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EUROPA/446: Radovan Karadzic wurde festgenommen, doch sein Werk in Dayton zementiert


Presseerklärung vom 22. Juli 2008

Radovan Karadzic wurde festgenommen, doch sein Werk, die "ethnische Säuberung", der Genozid und die Vertreibung wurden in Dayton bestätigt und zementiert!


Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) ist für die bosnischen Opfer des Genozids seit 1992 kontinuierlich eingetreten. Sie hat die Verbrechen dokumentiert. Gemeinsam mit Zehntausenden bosnischen Flüchtlingen und Exilbosniern hat sie sich gegen das internationale Schweigen gewehrt. Entgegen dem Plädoyer zahlreicher jüdischer Überlebender des Holocaust haben Westeuropa und die USA dem Verbrechen von Radovan Karadzic, Ratko Mladic und Slobodan Milosevic vier jahrelang tatenlos zugesehen, statt den Genozid sofort zu beenden. "Radovan Karadzic wurde festgenommen, doch sein Werk, die "ethnische Säuberung", der Genozid und die Vertreibung wurden in Dayton durch die Teilung Bosniens bestätigt und zementiert", erklärte der Präsident der GfbV-International Tilman Zülch.

Hunderttausende konnten bis heute nicht zurückkehren. Eine autoritäre dem großserbischen Modell verpflichtete Teilrepublik ("Republika Srpska") existiert auf der Hälfte des bosnischen Territoriums. Nur 8 % der etwa 60 % vor dem Krieg dort ansässigen nichtserbischen Bevölkerung konnte zurückkehren. Eine echte Versöhnung steht aus, obwohl auch Zehntausende serbische Bosnier unter Führung des Serbischen Bürgerrates für das Ziel eines gemeinsamen Bosniens gekämpft und gelitten haben. Seit 500 Jahren ist Bosnien Herzegowina multiethnisches, multireligiöses und multikulturelles Land. Die beiden Teilungsstaaten, "Republika Sprska und "bosnisch-kroatische Föderation" müssen aufgelöst und die gemeinsame Republik wiederhergestellt werden. Die Gesellschaft für bedrohte Völker fordert weiter die Verhaftung des dritten Hauptkriegsverbrechers Ratko Mladic.

Dem Verbrechen in Bosnien-Herzegowina sind 100.000-150.000 Zivilisten zum Opfer gefallen. Angesichts der Kriegsverbrechen in Bosnien erklärte Marek Edelmann, letzter überlebender Kommandeur der Widerstandskämpfer des Warschauer Ghettos: "Europa hat aus dem Holocaust nichts gelernt, Bosnien ist ein posthumer Sieg für Hitler". Simon Wiesenthal fühlte sich "an Bestandteile des Holocaust" erinnert. Beide haben die GfbV-Arbeit begleitet und selbstlos unterstützt. Die Opfer des Genozids in Bosnien waren zu über 90% Bosniaken (Muslime), aber ebenso unvergessen sind die Opfer der kroatischen, serbischen, jüdischen und Roma-Nationalitäten Bosniens.

Nachstehend einige Fakten zum Genozid in Bosnien-Herzegowina:

1. Errichtung von über hundert Konzentrations- und Internierungslagern und Inhaftierung von über 200.000 Zivilisten.

2. Ermordung von bis zu 30.000 Häftlingen in Lagern wie Omarska, Manjaca, Keraterm, Trnopolje, Luka Brcko, Susica, Foca u.a.

3. Systematische Verhaftung und Ermordung von Angehörigen der akademischen und politischen Eliten.

4. Flucht und Vertreibung von etwa 2,2 Millionen Bosniern und ihre Zerstreuung über vier Erdteile. Tausende, von keiner Institution gezählte und nicht in die Statistiken eingegangene Todesopfer während und nach den Deportationen unter Kindern, Alten, Kranken und Verwundeten.

5. Einkesselung, Aushungerung, Beschießung und teilweise Liquidierung von 500.000 Bosniern, in so genannten UN-Schutzzonen bis zu vier Jahre (Sarajevo, Gorazde, Srebrenica, Zepa, Cerska und Bihac).

6. Tötung von über 11.000 Einwohnern der Stadt Sarajevo, darunter 1.500 Kindern.

7. Massaker und Massenerschießungen in zahlreichen Gemeinden und Städten, Nord-, West- und Ostbosniens (Posavina, Raum Prijedor und Podrinje).

8. Planmäßige Zerstörung Hunderter Dörfer und Stadtteile.

9. Totale Zerstörung der materiellen islamischen und weitgehend auch der katholischen Kultur, darunter etwa 1.300 Moscheen und Medresen und etwa 500 katholische Kirchen.

10. Suche nach immer noch etwa 15.000 Vermissten und deren notwendige Exhumierung und Identifizierung.

11. Geiselnahme und Missbrauch von 284 UN-Soldaten als menschliche Schutzschilder für Karadzics Soldaten.

12. Vergewaltigungslager in Bosnien-Herzegowina:
Etwa 20.000 überwiegend bosnisch muslimische Frauen wurden zu Opfern systematischer Vergewaltigungen durch serbische Truppen. Zahlreiche Vergewaltigungslager wurden vor allem in Ostbosnien, in Städten wie Foca, Rogatica und Visegrad eingerichtet. Auch in vielen Konzentrationslagern wurden Frauen gefangen gehalten und monatelang misshandelt, gequält und vergewaltigt. Die Vergewaltigungen wurden planmäßig und gezielt eingesetzt, um die Familien der Bosniaken zu zerstören, die Frauen und ihre Angehörigen zu demütigen und die Vertreibungen zu beschleunigen. Heute sind die Opfer dieser Verbrechen schwer traumatisiert, meist verarmt und können in ihre ehemaligen Wohnorte in der so genannten "Republika Srpska" nicht zurückkehren. Ihre früheren Peiniger leben dort bis heute.

13. Genozidverbrechen in Srebrenica:
Nach einer dreieinhalbjährigen Besatzung fiel im Juli 1995 die eingekesselte ostbosnische Enklave und so genannte UN-Schutzzone nach einer serbischen Großoffensive in die Hände des General Ratko Mladic. Nach seinem Befehl sollten alle Männer und männlichen Jugendlichen erschossen und alle Frauen, Kinder und Alten mit LKWs und Bussen deportiert werden. Trotz seines UN-Status als Schutzzone und der vollkommenen Entwaffnung seiner Soldaten, wurde der Distrikt von den stationierten niederländischen Soldaten und von der UN aufgegeben. Sie ließen es zu, dass die serbische Armee zuerst Männer und männliche Jugendliche von den Frauen und Kindern trennte und sie anschließend ermordete. Das jüngste Opfer war 12, das älteste 84 Jahre alt. Bis heute hat man etwa 6.500 Ermordete aus Massengräbern exhumiert. Davon wurden bis jetzt 4.000 identifiziert und bisher 3.214 von ihnen auf dem Friedhof im Gedenkzentrum Potocari bei Srebrenica begraben. Das ICTY in Den Haag sprach 2001 das erste Mal im Urteil gegen General Radoslav Krstic vom in Srebrenica begangenen Genozid. Auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag (ICJ) bestätigte im Rahmen der Klage Bosnien-Herzegowinas gegen Serbien im Jahre 2007 den in Srebrenica begangenen Genozid und machte dafür die Armee und Polizei der "Republika Srpska" verantwortlich. Unter den Ermordeten befanden sich auch 571 Frauen.

14. Genozidverbrechen im Bezirk Prijedor:
Am 30.04.1992 wurde der im Nordwesten Bosniens gelegene Distrikt Prijedor von serbischen Streitkräften und Paramilitärs eingenommen. Zuerst wurden die Angehörigen der intellektuellen, administrativen und industriellen Elite, mehrheitlich Bosniaken, aber auch Kroaten planmäßig und systematisch in ihren Wohnungen, auf der Strasse sowie an ihren Arbeitsplätzen verhaftet und in die schon zu Konzentrationslagern umfunktionierten Fabrikhallen in der Nähe von Prijedor gebracht. Nach ihrer Liquidierung folgte die Inhaftierung der noch nicht geflüchteten muslimischen und katholischen Männer aus Prijedor und seiner Umgebung. Die berüchtigtsten Konzentrationslager nach Nazi-Vorbild, so der jüdisch-amerikanische Pulitzer-Preisträger Roy Gutman, waren in der Umgebung von Prijedor die KZs Omarska, Keraterm, Manjaca und Trnopolje. Vor allem in Omarska, das als Todeslager galt, wurden die Gefangenen täglich und besonders brutal ausgehungert, schwer misshandelt, geschlagen und ermordet. In Prijedor sollen etwa 10.000 Bosniaken und Kroaten liquidiert worden sein. Noch immer wird nach 3.227 Vermissten gesucht, die man in Massengräbern in Prijedor und seiner Umgebung vermutet.

Zur Arbeit der Gesellschaft für bedrohte Völker International für Bosnien:

- 1991/1992 Dokumentation serbischer Kriegsverbrechen in Ostslawonien mit Mahnwachen und humanitären Initiativen

- 1992 der UN-Untersuchungskommission von Cherif Bassiouni, und später dem Jugoslawien-Tribunal Listen von Namen von etwa 25.000 Ermordeten und 1.300 mutmaßlichen Kriegsverbrechern in New York übergeben.

- 1992-1995 den nationalen Medien in Nordamerika und Westeuropa überlebende Augenzeugen von Massakern, Deportationen, aus Konzentrations- und Vergewaltigungslagern sowie Bombardements vermittelt

- September 1992 Einberufung eines internationalen "Hearing" in Frankfurt: "Ethnische Säuberung" und Massenvertreibung in Bosnien und Kroatien mit fünf Völkerrechtlern - mit den Funkamateuren der eingeschlossenen Enklaven von Gorazde, Bihac und Zepa jahrelang Verbindung gehalten und für sie internationale Telefonkonferenzen organisiert

- Im Frühjahr 1993 Teilnahme am Bosnien-Kongress in New York, initiiert von Simon Wiesenthal

- Juni 1993 Mahnwache vor dem ehemaligen KZ-Dachau, unterstützt von Simon Wiesenthal während des Deutschen Evangelischen Kirchentages: "Juden 1933 - Bosnische Moslems 1993 - EKD neutral!"

- auf der ersten Menschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen im Juni 1993 in Wien gemeinsam mit bosnischen Flüchtlingen ein symbolisches Konzentrationslager errichtet;

- Im Juli 1993 Verhaftung von Zülch und drei weiteren GfbV-Mitgliedern auf dem "Jelacic-Platz" in Zagreb und im September 1993 Besetzung der kroatischen Botschaft in Bonn, aus Protest gegen den Einmarsch kroatischer Truppen in Bosnien

- Dezember 1993 Organisierung eines Hungerstreiks von sechs bosnischen Frauen, ehemaligen Häftlingen des serbischen Konzentrationslagers "Omarska"

- Im Februar 1994 Besetzung des griechischen Standes auf der Tourismusmesse in Berlin gegen das Engagement Athens für Karadzic und Milosevic

- 1993-1996 Koordination der Arbeit von über 100 bosnischen Vereinen der Flüchtlinge und Gastarbeiter

- Mit der größten Demonstration außerhalb Sarajevos im April 1994 in Bonn mit 30 000 Teilnehmern gegen den Genozid protestiert; mit dem später ermordeten bosnischen Außenminister Irfan Ljubijankic und Christian Schwarz-Schilling

- Den einzigen Internationalen Kongress über den Genozid im August 1995 in Bonn mit 150 Experten aus vier Erdteilen organisiert (Schirmherrschaft: Simon Wiesenthal, Rita Süssmuth, Haris Silajdzic)

- Das erste Buch über den Genozid in Bosnien im Herbst 1992 publiziert;

- In der Gedenkstätte des KZ Buchenwald gemeinsam mit Überlebenden der serbischen Konzentrationslager und dem letzten Kommandeur der Freiheitskämpfer des Warschauer Ghettos, Marek Edelman an die Weltöffentlichkeit appelliert (14. November 1993)

- 18. Juli 1995 Errichtung eines Gräberfeldes vor der Villa von Bundeskanzler Kohl, sieben Tage nach Beginn des Massenmordes in Srebrenica

- 27. Juli 1995 "Besetzung" der Gedenkstätte Buchenwald mit überlebenden bosnischen KZHäftlingen

- Die Verhaftung von serbischen Kriegsverbrechern in Deutschland initiiert; - August 1995 "Den Opfern eine Stimme geben" - GfbV fordert vergeblich bosnische Radiosendungen des WDR für 360.000 Flüchtlinge in Deutschland

- im August 1995, drei Tage nach dem kroatischen Einmarsch in der Krajina, die Vertreibung kroatischer Serben vor Ort dokumentiert;

- 1996 gemeinsam mit den Flüchtlingen aus Prijedor und 20 internationalen Journalisten einen Rückkehrversuch nach Prijedor organisiert;

- Den großen nationalen Zeitungen und Fernsehsendern der westlichen Welt vier Jahre lang Gespräche mit überlebende Augenzeugen von Kriegsverbrechen vermittelt;

- seit 1996 die Verbände der Genozidopfer, der Minderheiten, der Häftlinge der Vergewaltigungslager, der Rückkehrer nach Srebrenica durch unsere Büros in Sarajevo und Srebrenica durch Vermittlung von Kontakten, Beratung, Vermittlung von logistischer und humanitärer Hilfe unterstützt und Treffen und Begegnungen von Friedensinitiativen gefördert.

Seit 1996 ist die GfbV mit zwei Büros in Sarajevo und Srebrenica präsent. Der nationalen Sektion gehört ein Beirat von Mitgliedern der Opferverbände sowie Angehörige aller ethnischen und religiösen Gemeinschaften Bosnien Herzegowinas an. Im Göttinger Bundesbüro der GfbV besteht bis heute ein Südosteuropa-Referat. Seit 1996 Unterstützung der Rückkehrer in Srebrenica und die 52 umliegenden Dörfer der ehemaligen UN-Schutzzone, Mobilisierung von Agrar-Hilfe für die zurückgekehrten Bauern, sowie enge Zusammenarbeit mit den bosnischen Opferverbänden.


Tilman Zülch, Präsident der GfbV-International, Herausgeber des ersten deutschsprachigen Buches "Ethnische Säuberung - Völkermord für Großserbien" (Luchterhand 1992, dessen Texte Christian Schwarz-Schilling zum Anlass nahm aus der Bundesregierung auszutreten) und "Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit" über die Agitation des Schriftstellers Peter Handke für Milosevic und Karadzic (erschienen 1996 bei Steidl) sowie weitere Dokumentationen über den Krieg und Genozid in Bosnien. Zülch wurde mit der Silbernen Lilie des bosnischen Staatspräsidiums (1999) ausgezeichnet, erhielt den "Srebrenica Award Against Genocide" der vier Mütterbewegungen von Srebrenica (2006) und den Preis "Sloboda" (Freiheit) des Antikriegszentrums Sarajevo (2007). Er ist außerdem Ehrenmitglied des Verbandes der weiblichen Lagerhäftlinge in Sarajevo.


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Quelle:
Presseerklärung Göttingen, Sarajevo, Srebrenica, 22. Juli 2008
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen,
Tel.: 0551/49906-0, Fax: 0551/58028
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2008