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BERICHT/151: Erfolgreich ohne Waffen (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 12 - IV/2006
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Erfolgreich ohne Waffen
Von der Möglichkeit gewaltfreien Widerstandes im Nationalsozialismus

Von Dietmar Böhm


Wäre gewaltfreier Widerstand gegen Hitler möglich gewesen? Diese Frage wird immer wieder gestellt. Und sie wird meist von Gegnern der Gewaltfreiheit gestellt. Was sind die Gründe dafür, dass trotz entsprechender wissenschaftlicher Forschungsergebnisse die Möglichkeit des gewaltfreien Widerstandes gegen Hitler in Zweifel gezogen werden?

Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts fand dazu eine interessante Auseinandersetzung in der Berliner "Tageszeitung" statt.(1) In einem Artikel über Gandhi und die Juden schrieb Hannes Stein: "Fazit Nummer eins: Gegen ein anderes Imperium als das vergleichsweise milde der Briten hätte Gandhi keine Chance gehabt. Nur demokratisch verfasste Gesellschaften garantieren eine genügend große Publicity, ohne die gewaltfreier Widerstand nicht wirksam werden kann. Eine Binsenwahrheit - aber eben doch eine Wahrheit."(2) (taz vom 05.01.1991)

Es ist ein beliebtes Spiel, den gewaltfreien Widerstand zu diskreditieren, indem man immer wieder genau dieses Argument vorbringt. Besonders in Deutschland werden damit die gewaltfreien Widerstandsaktionen, die es im Nationalsozialismus gab, als Ausnahmeerscheinungen abgetan. So wird der Legende Vorschub geleistet, gewaltfreier Widerstand habe doch keinen Sinn gehabt. Dies dient einer ganzen Generation an Kriegsbeteiligten der Entlastung des eigenen Gewissens, der eigenen Untätigkeit.

Im Jahre 1964 veröffentlichte die deutsch-amerikanische Philosophin Hannah Arendt ein Buch über den Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in Jerusalem mit dem Titel "Eichmann in Jerusalem - ein Bericht von der Banalität des Bösen". Darin stellte Arendt unter anderem die Deportation der Juden aus allen europäischen Ländern während des Dritten Reichs dar. Dabei macht sie eine erstaunliche Feststellung: "Wenn es hart auf hart kam, verfügten die Nazis, wie sich zeigte, weder über genug Personal noch über die entsprechende Willenskraft, um 'hart' zu bleiben. Gerade bei den Leuten in Gestapo und der SS paarte sich Rücksichtslosigkeit keineswegs mit Härte; auch die Rücksichtslosesten unter ihnen zeigten eine erstaunliche Neigung umzufallen, sobald sie mit entschlossenem Widerstand konfrontiert waren." Unter "entschlossenem Widerstand" verstand Hannah Arendt gewaltfreien offenen Widerstand.


Es gibt vielfältige Beispiele, die diese These Arendts eindrucksvoll belegen:

- die Geschichte des gewaltfreien Widerstands der norwegischen Bevölkerung gegen die deutschen Besatzer und die Gleichschaltung der Gesellschaft;

- die Rettung der dänischen Juden durch den gewaltfreien Kampf der dänischen Bevölkerung nach der Besatzung gegen die Deutschen;

- die Rettung bulgarischer Juden durch das entschlossene gewaltfreie Handeln der überwiegenden Mehrheit der bulgarischen Bevölkerung;

- der gewaltfreie Protest von überwiegend Frauen im März 1943 in der Rosenstraße in Berlin, die sich gegen die Deportation ihrer jüdischen Männer wehrten.

In mehreren wissenschaftlichen Untersuchungen(3) wird beschrieben, wie gewaltfreier Widerstand in Europa zwischen 1933 und 1945 praktiziert wurde.


Breiter Widerstand in Norwegen

Schauen wir uns das Beispiel Norwegen an. Nachdem der militärische Widerstand gegen die Besatzung Norwegens 1940 durch die Deutschen in kurzer Zeit zusammengebrochen war, organisierte sich sehr schnell ein breiter gewaltfreier Widerstand gegen die Besatzer. Zunächst beschlossen die vier großen norwegischen Parteien (Arbeiterpartei, Konservative, Liberale und Bauernpartei), ihre eigenen Ziele zurückzustellen und einen gemeinsamen Arbeitsausschuss zu bilden, der in kürzester Zeit von allen relevanten gesellschaftlichen Kräften Unterstützung bekam. Auch nachdem der von den Deutschen eingesetzte Reichskommissar Terboven die Auflösung dieses Ausschusses sowie die Absetzung der Regierung und des Königs Hakoon VII. verfügt hatte, setzte sich der Widerstand in der Bevölkerung fort.

Zunächst begann es mit symbolischen Widerstandsaktionen. Die Bevölkerung trug norwegische Flaggen an der Kleidung; überall tauchten Zeichen wie "H VII" (Hakoon VII.) oder das Victory-Zeichen auf. Im Winter 1940/41 trugen die NorwegerInnen rote Zipfelmützen als Symbol des Widerstandes, die sogleich verboten wurden. Die Menschen gingen daraufhin dazu über, Büroklammern an ihre Kleidung zu heften, was soviel heißen sollte wie "Wir halten zusammen". Auch dies wurde untersagt. Es war ein aussichtsloser Kampf der deutschen Besatzer. Sobald ein Symbol verboten wurde, tauchte ein neues auf. Am 9. April 1941, dem ersten Jahrestag der Besatzung, wurde in ganz Norwegen die Arbeit für eine halbe Stunde niedergelegt.

Auch die Gleichschaltung und der Umbau der Berufsorganisationen in NS-Verbände misslang gründlich. Als dies von Reichskommissar Terboven befohlen wurde, wurde die Parole "Raus aus den Verbänden" ausgegeben. Und so standen die neuen Führer bald fast ohne Mitglieder da. Bei den Rechtsanwälten traten 80 Prozent, bei den Ärzten ebenfalls 80 Prozent, bei den Ingenieuren 70 Prozent aus. Aber wie sollten die neuen Machthaber kontrollieren, wenn niemand zum Kontrollieren da war?

Die wohl bekannteste Widerstandshandlung geschah bei dem Versuch, die Lehrerorganisation gleichzuschalten. Der seit Februar 1942 amtierende norwegische Ministerpräsident und Nationalsozialist Vidkun Quisling kündigte ein Gesetz zur Bildung eines NS-Lehrerverbandes an. Dem mussten alle Lehrer und Lehrerinnen beitreten und dabei eine Verpflichtungserklärung unterschreiben, in der sie die Prinzipien der nationalsozialistischen Erziehung anerkannten.

Über 90 Prozent der 14.000 LehrerInnen - so Magne Skodvin - kamen dieser Aufforderung nicht nach. Sie verdeutlichten dagegen in einer öffentlichen Erklärung, dass sie sich nicht gleichschalten lassen würden. Auch als mit der Entlassung der LehrerInnen gedroht wurde, erschienen alle weiterhin in ihren Schulen und unterrichteten nach den alten Regeln und Gesetzen. Diese Aktion wurde durch die persönliche Erklärung von über 200.000 Eltern an das Kultusministerium unterstützt.

Schließlich griffen die Nationalsozialisten zu härteren Maßnahmen und schickten ca. 1.000 Lehrer in Straflager und KZs. Die Lehrer aber konnten ihren Widerstand auch deshalb leisten, weil sie ihre Familien von der Mehrheit der norwegischen Gesellschaft geschützt und versorgt wussten. Die Gleichschaltung des Lehrerverbandes misslang gründlich. Der von den Nationalsozialisten eingesetzte Ministerpräsident Quisling wird mit dem Satz zitiert, den er vor Lehrern in einer Oberschule in Stabbek gesagt haben soll: "Ihr habt mir alles zerstört!"

Auch die norwegische Kirche leistete ihren Beitrag zum Widerstand. Der Versuch, NS-treue Pastoren und Bischöfe einzusetzen, scheiterte. In einer Erklärung teilten die Bischöfe und Pfarrer ihre Weigerung mit, mit einer Regierung zusammen zu arbeiten, die "zur Gewalt auch noch das Unrecht hinzufügt". Daraufhin wurde die norwegische Staatskirche in ihrer bisherigen Form aufgelöst, aber alle Pfarrer versahen ihren Dienst weiter. Etliche von ihnen wurden verhaftet. Zwei Pfarrer starben im Konzentrationslager, 35 kamen erst 1945 frei.

Von den ca. 1.700 in Norwegen lebenden Juden konnten ca. 900 über die grüne Grenze nach Schweden fliehen. 734 Juden wurden in die Konzentrationslager deportiert.

Alle Widerstandshandlungen seit der Jahreswende wurden in enger Absprache mit der Exilregierung, die in London saß, vollzogen. Es zeigte sich, dass der Widerstand von der ganzen Gesellschaft getragen wurde.


Beispiel "Rosenstraße in Berlin"

Während der Widerstand der norwegischen Bevölkerung schon relativ schnell wissenschaftlich erforscht wurde, wurde der gewaltfreie Protest in der Rosenstraße in Berlin im März 1943 erst durch den Film von Margarethe von Trotta sowie die umfassenden wissenschaftlichen Untersuchungen des US-amerikanischen Historikers Nathan Stoltzfus bekannt. Dass es selbst im Deutschland der Nationalsozialisten, der SS und der Gestapo gewaltfreien Widerstand gegen das Regime gab, wollte man nicht glauben.

Als zu Beginn des Jahres 1943 die letzten Juden - meist Ehemänner und Kinder nicht-jüdischer Ehefrauen - nach Auschwitz deportiert werden sollten, wurden ca. 2.000 von ihnen in einer großangelegten Aktion am 27. Februar 1943 verhaftet. Der Aufenthaltsort der Männer, Frauen und Kinder sprach sich schnell unter den nichtjüdischen Angehörigen herum. Ein Zeitzeuge - damals selbst unter den Verhafteten - berichtet über das Bild, das sich ihm darbot, als er nach seiner Verhaftung durch die Gestapo in die Rosenstraße, dem Sammelort für alle Gefangenen, gebracht wurde: "Als wir in die Rosenstraße einbogen, traute ich meinen Augen nicht. Ich sah viele Menschen, viele Frauen. Eine richtige Ansammlung. Ich sah Polizisten. Wenige allerdings. Ich sah SS-Männer. Der Lastwagen konnte nicht an das Bürogebäude herangefahren werden. Er war auch sofort von Frauen umstellt. Wir mussten herunter, und SS-Männer bahnten uns den Weg durch die Menschen. Und da hörte ich Rufe: 'Lasst unsere Männer frei!', 'Wir wollen unsere Männer wiederhaben!'"

Mitten in NS-Deutschland demonstrierten Menschen für die Freilassung ihrer jüdischen Angehörigen! Die Demonstration hielt an, weder SS noch Gestapo lösten sie auf. Am 4. März - also nach fünf Tagen Dauerdemonstration - geschah das Unfassbare: Die SS ließ Maschinengewehre aufbauen und auf die Menschenmenge richten. Aber als sich die Menschen auch durch diese Aktion nicht einschüchtern ließen, sondern ihren Protest durch Rufe wie "Mörder! Auf Frauen schießen!" verstärkten und schließlich immer und immer wieder forderten: "Gebt unsere Männer und Kinder frei!", zog die SS wieder ab. Und endlich die Entlassung aller Verhafteten am 6. März 1943! Kaum zu glauben, aber der Widerstand - gewaltfrei und offen - hatte Erfolg gehabt. Ein an Gewaltmitteln vielfach überlegener Gegner wurde mit den Mitteln der Gewaltfreiheit niedergezwungen. SS und Gestapo hatten angesichts des entschlossenen gewaltfreien Handelns nicht mehr so reagieren können, wie sie es gewohnt waren.

Der Berliner Friedensforscher und Politologe Gernot Jochheim veröffentlichte über diesen beispiellosen gewaltlosen Protest einen Jugendroman mit dem Titel "Protest in der Rosenstraße". Er stützte sich dabei auf die Untersuchungen Nathan Stoltzfus, der diese in seinem Buch "Widerstand des Herzens" einer breiten Öffentlichkeit vorstellte. Die Forschungen Stoltzfus' wurden von dem Historiker Wolf Gruner angezweifelt. Er behauptete in einem Aufsatz im Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2002, dass die Deportation der Juden gar nicht zur Debatte stand und stützte sich dabei auf Akten des nationalsozialistischen Regimes. Stoltzfus machte wiederum in einem Artikel in der Wochenzeitung "Die Zeit" auf die Schwäche der Argumentation Gruners aufmerksam: Gruner beziehe sich eben auf Akten der Nationalsozialisten. Dass diese die Realität so darstellten, wie es für ihre eigene Propaganda sinnvoll erschien, ist hinlänglich bekannt. Und Oskar Baron Löwenstein de Witt, der 1943 selbst zu den Eingesperrten in der Rosenstraße gehörte, erzählte: "Die Freilassung von uns ist einzig und allein auf den Protest der vielen hundert, manchmal tausend Menschen zurückzuführen. Überwiegend waren es ja Frauen. Hätten diese Menschen nicht tagelang vor der Rosenstraße demonstriert (...), dann wären wir genauso deportiert worden wie alle anderen Juden auch."


"Es kann nicht sein, was nicht sein darf."

Die Kontroverse um den historischen Wert der Aktion in der Rosenstraße zeigt beispielhaft, wie selbst 50 Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft noch immer für die Mehrheit nicht vorstellbar ist, dass Gewaltfreiheit eine solche Macht entfalten kann und so selbst Machthaber, die mit großer Brutalität vorgehen, zu einer Korrektur ihres Handelns zwingt. Stoltzfus weist darauf hin, dass sich in einer solchen Sichtweise die "Fortdauer einer Auffassung der frühen Nachkriegszeit, nach der die Nazimacht absolut und ein Aufbegehren kleiner Leute unvorstellbar waren"(4), widerspiegelt.

Viel interessanter wäre es dagegen, endlich die Untersuchungen zur Kenntnis zu nehmen, die der Frage nachgegangen sind, warum gerade gewaltfreier Widerstand im Nationalsozialismus erfolgreich war.

Das Beispiel Norwegens zeigt, dass die Existenz einer Zivilgesellschaft gewaltfreien Widerstand im Kampf gegen Besatzer besonders effektiv macht. Durch die hohe Identifikation mit der eigenen gesellschaftlichen Grundordnung wird eine Geschlossenheit im Widerstand erreicht, der sich durch alle Ebenen zieht. Vom einfachen Arbeiter bis zur Regierung und dem König: Wenn es um die Verteidigung der demokratischen Grundordnung ging, stand die überwiegende Mehrheit zusammen. Ähnliche Erfahrungen wurden in Dänemark gemacht. Auch dort gelang es in einem mutigen Akt von Zivilcourage die von der Deportation bedrohten dänischen Juden zu retten. Der Zeitzeuge und Jude Salle Fischermann beschreibt: "Das Wichtigste aber ist: Für die Bevölkerung waren wir zuerst Dänen und dann erst Juden. Auch der dänische Außenminister äußerte sich gegenüber dem Nazi Hermann Göring, dass es keine Judenfrage gebe. So haben die Dänen es geschafft, sich schützend vor die jüdische Minderheit zu stellen."(5) In der Dokumentation "Überleben im Dritten Reich - Juden im Untergrund und ihre Helfer"(6) wird auf beeindruckende Weise dargestellt, dass es solche - allerdings bescheidenen - Ansätze von Zivilgesellschaft auch in Deutschland gab. Auch dort fanden sich Menschen bereit - ohne Anwendung von Gewalt -, sich dem Regime zu widersetzen. Wenn dies auch in der Regel nicht offen geschah, so lässt sich vermuten, dass ein ähnlich umfassender ziviler Widerstand wie in Norwegen, Dänemark und Bulgarien das nationalsozialistische Regime auch in Deutschland in große Schwierigkeiten gebracht hätte.

Wenn Politiker wie Joschka Fischer in ihrer Begründung, warum sie für ein militärisches Eingreifen im Balkan-Krieg stimmten, auf Auschwitz verweisen, dann zeugt dies nicht von historischer Kenntnis, sondern dient ausschließlich dazu, wesentliche Elemente von Zivilgesellschaft, die sich um den Aufbau einer gewaltfreien Kultur bemühen, zu diskreditieren.

Hitler selbst fürchtete zu Beginn seiner Herrschaft besonders, dass die Kirchen ihm seine Unterstützung versagen könnten. Er wusste, dass mögliche Stellungnahmen und die öffentliche Haltung beider großer Konfessionen zur Judenfrage von entscheidender Bedeutung für sein politisches Handeln waren.

Der erfolgreiche kirchliche Widerstand gegen die Euthanasie macht deutlich, dass in einer gleichgeschalteten Gesellschaft, die einzigen gesellschaftlichen Kräfte, die noch über eigene Möglichkeiten der Meinungsbildung verfügten (wie dies zum Beispiel im Gottesdienst geschehen kann und in Predigten vieler Pfarrer und Würdenträger wie zum Beispiel dem Münsteraner Bischof von Galen praktiziert wurde), durch die Herstellung von Öffentlichkeit die Handlungen des Regimes beeinflussen konnten. Stoltzfus schreibt: "Erfolgreiche Proteste gegen Vorhaben, die für die Nazis so große Bedeutung hatten wie die Euthanasie und auch die 'Endlösung', mussten einen öffentlichen Charakter haben und von genügend Menschen getragen sein, damit in den Machthabern die Befürchtung aufkam, dass die Stimmung der Bevölkerung zu ihren Ungunsten umzuschlagen drohte."(7)

Dies deutet darauf hin, wie wenig haltbar die Aussage ist, Gewaltfreiheit müsse angesichts eines totalitären Regimes, wie es der Nationalsozialismus ohne Zweifel darstellte, "zwangsläufig" (Hannes Stein) versagen.

Doch warum hält sich selbst trotz gründlicher, historischer Forschungen und noch so vielen Dokumenten und Zeitzeugen diese These hartnäckig? Der Verdacht liegt nahe, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Und dies aus mehreren Gründen.

Die These vom möglichen gewaltfreien Widerstand gegen den Nationalsozialismus rückt nochmals die Frage nach den Ursachen für das fast totale Versagen aller relevanter gesellschaftlicher Kreise in Deutschland in den Mittelpunkt der Diskussion. Es liegt der Verdacht nahe, dass sich diese Kreise und ihre Nachfahren dieses Versagen nicht vorwerfen lassen wollen und sich bis heute weigern, dieses Versagen einzugestehen.

Viel entlastender ist es deshalb, zu behaupten, gewaltfreier Widerstand - ja Widerstand überhaupt - sei für die breite Masse der Bevölkerung nicht möglich gewesen. Damit werden die einzelnen bekannten Widerständler als Märtyrer dargestellt und deren Handlungen zur Ausnahme erklärt, die nur deshalb zustande kamen, weil vielerlei ganz besondere Bedingungen zu trafen, die eben dann eine solche Handlung ermöglichten.

Deshalb verwundert es nicht, dass selbst renommierte Historiker wie Wolfgang Benz in der Auseinandersetzung um die Bedeutung des Protestes in der Rosenstraße es an wissenschaftlicher Genauigkeit fehlen lassen. Die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich erklären dieses Verhalten so, dass "die auf historische Genauigkeit drängende Auseinandersetzung mit diesem Abschnitt unserer Geschichte (...) dann sehr rasch den Erweis dafür bringen (würde), dass sich der Mord an Millionen schutzlos Verfolgter aus sehr vielen schuldhaften Entscheidungen und Handlungen einzelner zusammengesetzt und dass er keineswegs mit jener Selbstverständlichkeit, die wir uns zu eigen gemacht haben, auf Vorgesetzte, schließlich auf den Führer selbst verschoben werden kann".(8) Wenn aber die Etablierung eines verbrecherischen Regimes und schließlich die Ermordung von sechs Millionen Juden sich auf das kollektive Versagen der Einzelnen zurückführen lässt, dann gilt auch der Umkehrschluss: Die mutige Haltung Einzelner ermöglichte Rettung. Nichts anderes belegen die Beispiele aus Dänemark, Bulgarien, Norwegen oder eben auch aus der Rosenstraße in Berlin. Es bleibt eine Mär, dass dem nationalsozialistischen Regime "sich niemand zu entziehen vermochte, allenthalben herrschte - so vernimmt man es in retrospektiver Selbstrechtfertigung - ein alles entschuldender Befehlsnotstand".(9)

Ein weiterer Grund lässt sich sicher in der Geschichtsschreibung nach 1945 finden. Bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein folgte die historische Forschung einem bestimmten "Gesamtbild von Gesellschaft und Diktatur des 'Dritten Reichs'. In der hierarchischen, autoritären Auffassung des Staates, wie sie sich auch in dem Widerstandsbegriff der frühen Nachkriegszeit niederschlug"(10) konnte es Ereignisse wie in der Rosenstraße nicht geben. Es passte nicht in das Weltbild von Historikern, dass einfache Menschen "auf die Bühne der Geschichte treten"(11). Es ist unsere Aufgabe, von diesem Widerstand zu berichten und ihn so zu würdigen.

Es gehört aber auch zu unserer Aufgabe, aus diesem Widerstand die notwendigen Lehren zu ziehen. Hannah Arendt schreibt: "Es wäre von größtem praktischen Nutzen für Deutschland, nicht nur für sein Prestige im Ausland, sondern für eine Wiedererlangung des inneren Gleichgewichts, wenn es mehr derartiger Geschichten zu erzählen gäbe. Denn die Lehre solcher Geschichten ist einfach, ein jeder kann sie verstehen. Sie lautet, politisch gesprochen, dass unter der Bedingung des Terrors die meisten Leute sich fügen, einige aber nicht. So wie die Lehre, die man aus den Ländern im Umkreis der 'Endlösung' ziehen kann, lautet, dass es in der Tat in den meisten Ländern geschehen konnte, aber dass es nicht überall geschehen ist. Menschlich gesprochen ist nicht mehr vonnöten und kann vernünftigerweise mehr nicht verlangt werden, damit dieser Planet ein Ort bleibt, wo Menschen wohnen können."


Dietmar Böhm ist Dozent an der evang. Fachschule für Sozialpädagogik in Stuttgart-Botnang. Mit diesem Beitrag wurde er Preisträger der Textwerkstatt "Gewaltfrei gegen Faschismus, Diktatur und Krieg", die von der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden, ausgerichtet wurde.


Anmerkungen:
(1) Vgl. hierzu auch: Böhm, Dietmar: Die Macht der Gewaltfreiheit. in: die Tageszeitung vom 19.01,1991
(2) Stein, Hannes: Der Guru und der Rabbi, In: die Tageszeitung vom 05.01.1991
(3) u.a, Semelin, Jacques: ohne Waffen gegen Hitler. Frankfurt, 1995
(4) Stoltzfus, Nathan: Die Wahrheit jenseits der Akten. In: Die Zeit, Nr. 45 vom 30.10.2003
(5) "Wir waren zuerst Dänen und dann Juden", In: Gewaltfrei Aktiv 21, S. 2
(6) Benz, Wolfgang (Hrsg.): Überleben im Dritten Reich - Juden im Untergrund und ihre Helfer. München, 2003
(7) - (11) Angaben zu den Anmerkungen bitte bei der Redaktion Forum Pazifismus erfragen


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 12, IV/2006, S. 11
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2007