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MUMIA/775: Der »Weg in die Freiheit« (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 05.09.2016

Der »Weg in die Freiheit«

Durch eine Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofes in den USA könnte Mumia Abu-Jamals Fall neu aufgerollt werden

Von Jürgen Heiser


Die Verteidigung des US-Bürgerrechtlers Mumia Abu-Jamal will ihrem Mandanten den »Weg in die Freiheit« ebnen auf der Basis einer neuen rechtlichen Situation. Das teilte Abu-Jamals langjährige Haftanwältin Rachel Wolkenstein noch vor dem Wochenende in einer Erklärung mit. Darin heißt es, dass die Anwältinnen Judith Ritter und Christina Swarns am 7. August »neue rechtliche Schritte« vor Pennsylvanias Gerichten eingeleitet hätten, »um das Urteil gegen ihn aufzuheben und seine Freilassung zu erreichen«.

Die neue Initiative stützt sich auf eine im Juni 2016 ergangene Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA im Fall »Williams gegen Pennsylvania«. Dabei geht es um Terrance »Terry« Wil­liams, der 1986 wegen des Vorwurfs zum Tode verurteilt worden war, als 18jähriger seinen Peiniger erschlagen zu haben, der ihn seit seinem 13. Lebensjahr sexuell missbraucht hatte (jW berichtete). Das Todesurteil gegen Williams hatte Ankläger Ronald D. Castille beantragt, der später auch mit Williams' Berufungsverfahren befasst war, allerdings als Richter des Obersten Gerichtshofs Pennsylvanias. Castille hätte sich nach Ansicht der höchsten US-Richter für befangen erklären müssen. Denn wenn ein Richter im Berufungsverfahren einer Strafsache teilnimmt, in der er zuvor »als Staatsanwalt maßgeblich an wichtigen Entscheidungen über den Angeklagten beteiligt war«, dann stelle das »einen Verstoß gegen ein ordnungsgemäßes Verfahren und das Recht auf richterliche Unbefangenheit« dar.

Dieses damit vom höchsten US-Gericht zum Gesetz erhobene Rechtsprinzip wäre ebenso auf Abu-Jamals Fall anwendbar. Denn auch in seinem Verfahren im Jahr 1982 war Castille als Vizebezirksstaatsanwalt hinter den Kulissen beratend für Prozessankläger Joseph McGill tätig. Danach auf der Karriereleiter aufgestiegen, nahm er bis zum Ende seiner Laufbahn in der Anklagebehörde im Jahr 1991 als Bezirksstaatsanwalt Philadelphias eine zentrale Stellung im Berufungsverfahren gegen Abu-Jamals Todesurteil ein. Zuletzt hatte Castille im Januar 1990 durch seinen Einspruch den Versuch Abu-Jamals vereitelt, zu der im Vorjahr von den höchsten Richtern Pennsylvanias abgelehnten Berufung noch einmal angehört zu werden.

1993 mit breiter Unterstützung aus Polizeikreisen zum Richter des Obersten Gerichtshofs Pennsylvanias gewählt, saß Castille ab 1995 auf der Richterbank, als Abu-Jamal gegen die Ablehnung seines Wiederaufnahmeantrags in Berufung ging. Es verwundert nicht, dass Abu-Jamal mit seinem Ersuchen, ihm einen neuen fairen Prozess zu gewähren, vor diesem Gericht scheiterte. Warum sollte Castille denn auch als Richter ein Todesurteil aufheben, für das sich seine Anklagebehörde früher stark gemacht hatte?

Zwischen 1996 und 1998 und noch einmal 2002 nahm Abu-Jamals Verteidigung mehrere Anläufe, Richter Castille als befangen abzulehnen. Wie im Fall Williams hätte Cas­tille sich selbst für befangen erklären können, aber er weigerte sich. Weder die Bezirksstaatsanwaltschaft noch Richter Castilles Büro äußerten sich je dazu, welche Rolle der Jurist in seiner jeweiligen Funktion in Abu-Jamals rechtlichen Verfahren gespielt hatte. Im aktuellen Antrag folgern die Anwältinnen: »Das hohe öffentliche und politische Interesse von Mr. Abu-Jamals Fall erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Richter Castilles Herunterspielen seiner Verwicklung in den Fall nicht glaubwürdig war.«

Nun müssen sich die Gerichte mit diesen Fragen erneut befassen, auch wenn Castille, der zuletzt die Funktion des Vorsitzenden Richters des Obersten Gerichtshofs von Pennsylvania bekleidete, sich seit Januar 2015 wegen Erreichens der Altersgrenze von 70 Jahren im Ruhestand befindet. Weinstein erklärt, das Grundsatzurteil »Williams gegen Pennsylvania« eröffne nun auch für ihren Mandanten die Möglichkeit, dass alle bisherigen Gerichtsbeschlüsse, die unter Castilles Mitwirkung gefasst wurden, aufgehoben werden. Darin wäre die Ablehnung seines Wiederaufnahmeantrages eingeschlossen.

Ein Erfolg der neuen rechtlichen Schritte würde bewirken, dass Abu-Jamals »Anfechtung des rassistischen Komplotts, das zu seiner Verurteilung führte und der Grund ist, warum er jetzt schon beinahe 35 Jahre lang in Haft sitzt, fast dreißig davon in der Isolation des Todestrakts, neu aufgerollt werden müsste«, schrieb Weinstein. Dazu gehörten alle »verfassungswidrigen rassistischen, politischen und auf Klassenvorurteilen beruhenden Maßnahmen«, die 1982 zu dem »abgekarteten Schuldspruch des Polizeifreundes und rassistischen Richters Albert Sabo geführt haben«. In einer Prozesspause hatte dieser erklärt, er werde der Staatsanwaltschaft »helfen, den Nigger zu grillen«. Wie bei der jetzt notwendigen Durchsetzung der medizinischen Behandlung des in der Haft erkranken Abu-Jamal werde aber auch sein neuerlicher juristischer Vorstoß zur Erlangung von Gerechtigkeit und Freiheit nur Erfolg haben, »wenn er durch internationale Massenproteste unterstützt wird«, betonte die Anwältin.

https://www.jungewelt.de/2016/09-05/028.php

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Quelle:
junge Welt vom 05.09.2016, Seite 6
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2016

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