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INTERNATIONAL/086: Soziale Bewegungen für eine "andere" Demokratie (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012

Soziale Bewegungen für eine "andere" Demokratie

Von Donatella Della Porta


Der Aufstand der Zivilgesellschaft begann mit dem Arabischen Frühling. Dies könnte man als weiteren Beleg dafür nehmen, dass die Demokratie eben doch die "einzige Möglichkeit" ist. Den Arabischen Frühling aber als bloße Forderung nach repräsentativen Institutionen zu interpretieren, wäre irreführend. Vielmehr geht es den aktuellen Bewegungen ganz konkret um eine partizipative und deliberative Form von Demokratie.


Die Resultate der Protestwellen in der arabischen Welt trugen zweifellos dazu bei, die Idee vom "Kampf der Kulturen", die auf der Inkompatibilität von Islam und Demokratie basiert, in Frage zu stellen. Lösten sie doch Demokratisierungsprozesse in einer Region aus, die traditionell als von unverwüstlichen autoritären Regimes dominiert galt. Außerdem haben sie gezeigt, dass sich die Bürger selbst in einer brutalen Diktatur mobilisieren - und dies nicht nur aus materiellen Gründen. Allerdings forderten die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz einerseits zwar Freiheit, sprachen sich aber zugleich auch für eine partizipative und deliberative und nicht etwa für eine liberale repräsentative Demokratie aus.


Für mehr Mitspracherecht der Bürger

Nicht ohne Zufall wurden die Ideen des Arabischen Frühlings, während sie sich vom Mittleren Osten und von Nordafrika aus nach Europa verbreiteten, von vielen sozialen Bewegungen adaptiert, die tatsächlich die repräsentative Demokratie in Frage stellten.

Direkt inspiriert vom Arabischen Frühling besetzten zuerst die Spanier und dann die griechischen indignados Hunderte von Plätzen. Sie protestierten nicht nur gegen die Sparmaßnahmen in ihren jeweiligen Ländern, sie forderten auch eine andere Form der Demokratie. Die Sparmaßnahmen in Island, Irland, Griechenland, Portugal und Spanien riefen langanhaltende Massenproteste hervor.

Diese Proteste richteten sich zum Teil in traditioneller Form - durch Generalstreiks und Gewerkschaftsdemonstrationen - gegen die drastischen Einschnitte bei Sozial- und Arbeitsrechten. Doch es gab auch Proteste, bei denen die Demonstranten explizit die Demokratie in ihrer heutigen Form ins Visier nahmen und die Schaffung möglicher Alternativen verlangten. "Democracia real ya!" war der Hauptslogan der spanischen indignados-Demonstranten, die ab dem 15. Mai auf der Plaza del Sol in Madrid, der Plaça de Catalunya in Barcelona und Hunderten weiteren Plätzen im ganzen Land protestierten und nicht nur eine neue Sozial- und Wirtschaftspolitik, sondern auch ein größeres Mitspracherecht der Bürger bei der Ausgestaltung und Umsetzung dieser Politik forderten.

Zuvor hatten sich zwischen Ende 2008 und Anfang 2009 Bürgerinitiativen in Island versammelt, die den Rücktritt der Regierung und ihrer Delegierten in der Zentralbank und Finanzbehörde forderten; in Portugal fand im März 2011 eine über Facebook organisierte Demonstration statt, die mehr als 200.000 junge Portugiesen auf die Straßen brachte. Die indignados-Proteste wiederum inspirierten zu ähnlichen Aktionen in Griechenland, wo sich der Widerstand gegen die Sparmaßnahmen der Regierung bereits in teilweise gewalttätiger Form formiert hatte.


Protestereignisse und Demokratieexperiment

Auch als in den USA die Occupy Wall Street-Demonstrationen begannen und sich schnell in Tausende amerikanische Städte verbreiteten, äußerten die Protestierenden nicht nur ihre Sorgen angesichts der Finanzkrise, sondern vielmehr auch über das Versagen der demokratisch legitimierten Regierungen, die Erwartungen ihrer Bürger zu erfüllen. Selbst zentrale Werte der Demokratie wurden in Zweifel gezogen. So wurden am 15. Oktober 2011 in 951 Städten und 82 Ländern Protestkundgebungen registriert, deren Teilnehmer nicht nur die Entscheidungen hinsichtlich der Wirtschafts- und Sozialpolitik kritisierten, sondern vielmehr den ihrer Ansicht nach zunehmenden Verfall der repräsentativen liberalen Demokratie anprangerten. Die Demonstrationen waren nicht nur reine Protestereignisse, sondern zugleich selbst auch Experimente mit partizipativen und deliberativen Formen der Demokratie. Auch das Wesen der Demokratie an sich wurde dabei in Frage gestellt.

Die Krise in Europa ist zweifellos nicht nur eine Finanzkrise, sondern auch eine Krise der Demokratie. Der Neoliberalismus war und ist - wie Colin Crouch es sehr anschaulich in seinem Buch Post-Democracy demonstriert - eine politische Doktrin mit minimalistischen Vorstellungen von Öffentlichkeit und Demokratie. Um den Markt wieder ins Gleichgewicht zu bringen, sieht er nicht nur die Einschränkung politischer Interventionen (und eine konsequente Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung) vor, sondern erlaubt auch eine größere Einflussnahme durch Lobbys und starke Interessensgruppen. Darüber hinaus weist er ein elitäres Konzept der bürgerlichen Mitbestimmung auf: Die Bürger dürfen ausschließlich durch Wahlen am politischen Leben teilhaben und können damit nur einen zeitlich begrenzten und potenziell verfälschten Einfluss auf das Geschehen in ihrem Land ausüben.

Die Herausforderungen für das liberale Konzept und die liberale Umsetzung von Demokratie werden aktuell begleitet von einem (Wieder)Auftreten diverser demokratischer Strömungen, die sich in Europa gegen eine neoliberale Lösung der Finanzkrise stellen. Ihnen wird umgekehrt vorgeworfen, den gesamtwirtschaftlichen Konsum abzubremsen und damit jegliche Entwicklungsperspektiven, gleich ob nachhaltig oder nicht, zunichte zu machen.


Demokratie der Bürger statt Demokratie der Experten

Diese Bewegungen, denen unterstellt wird, unpolitisch und populistisch zu sein, haben die von Claus Offe definierte "Meta-Frage" der Demokratie in den Mittelpunkt ihres Handelns gestellt. Der Demokratie-Diskurs der indignados ist souverän und komplex. Er greift prinzipielle Kritikpunkte bezüglich des qualitativen Verfalls der repräsentativen Demokratien auf, bezieht aber auch Lösungsvorschläge mit ein, die nicht auf den repräsentativen Merkmalen der Demokratie basieren, sondern von anderen demokratischen Werten inspiriert sind und auf Wahlverantwortlichkeit setzen. Diese Konzepte finden Gefallen an (traditionelleren) partizipativen Visionen, aber auch an deliberativen Prinzipien, denen zufolge es von zentraler Bedeutung ist, öffentliche Räume - egalitär, aber pluralistisch - zu schaffen.

Vor allem kritisiert der indignados-Diskurs die immer deutlicher werdenden Unzulänglichkeiten der repräsentativen Demokratien, wodurch das sinkende Vertrauen in die Fähigkeiten der Parteien widergespiegelt wird, die neu aufkommenden Anforderungen an das politische System zu kanalisieren. Zunächst in Island, und umso mehr in Spanien und Portugal, richtete sich die Entrüstung gegen die Korruption der politischen Klasse. Diese Korruption besteht nicht nur aus konkreter Bestechung - was den Ruf nach Entlassung korrupter Funktionäre auslöste - sondern auch aus den Privilegien, die Lobbyisten, öffentlichen Institutionen und Vertretern der Wirtschafts- und Finanzbranche eingeräumt werden. Diese Korruption der Demokratie wird größtenteils für die Wirtschaftskrise und die Unfähigkeit, diese zu bewältigen, verantwortlich gemacht.


Diskursive Demokratie mit hoher Wertebindung

Der linke Flügel (der unter "Anti-Politik" eher die Kritik an der Korruption und nicht die Korruption selbst versteht) reagiert teilweise verärgert über die Bedeutung, die die Verurteilung der Korruption in weiten Teilen der Bewegung einnimmt. Der Slogan "Sie repräsentieren uns nicht" ist gleichwohl auch mit einer tieferen Kritik an der repräsentativen Demokratie und an dem Versagen der gewählten Politiker verbunden. Letztere wiederum zeigen sich oft einer Meinung hinsichtlich der oft proklamierten "Alternativlosigkeit".

Die Protestierenden kritisieren die repräsentative Demokratie auch dafür, dass sie eine Zweckentfremdung der Demokratie durch die Finanzwirtschaft, aber auch durch internationale Organisationen, allen voran IWF und EU, zugelassen hat. Stabilitäts- und Euro-Rettungs-Pakte im Gegenzug für Darlehen sind in ihren Augen antikonstitutionelle Formen von Erpressung, die die Bürger ihrer Souveränität berauben.

Doch es gibt noch ein weiteres demokratisches Konzept, welches von der normativen Theorie kürzlich als "deliberative Demokratie" bezeichnet und durch das Global Justice Movement in den sozialen Foren als Konsensdemokratie verbreitet wurde. Dieses Konzept wird von eben jenen indignados aufgezeigt, die die Plätze belagern und diese in öffentliche Sphären für "normale Bürger" verwandeln. Es ist der Versuch, eine diskursive Demokratie mit hoher Wertebindung zu etablieren, die das Recht aller - nicht nur der Delegierten und Experten - anerkennt, sich in einem öffentlichen und pluralistischen Raum zu äußern: offen für Diskussionen und Beratungen, von allgemeinen Beschwerden über konkrete Lösungsvorschläge für spezifische Probleme, bis hin zur Ausarbeitung von Vorschlägen zum Gemeinwohl und der Bildung kollektiver Solidarität und neuer Identitäten.

Dieser Prototyp der deliberativen Demokratie folgt einer Vision, die sich grundsätzlich von den Prinzipien einer repräsentativen, auf Mehrheitsentscheidungen beruhenden Demokratie unterscheidet. Die Qualität der Demokratie wird daran gemessen, inwiefern die Möglichkeit besteht, Ideen in offenen und öffentlichen Arenen zu diskutieren, wobei die Bürgerinnen und Bürger eine aktive Rolle bei der Identifizierung von Problemen, aber auch der Ausarbeitung möglicher Lösungen spielen. Die deliberative Demokratie ist das Gegenteil einer Demokratie der Experten, die gewählt wurden, um zu regieren, und nicht gestört werden dürfen - jedenfalls bis zur nächsten Wahl.

(Aus dem Englischen von Claudia Riefert)


Donatella Della Porta ist Professorin für Soziologie am European University Institute/Florenz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a.: Soziale Bewegungen, partizipative Demokratie und politische Korruption. Gerade erscheint bei Cambridge University Press: Meeting Democracy (zus. mit Dieter Rucht herausgegeben).
(Donatella.DellaPorta@EUI.eu


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012, S. 60-62
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Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2012