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EUROPA/420: "Die Universität Sarajevo während der 1479 Tage der Belagerung"


Presseerklärung vom 19. Dezember 2007

1479 Tage unter Belagerung:

Fast die Hälfte der Angestellten der Universität Sarajevo hat ihrer Hochschule den Rücken gekehrt


Rund die Hälfte der Professoren, Dozenten und Angestellten der Universität Sarajevo hat der Hochschule zu Beginn des Bosnienkrieges im April 1992 den Rücken gekehrt. Die Mehrheit von ihnen war serbischer Nationalität. Viele Angehörige der Hochschule sind aus der Stadt geflüchtet, um sich und ihre Familien zu retten. Ein größerer Teil hat sich jedoch den serbischen Belagerern angeschlossen oder die Belagerung unterstützt. Zu diesem ernüchternden Ergebnis kommt die Studie "Die Universität Sarajevo während der 1479 Tage der Belagerung", die Wissenschaftler der Hochschule erarbeitet haben und die der Öffentlichkeit am Montag und Dienstag in der bosnischen Hauptstadt vorgestellt wurde.

Trotz des ständigen Granatbeschusses, trotz der Heckenschützen, trotz Hunger und Kälte wurde der Lehrbetrieb von der anderen Hälfte der Professoren unter Einsatz ihres Lebens jedoch aufrechterhalten, würdigte der Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Tilman Zülch, als einer der beiden Gastredner den beispielhaften Mut der Hochschullehrer während des Festaktes am Montagabend. Prof. Elihu Richter aus Jerusalem rief dazu auf, Textbeiträge aus Schulbüchern zu entfernen, die Hass, Ressentiments und Vorurteile gegenüber bestimmten Volksgruppen schüren.

2450 Fachkräften des Klinischen Zentrums von Sarajevo wird in der Studie vorgeworfen, mit ihrer Flucht ihrer ärztlichen Pflicht nicht nachgekommen zu sein und Verwundete, Kranke und Schwangere im Stich gelassen zu haben. Die totale Zerstörung der Entbindungsstation, der Kinderklinik und der Kindergärten Sarajevos offenbare die Strategie der serbischen Belagerer, die Zukunft der Stadt vernichten zu wollen. Die Verwüstung der Nationalbibliothek und des Orientalischen Institutes habe zum Ziel gehabt, die Wurzeln der Bosniaken, ihre jahrhundertealte Kultur, Tradition und Identität auszulöschen.

In seiner Rede erinnerte Zülch an die furchtbaren Jahre, in denen Sarajevo von serbischen Truppen von der Außenwelt abgeschnitten war, und in denen nach Angaben der Universität über 10.000 Menschen durch den Krieg den Tod fanden. Europa habe der Einkesselung und Beschießung Sarajevos sowie der Hungerblockade jahrelang tatenlos zugesehen. "Durch die Ablehnung einer Intervention zur Beendigung des Genozids tragen die europäischen Staaten, aber auch Deutschlands Parteien und die Regierung Kohl/Kinkel Mitverantwortung für das Leiden in Sarajevo. Die westliche Welt ist dafür verantwortlich, dass in Bosnien heute ein ungerechter Frieden herrscht, in dem die Täter belohnt und die Opfer wieder bestraft werden", sagte er.


Zülch wurde für seinen Engagement während des Bosnien-Krieges mit dem Silberorden des Wappens des Präsidiums der Republik Bosnien und Herzegowina (1996), dem Srebrenica Award against Genocide" der drei Frauen- und Mütterverbände (2006) sowie dem Menschenrechtspreis "Sloboda" (Freiheit) des Antikriegszentrums Sarajevo (2006) ausgezeichnet.


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Quelle:
Presseerklärung Sarajevo/Göttingen, 19. Dezember 2007
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Dezember 2007