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BERICHT/209: Wehrpflicht - die große Lotterie (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 19 - III/2008
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Wehrpflicht - die große Lotterie
Zahlen und Fakten zur Willkürpraxis

Von Ralf Siemens


In der juristischen aber auch in der politischen Diskussion wird die Frage, ob die Kriegsdienstpflicht "allgemein" oder "willkürlich" umgesetzt wird, unter dem Begriff der Wehrgerechtigkeit geführt. Die begriffliche Verbindung von Gerechtigkeit und Wehrpflicht erscheint allerdings nur in einem juristischen Kontext zulässig. Daneben kann es eine "Wehrgerechtigkeit" grundsätzlich nicht geben: Ein Zwangsdienst zur Vorbereitung und zum Führen von Kriegen kann niemals gerecht sein. Ob die staatliche Aushebung zu einem Zwangsdienst aber "allgemein" oder willkürlich erfolgt, dies ist durchaus zu bewerten.

Die Wehrpflicht greift in vielfacher Weise in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen, zum Teil massiv und Grundrechte aufhebend, ein.(1) Deshalb ist es kein Kavaliersdelikt, wenn der Rechtsstaat, der diese Kriegsdienstpflicht unter Androhung von Freiheitsstrafen einfordert, gegen das grundgesetzliche Willkürverbot verstößt.(2)

Seit Mitte März 2008 liegt eine Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage des Abgeordneten Paul Schäfer und der Linksfraktion zur Umsetzung der Wehrpflicht im vergangenen Jahr vor.(3) Eine Auswertung - die hier vorgestellt wird - ergibt, dass sich die "allgemeine Wehrpflicht" längst zu einer Willkür-Wehrpflicht entwickelt hat.


Rechtliche Voraussetzungen

Die einfachgesetzliche Regelung der Kriegsdienstpflicht bestimmt: "Wehrpflichtig sind alle Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an".(4) Das Bundesverfassungsgericht stellte in einer Entscheidung 1978 fest: "Die allgemeine Wehrpflicht ist Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgedankens. Ihre Durchführung steht unter der Herrschaft des Artikels 3 Absatz 1 Grundgesetz." Und weiter führte es aus: Dem "Verfassungsgebot der staatsbürgerlichen Pflichtengleichheit in Gestalt der Wehrgerechtigkeit wird nicht schon dadurch genügt, dass die Wehrpflichtigen entweder zum Wehrdienst oder zum Ersatzdienst herangezogen werden. Das Grundgesetz verlangt vielmehr, dass der Wehrpflichtige grundsätzlich Wehrdienst leistet..."(5)

Die "Wehrgerechtigkeit", so das Bundesverwaltungsgericht 2005, sei "nur gewährleistet, wenn die Zahl derjenigen, die tatsächlich Wehrdienst leisten, der Zahl derjenigen, die nach Maßgabe der Bestimmungen des Wehrpflichtgesetzes für den Wehrdienst zur Verfügung stehen, zumindest nahe kommt. Die verfügbaren Wehrpflichtigen eines Altersjahrgangs müssen daher, von einem administrativ unvermeidbaren 'Ausschöpfungsrest' abgesehen, bis zum Erreichen der Altersgrenze (§ 5 Abs. 1 WPflG) ihren Grundwehrdienst absolviert haben."(6)

Die gegenwärtige Bundesregierung macht sich diese juristische Definition von "Wehrgerechtigkeit" zu eigen: "Maßstab ... ist dabei nicht die gesamte Jahrgangsstärke, sondern nur der Teil, der nach dem Willen des Gesetzgebers für eine Heranziehung zum Grundwehrdienst zur Verfügung steht."(7) Die politisch Verantwortlichen für den Zwangsdienst verweisen öffentlich, unter Grundlage des oben genannten Maßstabes, auf "eine Einberufungsgerechtigkeit von nahezu 80 Prozent"(8) oder sogar darauf, dass "über 80 Prozent der Tauglichen auch einberufen (wurden)."(9) Wie wir im weiteren sehen werden, ist diese Quote tatsächlich aber deutlich niedriger, und dies, obwohl der Kreis der potenziell für den Militärdienst Verfügbaren erheblich verkleinert wurde.


Entwicklung der Personalstruktur

Der uniformierte Personalkörper der Streitkräfte wird auf Grundlage von "Personalstrukturmodellen" (PSM) geplant. Seit 1990, jeweils mit Personalreduzierungen verbunden, wurden vier Modelle erlassen. Zwischen dem Zeitpunkt des Erlasses eines PSM und der Realisierung der darin festgelegten Soll-Größen liegt ein Zeitraum von mehreren Jahren. Keines dieser Modelle ist umgesetzt worden. Noch bevor die entsprechende Zielstruktur eingenommen wurde, gab es bereits eine neue Planungsgrundlage.(10)

Bis Ende der 1980er-Jahre blieb der Soll-Gesamtumfang mit 470.000 bis 495.000 Soldaten mit einem Anteil von etwa 45 Prozent Zwangsdienern nahezu unverändert. Das 1994 beschlossene PSM 340 sah für die Jahrtausendwende einen 33-prozentigen Anteil von Zwangssoldaten vor. Nach der gegenwärtig gültigen Planungsgrundlage (PSM 2010), 2003 in Auftrag gegeben und 2005 offiziell gebilligt(11), soll ihr Anteil auf 12 Prozent sinken. 30.000 von 250.000 "Dienstposten" sollen für Grundwehrdienstleistende (GWDL) vorgehalten werden.(12) (siehe Grafik 1)

Grafik 1

Personalstrukturmodelle (PSM) in der Entwicklung

Freiwillige
GWDL
Beschluß 1984, PSM 84
Beschluß 1990, PSM 370
Beschluß 1994, PSM 340
Beschluß 2000, PSM 2000
Beschluß 2005, PSM 2010
270.000
211.000
226.000
229.400
220.000
219.000
155.000
112.000
53.000
30.000


Einberufungen zur Bundeswehr

Die Absenkung der Dienstposten führte zwangsläufig dazu, dass zunehmend weniger Männer einberufen werden konnten und können. Hatten bis 1999, so genannte "Freiwillig Wehrdienstleistende" mit eingerechnet, noch um die 160.000 jedes Jahr den Wehrdienst anzutreten(13), wurde 2004 erstmals die Marke von Einhunderttausend unterschritten. Im vergangenen Jahr wurde mit unter 68.000 Militärdiensteinberufenen der bisher niedrigste Wert erreicht.(14) Nach der Einnahme der Zielstruktur des PSM 2010 können ca. 57.500 Einberufungen jährlich umgesetzt werden, darunter 40.000 Einberufungen zum neunmonatigen Grundwehrdienst.(15) (siehe Grafik 2)

Grafik 2

Dienstantritte Bundeswehr

Dienst anzutreten hatten
Nach 1 Monat im Dienst
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
160.425
154.842
144.647
129.441
123.812
102.600
79.850
68.428
71.321
67.834
157.534
152.117
140.687
125.715
119.796
98.087
76.607
65.024
63.197
62.770

Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine zunehmend hohe Anzahl derjenigen, die den Dienst antreten, innerhalb der ersten vier Wochen aus der Bundeswehr entlassen werden. Eine statistische Manipulation, werden sie doch von der Bundeswehr als Dienstleistende gezählt. So konnte öffentlichkeitswirksam für das Jahr 2006 vermeldet werden, dass mehr Wehrpflichtige zur Bundeswehr einberufen wurden als noch im Jahr zuvor. Ein Blick auf die Anzahl derer, die nach einem Monat noch im Dienst standen, bringt allerdings einen überraschenden Befund: Tatsächlich hatte die Bundeswehr rund 2.000 Wehrpflichtige weniger in ihren Reihen als im Vorjahr. Mehr Dienstantritte führen also nicht automatisch zu mehr Dienstleistenden. "Eine Auswertung über die Ausfallgründe (wird) nicht geführt", so die Bundesregierung. Wie viele der Grundwehrdienstleistenden den neunmonatigen Zwangsdienst überhaupt voll ableisten, ist ebenfalls nicht bekannt. Auch dies wird, regierungsamtlichen Angaben zu Folge, statistisch nicht erfasst.(16)

Die planerische Vorgabe, Dienstposten für Zwangseinberufene abzubauen, ist bereits weitgehend vollzogen worden. Obwohl der Soll- Personalumfang seit 1990 (PSM 370) um mehr als 30 Prozent reduziert wurde, ist die absolute Anzahl von Dienstposten für Freiwillige gestiegen (um 9.000 auf 220.000). Zu den Freiwilligen sind hierbei auch die "Freiwillig Wehrdienstleistenden" (17) zuzurechnen, die das Militärministerium gegenüber der Öffentlichkeit der Gruppe der Zwangsdiener zuschlägt. Die neun Monate dienenden Wehrpflichtigen spielen in den Streitkräften faktisch nur noch eine Randrolle. Seit Ende 2005 hat sich der Ist-Anteil Grundwehrdienstleistender am Gesamtumfang auf einen Wert unter 15 Prozent eingependelt. Ende letzten Jahres waren 87 Prozent, im August dieses Jahres 85 Prozent des uniformierten Personals der Bundeswehr Freiwillige.(18) (siehe Grafik 3)

Grafik 3

Personalstruktur August 2008
211.492
 36.418
Freiwillige
Grundwehrdienstleistende

Ausschöpfung für den Waffendienst der Geburtsjahrgänge 1981-1984

Das Bundesverwaltungsgericht stellte in seinem eingangs erwähnten Urteil aus dem Jahr 2005 fest, dass die "Wehrgerechtigkeit bei der Einberufung der verfügbaren Wehrpflichtigen (...) eindeutig gewahrt" war. Es stützte sich dabei auf eine statistische Auswertung über die Geburtsjahrgänge 1970 bis 1975, die die Bundeswehr mit Stand Dezember 2000 vorgelegt hatte. Danach wurden jeweils 90 Prozent derer, die zum Wehrdienst zur Verfügung standen, auch tatsächlich herangezogen.(19)

Heute liegen die Daten bis einschließlich Geburtsjahrgang 1984 vor.(20) Er ist der jüngste Jahrgang, über den sich grundsätzliche Aussagen treffen lassen. Angehörige dieses Jahrgangs haben im vergangenen Jahr das 23. Lebensjahr vollendet und die Regelheranziehungsgrenze überschritten. Eine Heranziehung ist nur noch in Ausnahmefällen möglich, die statistisch nicht mehr ins Gewicht fallen werden. (siehe Grafik 4)

Grafik 4

Geburtsjahrgänge 1970-1984: Militärausschöpfung


Jahrgangsumfang

Für Wehrdienst
(WD) verfügbar
WD geleistet

1970
1971
1972
1973
1974
1975
1976
1977
1978
1979
1980
1981
1982
1983
1984
508.907
490.710
433.184
391.211
382.772
377.213
391.832
408.427
407.976
415.467
440.158
439.725
445.564
437.465
435.898
245.741
218.510
176.117
157.585
152.577
156.018
174.072
174.782
174.028
169.228
168.604
153.910
139.923
129.294
124.462
199.464
191.150
159.724
144.933
139.478
140.758
147.313
147.677
142.852
133.302
127.821
114.866
97.928
81.821
72.977

Ein Vergleich der in etwa gleich starken Jahrgänge 1972 und 1984 miteinander macht die grundsätzliche Entwicklung der letzten 15 Jahre deutlich: Zum einen ist der Kreis der für den Militärdienst Verfügbaren deutlich verringert worden (von 176.000 um über 51.000 auf 125.000) (21), zum anderen wurden überproportional die Einberufungszahlen gesenkt (von 160.000 auf 73.000). (siehe Grafik 5)

Grafik 5

Militärschöpfung Jahrgänge 1972 und 1984 im Vergleich

1972
1984
Jahrgangsumfang
Gemusterte
Verfügbar
Wehrdienst geleistet
433.184
414.772
176.117
159.724
435.898
381.811
124.462
72.977

Die Anzahl der Dienstleistenden, gemessen an den für den Militärdienst Verfügbaren, sank binnen einer Dekade von 90 auf deutlich unter 70 Prozent. (siehe Grafik 6)

Grafik 6

Einberufungsquote Bundeswehr nach
Verfügbaren des Geburtsjahrgangs
1970
1971
1972
1973
1974
1975
1976
1977
1978
1979
1980
1981
1982
1983
1984
81,2 %
87,5 %
90,7 %
92,0 %
91,4 %
90,2 %
84,6 %
84,5 %
82,1 %
78,8 %
75,8 %
74,6 %
70,0 %
63,3 %
58,6 %

Vier von 10 Angehörigen der Jahrgänge 1970 bis 1976 haben den Dienst in der Bundeswehr geleistet. Mit dem Jahrgang 1977 setzte ein kontinuierlicher Abwärtstrend ein. Lediglich jeder Sechste des Jahrgangs 1984 hat aufgrund der "allgemeinen Wehrpflicht" den Militärdienst in der Bundeswehr geleistet. (siehe Grafik 7)

Grafik 7

Einberufungsquote Bundeswehr
nach Geburtsjahrgängen
1970
1971
1972
1973
1974
1975
1976
1977
1978
1979
1980
1981
1982
1983
1984
39,2 %
39,0 %
36,9 %
37,0 %
36,4 %
37,3 %
37,6 %
36,2 %
35,0 %
32,1 %
29,0 %
26,1 %
22,0 %
18,7 %
16,7 %

Ein genauer Blick auf den 1984er-Jahrgang bildet die Realität der "allgemeinen" Kriegsdienstpflicht ab (Zahlen gerundet): Von 435.000 Männern dieses Jahrgangs standen lediglich 125.000 für eine Einberufung ins Militär zur Verfügung; geleistet - in Form des Grundwehrdienstes oder des freiwillig längeren Wehrdienstes - haben ihn 73.000. Bezogen auf den Gesamtumfang des Jahrgangs hat lediglich jeder Sechste militärisch gedient. Deutlich mehr, fast 90.000, haben als Kriegsdienstverweigerer einen Ersatzdienst in Form des Zivildienstes (nach § 3 Abs. 1 WPflG), im Rahmen eines Freiwilligen Jahres (nach § 14c ZDG) oder als Anderen Dienst im Ausland (nach ZDG § 14b) geleistet. Die größte Gruppe dieses Jahrgangs allerdings sind die untauglich Gemusterten: 123.000 oder 28 Prozent. Ungemustert blieben 45.000 - und dies nicht etwa deshalb, weil sie den Musterungsaufforderungen ferngeblieben sind, sondern weil sie nicht zur Musterung geladen wurden. Die Anzahl der Un- und Ausgemusterten (168.000) ist somit höher als die der Wehr- oder Ersatzdienstleistenden zusammen (163.000).(22)


Grobjustierung der Musterungsschraube

Um die Ausgangsgröße, an der sich die Wehrgerechtigkeit nach herrschender Lesart zu messen hat, d.h. die Anzahl der überhaupt zum Militärdienst Einberufbaren zu verkleinern, wurde vor allem an der Stellschraube Musterung gedreht. Je mehr Ausmusterungen vorgenommen werden, desto geringer die Anzahl der potenziell Einberufbaren. Und an dieser Stelle wurde kräftig und auch virtuell gedreht: Es stieg nicht nur die Anzahl der untauglich Gemusterten, sondern auch die der Ungemusterten. So blieb es jedem Zehnten des 1984er-Jahrgangs erspart, sich militärisch untersuchen zu lassen. Wer nicht gemustert wird,. steht aber auch für eine Einberufung nicht zur Verfügung; dies senkte automatisch die "Ungerechtigkeitsquote". Von denen, die gemustert wurden, wurden noch nahezu Zweidrittel für "wehrdienstfähig" befunden. (siehe Grafik 8)

Grafik 8

Musterung Geburtenjahrgänge 1981-1984

1981
1982
1983
1984
Erfasst
Gemustert
Tauglich
439.725
416.677
316.952
445.564
414.577
304.773
437.465
398.139
280.360
435.898
381.811
254.710

Was gut war für die "Vergessenen", hätte sich rechtlich als Bumerang für die Wehrpflichtnostalgiker erweisen können. Die Bundeswehr hat den offenliegenden Rechtsbruch, Zehntausende eines Jahrgangs nicht mehr zu einer Musterung zu laden, offensichtlich nicht mehr länger durchhalten wollen. Seit 2007, in diesem Jahr wurden fast 100.000 Erstmusterungen mehr als im Vorjahr durchgeführt, entspricht die Anzahl der durchgeführten Musterungen wieder der Größe der Jahrgangsstärken. Zeitgleich stieg die Ausmusterungsquote. Das musste sie auch, damit das System nicht mehr potenziell Verfügbare produziert. Nicht einmal jeder Zweite des Jahrgangs 1989 wurde noch für "tauglich" befunden. Dieser Jahrgang wuchs im vergangenen Jahr in die Wehrpflicht hinein.

Führten im Kalenderjahr 2000 lediglich 10 Prozent aller Erstmusterungen zur Wehrpflichtbefreiung, so waren es im vergangenen Jahr bereits rund 40 Prozent. Der willkürliche Umgang mit Wehrpflichtigen hat sich in den letzten Jahren um eine weitere Facette bereichert: Zur Einberufungslotterie gesellt sich nunmehr auch noch die Musterungslotterie. (siehe Grafik 9)

Grafik 9

Ausmusterungsquote bei den Erstmusterungen
in den Jahren 2000-2007
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
10,04 %
13,86 %
12,74 %
12,72 %
17,86 %
29,79 %
29,18 %
39,46 %


Kriegsdienstverweigerung

Die Kriegsdienstverweigerung ist der zweite relevant große Bereich, der neben der Aus- oder "Null"musterung die "Wehrgerechtigkeitsquote" begünstigt. Staatlich anerkannte Kriegsdienstverweigerer sind nicht zum Militärdienst einberufbar und sorgen deshalb dafür, dass die Zahl der potenziell zur Bundeswehr Einberufbaren geringer wird.

Der Anteil von anerkannten Kriegsdienstverweigerern in einem Jahrgang ist rückläufig. Jeder Dritte des 1981er-Jahrgangs ist Kriegsdienstverweigerer, beim 1984-Jahrgang ist ihr Anteil auf unter 30 Prozent gesunken. Dies ist aber nicht überraschend, da der Verweigerungsantrag eines Un- oder Ausgemusterten, mangels Rechtsschutzbedürfnis, nicht zur Anerkennung führen kann. Beide Gruppen, Ausgemusterte und KDVer zusammen, ergeben aber eine erstaunlich gleichbleibende Konstante in Höhe von rund 60 Prozent. Dass die Quote der für den Waffendienst Verfügbaren eines Jahrgangs auf unter 30 Prozent gesunken ist, ist auf den hohen Anteil Ungemusterter zurückzuführen.

Es ist nicht erstaunlich, dass deshalb die Zahl der anerkannten Kriegsdienstverweigerer in den letzten Jahren rückläufig gewesen ist. Allerdings gibt es seit 2007, einhergehend mit der deutlichen Steigerung bei den durchgeführten Musterungen, auch wieder mehr Anerkennungen. Dabei ist das Verhältnis zwischen tauglich Gemusterten und anerkannten KDVern über die Jahre hinweg mit knapp 50 Prozent nahezu konstant geblieben. (siehe Grafik 10)

Grafik 10

KDV-Anerkennungen und Erstmusterungen

Erstmusterung
Tauglich
KDV-Anerkennung
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
356.470
355.014
356.134
371.331
347.004
327.173
426.339
294.658
297.218
298.903
298.997
214.795
201.539
241.265
143.820
140.947
135.886
114.557
97.321
99.916
111.345


Druck auf Kriegsdienstverweigerer

Das für Kriegsdienstverweigerer zuständige Bundesamt für den Zivildienst könnte für sich das in Anspruch nehmen, was die politische Führung für den militärischen Bereich angibt: Einberufungs"gerechtigkeit". Neun von zehn für den Zivildienst Verfügbare des Jahrgangs 1984 wurden zu einer Dienstleistung in Form des Zivildienstes, des "Anderen Dienstes im Ausland" oder des "freiwilligen Jahres" genötigt. (siehe Grafik 11)

Grafik 11

Kriegsdienstverweigerung und Dienstleistung
Geburtsjahrgang
1981
1982
1983
1984
KDVer
Verfügbar
Dienst geleistet
150.098
138.172
117.656
152.633
136.622
108.808
140.080
119.042
102.608
121.430
102.952
90.625


Ersatzdienste werden zu Regeldiensten

Vom 1981er-Jahrgang haben noch rund 53 Prozent einen Dienst im Rahmen der Wehrpflicht geleistet. Innerhalb von 4 Jahrgängen ist dieser Wert auf deutlich unter 40 Prozent gesunken. Das Dienen in den Streitkräften ist ohnehin zur Ausnahme geworden. Der Bereich des Zivildienstes hat als zweites Standbein der Kriegsdienstpflicht den originären militärischen Bereich quantitativ überholt. (siehe Grafik 12)

Grafik 12

Dienstleistungen Geburtsjahrgänge 1981-1984
Geburtsjahrgang
1981
1982
1983
1984
Jahrgangsstärke
Gesamtzahl Militär-
und KDV Ersatzdienste
Militärdienst
KDV Ersatzdienste
439.725

232.522
114.866
117.656
445.564

206.736
97.928
108.808
437.465

184.429
81.821
102.608
435.898

163.602
72.977
90.625

Dieser Befund wird durch die Entwicklung in den letzten Kalenderjahren verstärkt. Erstmals haben im Jahr 2001 mehr Wehrpflichtige den Zivildienst als den Waffendienst angetreten. Seit 2004 bilden Zivis unter den Dienstleistenden eine deutliche Mehrheit (im vergangenen Jahr mit über 16.000). Davon Kriegsdienstverweigerern mit steigender Tendenz die vom Staat eingeräumten Alternativen des "Freiwilligen Jahres"(23) als Ersatz für den Zivildienst genutzt werden, haben im vergangenen Jahr mehr als 90.000 ihre Kriegsdienstpflicht außerhalb der Bundeswehr erfüllt.

Geht es nach dem Willen der Bundesregierung, wird die Einberufungsschere zwischen Kriegsdienstverweigerern und Militärdienstpflichtigen weiter auseinander driften. Ab 2009 sollen jährlich 91.000 zum Zivildienst herangezogen werden, etwa 6.000 mehr als gegenwärtig.(24) Einschließlich der Alternativdienstleistenden im "Freiwilligen Jahr" und im seit 2008 eingeführten entwicklungspolitischen Weltwärts-Dienst sollen nahezu 100.000 Kriegsdienstverweigerer dienen, während ab 2010 etwa 60.000 zur Bundeswehr herangezogen werden.


Fazit

1999 wurde noch jeder Dritte eines Jahrgangs zum Militärdienst einberufen. Gegenwärtig ist es noch jeder Siebente, dank der geburtenschwächeren Jahrgänge wird es zukünftig statistisch jeden Sechsten treffen. Tatsächlich tragen die Kriegsdienstverweigerer die Hauptlast der "allgemeinen Wehrpflicht", die aber eigentlich nur einen "Ersatz"dienst zu leisten haben.(25) Aber selbst beide Säulen der Wehrpflichterfüllung zusammen genommen, werden deutlich weniger als die Hälfte eines Jahrgangs dienen müssen."Allgemein" ist mehr nicht die Dienstleistung, sehr wohl aber noch die mit der Kriegsdienstpflicht verbundene militärische Erfassung junger Männer und ihrer militärärztlichen Durchmusterung.

Die allgemeine Kriegsdienstpflicht hat sich vollends zur Willkür-Pflicht gewandelt. Eine andere Feststellung lässt der gesunde Menschenverstand kaum zu. Selbst ein Militärgericht stellte Mitte letzten Jahres fest, als es über einen Arreststrafantrag der Truppe gegenüber einem Totalverweigerer zu entscheiden hatte, "dass es tatsächlich ungerecht wirken muss, wenn in Anbetracht des verringerten Bundeswehrbedarfs an Wehrpflichtigen die Wehrersatzbehörden eine immer geringer werdende Zahl von Dienstposten mit Wehrpflichtigen besetzt".(26)


Ralf Siemens ist tätig in der Berliner Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung (www.asfrab.de) und Mitglied im Vorstand der Zentralstelle KDV.


Anmerkungen

1) Ausführlich dazu: Wehrpflicht: Der deutsche Sonderweg, Ralf Siemens. Positionenpapier 3 der Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung. www.asfrab.de/media/pdf/asfrab_positionen03.pdf; veröffentlicht auch in Forum Pazifismus 12, 24 f.

2) Grundgesetz Artikel 3, Absatz 1 lautet: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich." Dass von der Kriegsdienstpflicht Frauen ausgenommen sind, steht im Widerspruch zum Absatz 2, wonach "Männer und Frauen gleichberechtigt sind" und der Staat "auf die Beseitigung bestehender Nachteile" hinwirken muss.

3) Deutscher Bundestag, Drucksache 16/8637 vom 17.3.2008.

4) So der Wortlaut § 1 des Wehrpflichtgesetzes unter der Überschrift "Allgemeine Wehrpflicht". Wehrpflichtgesetz in der Fassung der Bekanntmachungvom 30. Mai 2005 (BGBl. IS. 1465), zuletzt geändert durch Gesetz vom 31.07.2008 (BGBl. I.S. 1629).

5) Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 13.04.1978, Aktenzeichen: 2 BvF 1/77 u.a., Leitsätze 2 und 6.

6) Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19.01.2005, Aktenzeichen 6 C 9.04 I, Randnummer 44.

7) Deutscher Bundestag, Drucksache 16/8637 vom 17.3.2008, Vorbemerkung der Bundesregierung, S. 2.

8) Verteidigungsminister Jung, Handelsblatt, 13.9.2007.

9) Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Christian Schmidt, Frankfurter Rundschau, 6.8.07.

10) Vgl. dazu: Das Personalstrukturmodell. In: Auf Kurs. Informationsheft der Abteilung POCAR Marine, 1/2005.

11) Generalinspekteur der Bundeswehr. Bundeswehrplan 2008, S. 6.

12) Deutscher Bundestag, Drucksache 16/8637 vom 17.3.2008, Antwort auf Frage 60, S. 61.
Vom Sollplan allerdings abweichend, hat Militärminister jung angeordnet, den geplanten Abbau von GWDL-Dienstposten zu verzögern. 35.000 DP sind bis zum Jahr 2009, 32.000 DP für 2010 vorgesehen.

13) Deutscher Bundestag, Drucksache 14/5857 vom 3.4.2001, Antwort zu Frage 13e, S. 16.

14) Deutscher Bundestag, Drucksache 16/8637 vom 17.3.2008, Antwort zu Frage 34, S. 23.

15) Deutscher Bundestag, Drucksache 16/5578 vom 8.6.2007, Antwort auf Frage 45, S. 21f.

16) Deutscher Bundestag, Drucksache 16/760 vom 24.2.2006, Antworten zu Frage 4b bis 4c, S. 6.

17) Diese Gruppe verpflichtet sich freiwillig zum Wehrdienst und zur Teilnahme an Auslandseinsätzen. Ab dem 10. Dienstmonat wird zusätzlich zum Wehrsold ein steuerfreier Zuschlag von täglich 20,45 Euro gezahlt.

18) Auf www.bundeswehr.de werden in mehrmonatigen Abständen aktuelle Angaben über die Personalstärke und -zusammensetzung veröffentlicht. Letzter Download erfolgte am 15.9.2008.

19) Fußnote 5, Randnummer 48.

20) Geburtsjahrgänge 1970 bis 1975 mit Stand 31.12.2000: Drucksache 14/5857 vom 3.4.2001, Unberücksichtigt bleiben 1.116 Wehrpflichtige der Jahrgänge 1973 bis 1975, die für den Wehrdienst zum Zeitpunkt Dez. 2000 noch einberufbar waren (1973: 350, 1974: 364, 1975: 402).
Geburtsjahrgänge 1976 bis 1978: Bundesministerium der Verteidigung, Anlage zum schreiben WV I 5 vom 27.11.2006, ergänzt durch Drucksache 16/1760 vom 6.6.2006, S. 5, Drucksache 16/760 vom 24.2.2006, S. 3 und Drucksache 16/5578 vom 8.6.2007.
Geburtsjahrgänge 1979 bis 1980: Bericht des Bundesministeriums der Verteidigung zur Wehr- bzw. Einberufungsgerechtigkeit, August 2007.
Geburtsjahrgänge 1981 bis 1984: Auswertung der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke vom 18. März 2008, Drucksache 16/8637.

21) Als für den Wehrdienst verfügbar gelten ausschließlich Wehrpflichtige, die tatsächlich auch einberufen werden können. Nicht verfügbar sind demnach Ausgemusterte, Kriegsdienstverweigerer und vom Wehrdienst ausgeschlossene, befreite, zurückgestellte oder für den Wehrdienst unabkömmlich gestellte Personen.

22) Fußnote 2, Auswertung der Antworten auf Fragen 4 (S. 4f.), 8 (S. 7), 11 (S. 8), 12 (S. 9), 14 (S. 10), 19 (S. 13) und 21 (S. 13 f).

23) Nach 14c des Zivildienstgesetzes wird "das Freiwillige Jahr" als Ersatz für den Zivildienst anerkannt, wenn der Dienst vor dem 23. Geburtstag angetreten wurde, mindestens zwölf zusammenhängende Monate umfasst hat und die Einsatzstelle durch das Bundesamt für den Zivildienst eine entsprechende Anerkennung hat.

24) Deutscher Bundestag, Drucksache 16/8637 vom 17.3.2008, Antwort auf Frage 63.

25) Artikel 12a des Grundgesetzes lautet: "Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden."

26) Truppendienstgericht Süd, Beschluss vom 17. Juli 2007, Az: S 7 BLb 03/07, S. 6.


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 19, III/2008, S. 16 - 23
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
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Pazifismus, Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2008