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AKTION/162: Vertreibungsverbrechen - Offener Brief an Sabine Christiansen


Presseerklärung vom 5. März 2007

Offener Brief an Sabine Christiansen

Vertreibungsverbrechen - eine Chance vertan


Sehr geehrte Frau Christiansen,

die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat sich mehr als jede andere Menschenrechtsorganisation in Deutschland und Mitteleuropa in den fast 40 Jahren ihres Bestehens gegen gegenwärtige Verbrechen von Völkermord und Vertreibung - von Biafra bis Bosnien und Darfur - engagiert. Denn wir sind davon überzeugt, dass die Massenmorde der Vergangenheit uns bis heute verpflichten, Verfolgten zu Hilfe zu kommen. Auch deshalb hat die Gesellschaft für bedrohte Völker Verbrechen an Sinti und Roma, an Armeniern, an den Opfern des Stalinismus, an deutschen Vertriebenen immer wieder bekannt gemacht und sich für die Opfer und wenn nötig deren Nachkommen eingesetzt.

Sie haben leider eine Chance verpasst, eine solche aus der Vergangenheit erwachsene Verantwortung wahrzunehmen. Das Schicksal von über zwölf Millionen Vertriebenen, von den zwei Millionen Vertreibungsopfern, von den Hunderttausenden in die Sowjet-Union verschleppten jungen Frauen und Männern, von Hunderttausenden Zwangsarbeitern in den Arbeits- und Konzentrationslagern Polens und der damaligen CSSR und den bis zu zwei Millionen Vergewaltigungsopfern, hätte mehr erfordert als die Fortsetzung der sattsam bekannten "political Correctnes" und eine Moderatorin, die Ressentiments gegen Vertriebene tradiert.

Den Vertreibungsverbrechen ging der Holocaust, gingen die NS-Verbrechen voraus. Und trotzdem nannte Victor Gollancz, der berühmte britisch-jüdische Verleger und Humanist, die Vertreibungen der östlichen Deutschen eine "untilgbare Schande der Alliierten". Für Menschenrechtler ist die Massentötung, Vertreibung und Vergewaltigung von Menschen immer und überall ein unentschuldbares Verbrechen.

Sie aber haben eine lebendige, offene und kontroverse Diskussion schon damit verhindert, dass Sie die Sprecher des Zentrums gegen Vertreibungen und der Vertriebenen-Verbände ausgegrenzt haben. Ebenfalls nicht vertreten waren überlebende Opfer von Kriegsverbrechen, frühere Deportierte oder ehemalige Häftlinge von Konzentrations- oder Zwangsarbeitslagern. Schließlich ist es unverzeihlich, dass zwar ein Chefberater des umstrittenen chauvinistischen polnischen Präsidenten, aber kein polnischer Flüchtling aus dem ehemaligen Ostpolen und kein Vertreter einer der zahlreichen deutsch-polnischen Versöhnungsinitiativen von ostdeutschen Flüchtlingen und polnischen Neubürgern zu Worte kamen.

Sie leiteten ein mit den "Sudetendeutschen aus Schlesien" und verwechselten offensichtlich unter den Vertriebenen die 3,5 Millionen Sudetendeutschen mit den fünf Millionen Schlesiern. Kein Wunder, dass Ihre Fragen überwiegend ebenso fantasielos wie "dünn" ausfielen, Sorgen um Auseinandersetzungen über "Immobilien" in den Vordergrund rückten und das furchtbare Schicksal der Vertriebenen zeitweise zum Rand-Problem machten. Einer Vertriebenen aus dem Publikum, geflüchtet aus dem ostpreußischen Goldap schnitten Sie das Wort ab, als sie ansetzte über ihre Leiden in Danzig nach dem Überrollen durch die sowjetische Armee zu berichten. Dabei wäre es ebenfalls sinnvoll gewesen, über die Rechte in den Vertreibungsgebieten zurückgebliebener deutscher Minderheiten, über Menschen, die noch heute an den Vertreibungsverbrechen leiden, etwa die ostpreußischen Wolfskinder, zu sprechen. Eine verpasste Chance - schade.

Mit freundlichem Gruß,

Tilman Zülch


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Quelle:
Presseerklärung Göttingen/Berlin vom 5. März 2007
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen,
Tel.: 0551/49906-0, Fax: 0551/58028
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Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2007