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SÜDAMERIKA/035: Polizeigewalt in Brasilien (ai journal)


amnesty journal 9/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Schutzlos ausgeliefert"

Die brasilianische Menschenrechtsaktivistin Márcia Honorato wird massiv bedroht. Die Polizei will sie nicht mehr um Hilfe bitten: Zu oft ist diese von den Banditen nicht zu unterscheiden.


FRAGE: Frau Honorato, was bedeutet "Staat" für Sie?

MARCIA HONORATO: Staat bedeutet für mich eine Garantie für uns Bürger, Garantie auf Leben, Arbeit, Bildung, Gesundheit. Der Staat ist für die Menschen da, nicht umgekehrt.

FRAGE: Entspricht der brasilianische Staat Ihrer Erfahrung nach diesem Bild?

MARCIA HONORATO: Nein. Während meines Aufenthalts in Deutschland hat die Militärpolizei von Rio de Janeiro in einer Gruppe von favelas (Elendssiedlungen), die ironischerweise "Der Deutsche" heißen, 19 Menschen erschossen. Zwölf von ihnen waren völlig unbeteiligt, es sind alte Menschen und Kinder darunter. Der verantwortliche Offizier kommentierte das mit dem Satz: "Man kann kein Omelett machen, ohne ein Ei zu zerschlagen." Das ist die Einstellung unseres Staates gegenüber den Menschen. Wir sind keine Staatsbürger, sondern Eier, die man zerschlagen kann.

FRAGE: Die Polizei schützt die Menschen nicht?

MARCIA HONORATO: Die Polizei war in Brasilien schon immer dazu da, nur die oberen Gesellschaftsschichten zu schützen. Doch heute ist es schlimmer, denn es gibt keine wirkliche Unterscheidung mehr zwischen Polizei und Banditen. Wenn wir die Polizei rufen, müssen wir sehr aufpassen, dass wir nicht zu Tode kommen. So wie es zwei Nachbarsjungen von mir geschah, Renato und Fabricio. Sie riefen die Polizei, weil sie einen Raubüberfall befürchteten, und kurz darauf waren sie tot, ermordet von denen, die sie hätten schützen sollen.

FRAGE: Sie selbst werden auch von der Polizei bedroht. Wieso?

MARCIA HONORATO: Ich begehe den "Fehler", mich für die Menschenrechte einzusetzen. Ich bin in mehreren Initiativen tätig, die die Verbrechen von Killerkommandos in den Vorstädten von Rio de Janeiro, der "Baixada Fluminense", aufklären will. Und diese Kommandos sind eng mit der Polizei verbunden. Ich habe seit 2005 wiederholt Drohungen erhalten, doch eher indirekt. Im April dieses Jahres aber wurde ich zuhause überfallen, ein Mann drückte mir eine Pistole ins Gesicht und fragte mich, ob ich sterben wolle. Dann schoss er in die Luft, bevor er mit seinem Komplizen verschwand.

FRAGE: Mussten Sie fliehen?

MARCIA HONORATO: Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisationen Justica Global und amnesty international waren der Meinung, dass ich zu meinem Schutz eine Weile außer Landes gehen sollte. ai hat die Reise finanziert. Ich habe bei der UNO in Genf Anzeige erstattet wegen der Todesdrohungen gegen mich. Und ich nutze die Gelegenheit, die europäische Öffentlichkeit auf die Strukturen der Gewalt bei uns aufmerksam zu machen.

FRAGE: Gab es einen konkreten Anlass für Ihre Arbeit?

MARCIA HONORATO: Am 31. März 2005 erschoss eine Gruppe Militärpolizisten in meiner Stadt Queimados und in der Nachbarschaft Novo Iguaçu binnen 30 Minuten wahllos 29 Menschen, unter ihnen Frauen, Jugendliche und ein 13-jähriges Kind. Die Opfer hatten keine Chance. Der Massenmord sollte wohl vor allem eine Warnung an einen Kommandanten der Militärpolizei in der Region sein, der zu konsequent gegen Korruption in den eigenen Reihen vorging.

FRAGE: Hat man die Täter gefasst?

MARCIA HONORATO: Die Mörder gingen ganz offen vor, trugen keine Masken. Sie leben selbst in dem Viertel, viele kennen sie. Aber niemand der Augenzeugen wollte aussagen. Die Mörder sind sich sicher, dass ihnen nichts passiert. Nur einer von ihnen wurde bisher verurteilt. Danach geschahen weitere Morde an Menschen, die ich gut kannte. Einer dieser Mörder läuft weiter frei herum, ein Polizist namens Fabiano. Er hat auch Renato und Fabricio ermordet. Und er weiß, dass ich es weiß.

FRAGE: Sie haben sich auch intensiv mit den so genannten "caveiroes", den "Schädelpanzern" beschäftigt, die so heißen, weil auf ihnen ein großer Totenschädel abgebildet ist...

MARCIA HONORATO: Diese Schützenpanzer, mit denen die Polizei in die favelas einrückt, sind Ausdruck der öffentlichen Sicherheitspolitik im Bundesstaat Rio de Janeiro. Wenn zwei Polizisten einen Panzer brauchen, um sich zu schützen, dann sagt das etwas aus. Während sich die Polizei panzert, ist die Bevölkerung der Gewalt schutzlos ausgeliefert. Für ihren Schutz gibt es keine Ressourcen, und das gilt für alle sozialen Bereiche, auch für Bildung und Gesundheitswesen.

FRAGE: Aber ist es nicht verständlich, dass sich die Polizisten gut schützen müssen, wenn sie in die favelas gehen? Die Drogenhändler sind doch schwer bewaffnet.

MARCIA HONORATO: Schon der Ansatz ist völlig verkehrt. Caveirao bedeutet: Die Polizei betritt die favela mit der Absicht, Bewohner zu töten. Die Polizei soll aber nicht töten, sondern Ermittlungen anstellen, sie soll Kriminelle dingfest machen und die Bevölkerung schützen. Dann braucht sie sich auch nicht in einem Panzer zu verkriechen. Doch unsere Polizei tötet lieber, statt zu ermitteln. Die Polizeieinsätze in den favelas sind nichts anderes als wahllose außergerichtliche Hinrichtungen, nach dem Motto: Nur ein toter Verbrecher ist ein guter Verbrecher. Und wer doch ins Gefängnis kommt, wird dort gefoltert, und viele werden dort umgebracht.

FRAGE: Wie könnte man der Gewalt ein Ende bereiten?

MARCIA HONORATO: Das ist außerordentlich schwer, denn die Gewalt ist eine Folge staatlichen Versagens und der Tatsache, dass Drogenhandel und Todesschwadrone mittlerweile auch in den politischen Strukturen repräsentiert sind. Warum konnten die Mörder so offen agieren? Sie wissen, dass sie nicht belangt werden, denn sie haben mächtige Hintermänner in Politik und Gesellschaft. Abgeordnete, Bürgermeister, hohe Polizeioffiziere sind Teil dieser Strukturen. Die Straflosigkeit und die Korruption sind immens. Deswegen ist der einzige "Erfolg" der Polizei- und Militäraktionen in den favelas der, dass immer wieder unbeteiligte Menschen sterben müssen.

Interview: Dawid Danilo Bartelt
Pressesprecher von ai

Zur Polizeigewalt in Brasilien, speziell in den Armenvierteln, siehe die ai-Berichte "They come in shooting: Policing socially excluded communities" (AI-Index: AMR 19/025/2005) und "From burning buses to caveiroes: the search for human security" (AI-Index: AMR 19/010/2007).

Márcia Honorato (37) ist führendes Mitglied mehrerer Organisationen wie "Reage Baixada", "SOS Queimados", "Associaçao de Familiares e Amigos de Vitimas da Violência" (Verband der Angehörigen und Freunde von Gewaltopfern), die gegen die Gewalt in der Baixada Fluminense und für die Verwirklichung der Menschenrechte arbeiten. Nach langjähriger Tätigkeit in der Stadtverwaltung von Queimados arbeitet sie heute in einer Einrichtung für Kinder aus sozial schwachen Familien. Sie hat selbst zwei Kinder, die zwölf und 13 Jahre alt sind.


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Quelle:
amnesty journal, September 2007, S. 30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Oktober 2007