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SÜDAMERIKA/040: Kolumbien - Mord auf Bestellung (ai journal)


amnesty journal 04/05/2011 - Das Magazin für die Menschenrechte

Mord auf Bestellung

Von Christian Mihr


In Kolumbien werden junge Männer von Soldaten entführt, ermordet und anschließend als Guerillakämpfer ausgegeben - denn dafür gibt es Kopfgeld. Angehörige der Opfer fordern von der Regierung ein Ende der Straflosigkeit.


"Kurz zuvor hatten wir noch miteinander telefoniert. Jaime war fröhlich. Er erzählte mir von einem Lager, in das nun alle gemeinsam zur Arbeit fahren", erinnert sich Maria Ubilerma Sanabrina an den 8. Februar 2008 und hat große Mühe, ihre Tränen zu unterdrücken. An diesem Tag starb ihr 16-jähriger Sohn Jaime Estiven Valencia Sanabrina, wie man ihr sieben Monate später mitteilte. Er wurde von Soldaten des 15. Infanteriebataillons ermordet. Das erfuhr sie allerdings nur durch das mutige Engagement der "Madres de Soacha", bei denen sie aktiv ist. Soacha ist eine Stadt im Süden der kolumbianischen Hauptstadt Bogota.

Nach sieben Monaten der Ungewissheit klingelte ihr Telefon. Eine Gerichtsmedizinerin aus der nordkolumbianischen Stadt Ocaña verkündete ihr, Jaime sei tot. Die Leiche sei in einem Massengrab in Ocaña gefunden worden. Die Armee veröffentlichte gleichzeitig eine Mitteilung, Jaime und 16 weitere junge Männer aus Soacha seien im Februar 2008 von der Guerilla rekrutiert worden und im Kampf mit der Armee gefallen. Maria Ubilerma Sanabrina mochte das nicht glauben. Wie andere Mütter aus Soacha, deren Söhne von einem Tag auf den anderen verschwunden und deren Leichen in Ocaña aufgetaucht waren, erstattete sie Anzeige wegen Mordes.

Die Staatsanwaltschaft weigerte sich zunächst, Ermittlungen einzuleiten mit der Begründung, die Jugendlichen seien Guerillakämpfer gewesen. Doch Maria Ubilerma Sanabrina und ihre Mitstreiterinnen fanden sich damit nicht ab, sie schrieben Petitionen und wandten sich an Kolumbiens damaligen Präsidenten Álvaro Uribe Vélez, der unter dem mittlerweile gewachsenen Druck der Öffentlichkeit Aufklärung versprach. Schließlich gaben Soldaten des 15. Infanteriebataillons im Herbst 2008 zu, die jungen Männer aus Soacha kaltblütig ermordet zu haben - für ein Kopfgeld von umgerechnet etwa 80 Euro sowie zusätzlichen Urlaub.

Die jungen Männer aus Soacha waren zunächst mit dem Versprechen auf Arbeit nach Ocaña gelockt worden. Dort wurden sie von Soldaten in Guerillauniformen gesteckt und umgebracht. Im kolumbianischen Militärjargon werden solche außergerichtlichen Hinrichtungen von angeblich im Kampf getöteten Guerillakämpfern "falsos positivos", ("falsche Erfolgsmeldungen"), genannt. Kolumbiens damaliger Verteidigungsminister und heutiger Präsident Manuel Santos bezeichnete die Morde nach Bekanntwerden als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und versprach, die Täter strafrechtlich zu verfolgen.

Doch rückblickend dienten die Versprechungen von Santos vor allem dazu, die Öffentlichkeit zu beruhigen. Darauf weisen die Mütter Maria Ubilerma Sanabrina und Luz Marina Bernal eindringlich hin. Gemeinsam mit der Anwältin Nancy Sanchez von der Menschenrechtsorganisation Minga waren sie Ende vergangenen Jahres auf Einladung von Amnesty International in Belgien, Dänemark, Deutschland, Irland und Spanien zu Besuch. Auf Veranstaltungen und bei Gesprächsterminen in Ministerien erzählten sie vom Schicksal ihrer Söhne und warben um internationale Unterstützung für ihr Engagement.

Sie werfen dem heutigen Staatspräsidenten Santos vor, für den Mord an ihren Söhnen verantwortlich zu sein, weil er als Verteidigungsminister das Prämiensystem erfunden habe. Die Täter von damals sind bis heute nicht bestraft. Kolumbiens damaliger Heereschef, Mario Montoya Uribe, musste zwar zurücktreten, vertritt sein Land mittlerweile jedoch als Botschafter in der Dominikanischen Republik. Weitere 26 Angehörige des Militärs wurden zunächst festgenommen, kamen aber im Januar 2010 wieder auf freien Fuß, weil die 90-tägige Frist, die nach kolumbianischem Recht zur Erhebung einer Anklage notwendig ist, ausgelaufen war. Auch wenn es seit 2008 weniger illegale Hinrichtungen gibt, laufen derzeit immer noch mehr als 2.000 Ermittlungsverfahren zu illegalen Hinrichtungen. Seit 2002 sind nach Angaben von Minga insgesamt 3.183 Fälle illegaler Hinrichtungen durch kolumbianische Soldaten bekannt geworden, für die niemand bestraft wurde.

Daher sind Maria Ubilerma Sanabrina, Luz Marina Bernal und Nancy Sanchez pessimistisch, dass der seit August vergangenen Jahres amtierende Präsident Santos das Problem der Straflosigkeit löst - trotz seiner Ankündigung im Wahlkampf, ein Gesetz für die Leidtragenden staatlicher Gewalt zu verabschieden und den Rechtsstaat stärken zu wollen. Sie befürchten, dass die Regierung die Verantwortung auf einzelne Täter abschiebt, während die allgemeine Straflosigkeit weiterhin gesellschaftlich akzeptiert bleibt. Dennoch ist Santos rund ein halbes Jahr nach Amtsantritt beliebt. Fast 80 Prozent der Kolumbianer waren Ende vergangenen Jahres mit seiner Politik zufrieden, da er sich außenpolitisch versöhnlich gegenüber Venezuela zeigt und hohes Wirtschaftswachstum verspricht.

Amnesty International fordert, dass die Verantwortlichen für die Morde an den Söhnen der Mütter von Soacha belangt werden und der kolumbianische Staat unter Präsident Santos die Kultur der Straflosigkeit beendet. Wozu diese Kultur führt, erfahren die "Madres de Soacha" am eigenen Leib. In Kolumbien wird ihnen regelmäßig Mord angedroht, sollten sie nicht aufhören zu reden. Nach Berichten in kolumbianischen Medien über ihren Europabesuch wurden sie in Diskussionsforen der Tageszeitung "El Espectador" in anonymen Beiträgen unverhohlen mit dem Tod bedroht.

Maria Ubilerma Sanabrina lässt sich davon nicht beeindrucken. "Das, was meinem Sohn geschehen ist, darf sich niemals wiederholen. Dafür kämpfe ich."


Der Autor ist Journalist und Mitglied der Kolumbien-Ländergruppe von Amnesty.


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Quelle:
amnesty journal, April/Mai 2011, S. 48-49
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2011