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MELDUNG/009: Wir gratulieren dem Philosophen Ernst Tugendhat zum 80. Geburtstag


Presseerklärung vom 8. März 2010

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) gratuliert Ernst Tugendhat zum 80. Geburtstag


Wir gratulieren unserem Schirmherrn, dem Philosophen und Humanisten Ernst Tugendhat, zum 80. Geburtstag am heutigen Montag. Sein konsequentes Engagement für verfolgte Minderheiten hat unserer Menschenrechtsarbeit immer wieder geholfen und Wege geebnet, schrieb der GfbV-Bundesvorsitzende Tilman Zülch.

Ernst Tugendhat, geboren am 8. März 1930 in Brünn als Sohn deutsch-jüdischer Eltern, flüchtete mit seiner Familie 1938 in die Schweiz und von dort 1941 weiter nach Venezuela. Er studierte in den USA und in Deutschland und lehrte später in Heidelberg, Berlin und Tübingen. Gastprofessuren führten ihn nach Santiago, Konstanz, Prag und Porto Alegre.

Anlässlich des vierzigsten Jubiläums der GfbV sprach Ernst Tugendhat im September 2008 von der besonderen moralischen Motivation, die ein Engagement gegen die Unterdrückung von Minderheiten erfordert: "Das Unrecht, das die GfbV zu ihrem Anliegen gemacht hat, die Entrechtung und Verfolgung der Minderheiten, ist zwar hauptsächlich von Regierungen zu verantworten, aber es durchdringt auch die Gesellschaft wegen der unglückseligen Neigung aller menschlichen Gruppierungen, sich selbst für besser zu halten und andere abzuwerten. Wer Unrecht bloß stellt, macht sich unglaubhaft, wenn er nicht Unparteilichkeit anstrebt. Das ist es, das von der GfbV immer wieder so formuliert wird: Auf keinem Auge blind."

Die GfbV möchte hier aus zwei seinen Reden zitieren, gehalten in Bergen-Belsen 1984 vor 500 yezidischen Flüchtlingen, Kindern, Frauen und Männern aus der Türkei sowie aus seinem Vorwort, vorangestellt 1979 der ersten deutschsprachigen Dokumentation zum Völkermord an Sinti und Roma im Dritten Reich. Beide Initiativen, nicht zuletzt auch dank Ernst Tugendhat, hatten Erfolg: Die yezidischen Flüchtlinge erhielten damals kollektives Asyl. 1980/1981 entschuldigte sich die Bundesregierung öffentlich für den Genozid, begann eine erste Wiedergutmachungsinitiative, bürgerte deutsche Sinti aus den Ostgebieten wieder ein und finanzierte selbstverwaltete Sinti- und Roma-Beratungszentren. Auch der Eigenname Sinti und Roma setzte sich von da an durch.

"Ich spreche hier als Jude, als Angehöriger des Volkes, das in besonders furchtbarer Weise unter der Verfolgung der Nazis zu leiden hatte, die schließlich in der Vernichtung in den Konzentrationslagern endete; eines davon war Bergen-Belsen. Meiner Familie ist es damals geglückt, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, und so gehöre ich zu den Überlebenden. Ich habe aber als acht- bis elfjähriges Kind das erlebt, was die Yezidi jetzt erleben, die Angst, nirgends aufgenommen zu werden. Diese Angst, das weiß ich aus eigenem Erleben, ist Todesangst. Die erste Situation in der Emigration meiner Familie war die Schweiz. Dass wir aus der Schweiz nicht wieder abgeschoben wurden, verdanken wir nur dem Zufall, dass mein Vater einen Beruf hatte, der damals in der Schweiz gebraucht wurde. Aber viele andere Juden wurden von den Schweizer Behörden mitleidlos nach Deutschland zurückgeschickt, und das aus genau denselben egoistischen Motiven, mit denen die Yezidi und so viele andere heute aus der Bundesrepublik abgeschoben werden sollen." (Ernst Tugendhat in "Die kurdischen Yezidi", Vorwort, Rede in Bergen-Belsen am 18.Mai 1984, pogrom Taschenbücher 1011, Oktober 1984)

"Die Juden eigneten sich auch deswegen in besonderer Weise als Zielscheibe dieser Negativprojektion, weil sie nicht Minderheit waren. Aus demselben Grund stehen aber auch die Zigeuner, und diese noch heute, im Vergleich zu anderen nationalen Minderheiten im Zentrum der Vorurteile. Im Dritten Reich galten wir Juden als Untermenschen. Die Zigeuner werden noch heute als Untermenschen zwar nicht offen bezeichnet, aber empfunden und behandelt." ( Ernst Tugendhat in "In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt", Hrsg. Von Tilman Zülch für die Gesellschaft für bedrohte Völker mit einem Vorwort von E. Tugendhat, rororo aktuell, Mai 1979)


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Quelle:
Presseerklärung Göttingen, den 8. März 2010
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen,
Tel.: 0551/49906-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2010