierung sind schwach und nicht flächendeckend vorhanden. Es ist bezeichnend, dass eine "Charta über Mäßigung und Nüchternheit bei der Behandlung der Themenfelder Terrorismus und Extremismus", die nach den Terroranschlägen von 2002 verabschiedet und von den führenden Fernsehsendern unterzeichnet wurde, nicht umgesetzt wurde. Das Thema wurde dadurch all jenen "Novellierern" des Mediengesetzes überlassen, die nun versuchen, all das per Gesetz festzuschreiben, was allein der Regulierung durch den Ethos des Journalisten vorbehalten ist.

Was die Leser, Hörer und Zuschauer anbelangt, so folgen sie dem Zeitgeist. Sie stehen dem Weltbild, wie es das Fernsehen bietet, skeptisch gegenüber, hören im Radio vor allem Musik und lesen immer weniger Zeitung. So ergeben auch Analysen der Verbraucherpräferenzen folgendes Bild: Nur zehn Prozent der Befragten schenken den Medien Vertrauen, rund 60 Prozent würden gerne wieder die Zensur einführen.


Simonow ist Autor, Regisseur und Präsident der Stiftung zur Verteidigung von Glasnost. Die Stiftung wurde 1991 gegründet und setzt sich für Pressefreiheit in Russland ein. Sie veröffentlicht Berichte und Bücher über die Pressefreiheit und Probleme des Medienrechts in Russland.


*


Quelle:
amnesty journal, Mai 2007, S. 20-21
Herausgeber: amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/98 37 30
E-Mail: info@amnesty.de
Internet: www.amnesty.de

Das amnesty journal erscheint monatlich.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
Nichtmitglieder können das amnesty journal für
30 Euro pro Jahr abonnieren.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2007