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MITTELAMERIKA/105: Interview - Die Frauenmorde von Ciudad Juárez


peace brigades international - Internationale Friedensbrigaden
pbi Rundbrief 01/08

Die Frauenmorde von Ciudad Juárez

Ein Gespräch mit Marisela Ortiz


Zwischen 1993 und August 2007 sind ca. 475 Frauen in Ciudad Juárez an der Nordgrenze Mexikos, die das Zentrum der Femizide bildet, ermordet worden. Ungefähr 130 von ihnen, im Alter zwischen 13 und 22 Jahren, wurden sexuell gefoltert. Im Oktober 2007 verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution zu den Frauenmorden in Mexiko und Guatemala. Darin wird das Vorgehen der mexikanischen Behörden kritisiert. Die Parlamentarier haben Vorschläge zur Bekämpfung der Straffreiheit, der Korruption und der Ineffizienz des Justizapparates erarbeitet.
Knut Henkel freier Publizist, führte mit MARISELA ORTIZ, Mitbegründerin der Organisation Nuestras Hijas de Regreso a Casa (Unsere Töchter auf dem Weg nach Hause) ein Interview. Marisela Ortiz versucht seit Jahren die Hintergründe der Frauenmorde in Ciudad Juárez ans Licht zu bringen. Wir drucken das Interview mit freundlicher Genehmigung des Autors in Auszügen ab.

KNUT HENKEL: Frau Ortiz, was hat Sie nach Deutschland geführt?

MARISELA ORTIZ: Unser Ziel ist es, hier einige Organisationen zu besuchen und sie über unsere Situation und über unseren Kampf für Aufklärung zu informieren. Dazu gehört auch, Politikerinnen und Politiker aufzusuchen und sie auf die Situation in Ciudad Juárez in Mexiko aufmerksam zu machen...

KNUT HENKEL: Sie wollen also Druck auf die Regionalregierung in Mexiko ausüben, damit die Morde aufgeklärt werden?

MARISELA ORTIZ: Ja, das ist unsere Strategie angesichts der langjährigen Untätigkeit von Polizei und Justiz. Wir kämpfen gegen die Straflosigkeit und für die Aufklärung. Das sind wir den Toten schuldig. Wir wollen, dass man unsere Stimme - die Stimme der Frauen - hört. Denn man versucht, sie immer wieder zu ignorieren. Und man wirft uns vor, den Leumund von Ciudad Juárez zu beschmutzen und der Stadt zu schaden.

KNUT HENKEL: Woher nehmen Sie die Energie für diesen Kampf? Sie sind bedroht worden, und in Mexiko haben die Bemühungen um Aufklärung kaum gefruchtet!

MARISELA ORTIZ: Es gibt unzählige Opfer, deren Leiden nicht gesühnt werden. Dazu gehören auch die Kinder der 475 ermordeten und verschwundenen Frauen der Region von Ciudad Juárez. Vielleicht sind es auch noch mehr. Um diese Kinder kümmern wir uns, wir helfen ihnen bei der Ausbildung und bei der psychologischen Verarbeitung der Ermordung ihrer Mütter, Tanten, Schwestern oder Cousinen. Zur Zeit arbeiten wir mit etwa fünfzig Kindern.

KNUT HENKEL: Gibt es Hilfen von der Regierung für diese Arbeit?

MARISELA ORTIZ: Es gibt eine minimale Unterstützung der Regionalregierung, die aber bei weitem nicht ausreicht. Wir möchten den Kindern und Jugendlichen unter anderem mit Kunsttherapie helfen. Wir wollen ihnen eine Möglichkeit bieten, sich auszudrücken. Doch dafür haben wir schon seit fast einem Jahr kein Geld mehr. Aber Geld ist nicht das einzige Problem. Grundsätzlich fehlt es am politischen Willen in Ciudad Juárez.

KNUT HENKEL: Und hat es jetzt noch weitere Morde gegeben?

MARISELA ORTIZ: Ja, es gibt immer noch Morde, aber deutlich weniger. Es sind aber Fälle dabei, wo Leichen von Frauen mit Folter- und Vergewaltigungsspuren entdeckt wurden. Doch die Behörden behaupten, dass es sich um natürliche Todesursachen handele.

KNUT HENKEL: Wie reagieren die offiziellen Stellen auf den Vorwurf der Manipulation?

MARISELA ORTIZ: Gar nicht. Denn es gibt einen Pakt zwischen regionaler Regierung, Unternehmern, Medien und Universität, um das öffentliche Bild der Stadt zu verbessern. Zehn Millionen mexikanische Peso wurden für Öffentlichkeitskampagnen bereitgestellt - das ist absurd! Denn für Ermittlungen und den Kampf gegen die Straflosigkeit gibt es überhaupt kein Geld. Dabei sind es die Morde und die Verschwundenen, die das Image von Ciudad Juárez prägen.

KNUT HENKEL: Was sind die Gründe für die Straflosigkeit aus Ihrer Sicht?

MARISELA ORTIZ: Wir vermuten chronische Komplizenschaft zwischen reichen einflussreichen Leuten und den Ermittlungsbehörden. Die Polizei ist Teil des Problems. Denn wir wissen, dass Leichname auch von Polizisten aus dem Wagen geworfen wurden. Die Polizei ist auch in das Drogengeschäft involviert und nie dafür belangt worden. Die Straflosigkeit hat einen Nährboden - die Korruption. Man hat in den Innenhöfen von Häusern von einflussreichen und skrupellosen Männern die Leichen von Frauen gefunden, die dort vergewaltigt und ermordet wurden.

KNUT HENKEL: Wie ist Ihre persönliche Situation derzeit?

MARISELA ORTIZ: Mehrfach wurde ich bedroht, seitdem ich mit dieser Arbeit im Jahre 2001 begonnen habe. Aber auch meine drei Kinder sind bedroht worden, so dass ich sie zwischenzeitlich in die USA in Sicherheit bringen musste. Die Staatspolizei ist gekommen, hat meine Wohnung durchsucht, ein Beamter hat mir eine Pistole an die Schläfe gehalten und ein anderer hat ihn aufgefordert zu schießen. Das haben sie aber nicht gemacht. Sie haben mir die Waffe in den Mund geschoben. Sie haben mir gedroht, meine Tochter zu entführen, sie zu vergewaltigen und zu ermorden. "Du wirst selbst kennen lernen, was mit den Frauen von Ciudad Juárez passiert ist", haben sie mir gesagt.

KNUT HENKEL: Ist die internationale Öffentlichkeit dann die einzige Option, die Ihnen bleibt!?

MARISELA ORTIZ: Ja, die Femizide in der Öffentlichkeit zu thematisieren, ist oft einfacher außerhalb Mexikos. Wir arbeiten mit nur wenigen unabhängigen lokalen Medien zusammen, die sich für unsere Arbeit und Sicht der Dinge interessieren. Die meisten Medien arbeiten sehr eng mit der Regionalregierung zusammen. Und gegen die Polizei, die Teil des Problems ist, kommen wir nicht an. Aufklärung haben wir bis heute nicht. Präsident Calderón hat sich zu den Femiziden in und um Ciudad Juárez noch nicht einmal geäußert.

KNUT HENKEL: Ist das nicht eine frustrierende Erfahrung?

MARISELA ORTIZ: Ja, aber ich habe eine Verpflichtung gegenüber den Kindern und den Müttern und gegenüber meinen eigenen Kindern. Es muss endlich Schluss sein mit den Frauenmorden in Ciudad Juárez, und um das zu erreichen, brauchen wir internationale Unterstützung! - (pbi)


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Femizide - Frauenmorde

Die als Femizid bekannt gewordenen Verbrechen in Mexiko und Guatemala unterscheiden sich von anderen Mordfällen vor allem durch die geschlechtsspezifische Herabwürdigung des Opfers vor, während und nach der Tat. Die gefundenen Frauenkörper zeigen Merkmale von Folter und Vergewaltigung. Typisch für die Frauenmorde ist auch, dass die Familienangehörigen der Opfer von den Untersuchungsbehörden diskriminiert werden. Laut amnesty international erfolgt in 97% der Morde keine Festnahme, in 70% der Fälle findet nicht einmal eine Untersuchung statt. Daher kann über die Identität der Täter keine sichere Aussage gemacht werden.

Zu den Opfern zählen vor allem Frauen im Alter zwischen 16 und 40 Jahren, die in extremer Armut in Randgebieten der Städte leben sowie indigene Frauen aus verschiedenen sozialen Milieus wie Hausfrauen, Hausangestellte, Sexarbeiterinnen oder Studentinnen. Auch allein erziehende Mütter und Arbeiterinnen sind betroffen.

Häufig stehen die Frauenmorde im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität, Menschen- und Drogenhandel. Sie werden von Behörden, Polizei und Militär geduldet, wenn nicht sogar von deren unmittelbarer Beteiligung an den Morden auszugehen ist. Die Morde haben in den letzten Jahren stark zugenommen.

Frauenrechtsverteidigerinnen wie z. B. die mexikanische Soziologin Julia Monárrez Fragoso aus Mexiko sehen die Ursachen für die Frauenmorde in den ungleichen Machtbeziehungen zwischen Männern und Frauen auf wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ebene.


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Quelle:
pbi Rundbrief 01/08, S. 10-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juni 2008