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BERICHT/224: Fraktionsdisziplin oder Gewissensfreiheit? (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 6 - Dezember 2008
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Das ärgerliche Gewissen
Fraktionsdisziplin oder Gewissensfreiheit?

Von Ulrich Finckh


Das Grundgesetz schützt das Gewissen allgemein in Artikel 4 Abs. 1, speziell in Artikel 4 Abs. 3 für Kriegsdienstverweigerer und in Artikel 38 für Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Der Gewissensschutz für Abgeordnete ist auch in den Landesverfassungen geregelt. Das Gewissen der Einzelnen steht manchmal quer zu dem, was die Mehrheit will. Deshalb ist sein besonderer Schutz notwendig.

Kriegsdienstverweigerer kennen die Probleme, weil sie lange Zeit den garantierten Schutz des Gewissens nur auf besonderen Antrag mit ausführlicher Begründung und nach Prüfung durch Gremien der Wehrverwaltung erhielten oder auch nicht erhielten. Manchmal halfen Gerichte bei Klagen ab, manchmal versagten auch die den im Grundgesetz garantierten Schutz. Ablehnungen konnten mit allen möglichen unsinnigen Gründen versehen sein. Ich erinnere mich an einen Fall, in dem ein Student sein Studium mit Taxifahren finanzierte und abgelehnt wurde, weil er dabei ja auch Menschen töten könne. Auch an Ablehnungen, weil Soldaten sich erst kurz vorher als Freiwillige länger verpflichtet hatten. Und an viele Fälle, in denen die Prüfenden einfach erklärten, dass sie den vorgetragenen Gründen nicht glaubten. Die Notwendigkeit eines Antrags und die staatliche Prüfung des Antrags gibt es noch immer. Nur fällt die Prüfung derzeit großzügig aus, weil Zivis nützlich sind und die Bundeswehr froh ist, wenn Ersatzdienste helfen, die Wehrpflicht zu erhalten.

Wer Krieg und Kriegsvorbereitung für ein Verbrechen hält, für dessen Nichtbegehen er keinen Ersatzdienst leistet, kann sich eigentlich auf die garantierte Gewissensfreiheit berufen. Aber das Bundesverfassungsgericht sieht das anders und wertet die Wehrpflicht höher als das garantierte Grundrecht der Gewissensfreiheit. Deshalb werden totale Kriegsdienstverweigerer zum Wehr- oder Zivildienst einberufen und bei Nichtbefolgen kriminalisiert. Das Interesse der Bundeswehr wird höher eingeschätzt als das garantierte Grundrecht.

Der spezielle Fall, dass Soldaten einzelne Befehle aus Gewissensgründen ablehnen, ist vor kurzem positiv so entschieden worden, dass das durch das Grundgesetz geschützt ist. Ein Major hatte einen Befehl abgelehnt, der dem Irakkrieg hätte dienen können. Am Krieg hat sich Deutschland offiziell nicht beteiligt. So ging es mehr um eine Grundsatzklärung. Da hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass er das Recht dazu hatte, und hat der Bundeswehr aufgegeben, in solchen Fällen eine andere, nicht diskriminierende Tätigkeit zuzuweisen, die das Gewissen des Soldaten nicht belastet. Das Verteidigungsministerium sieht durch das Urteil die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte gefährdet.

Neu ist der offene Konflikt zwischen Abgeordneten, die sich auf ihr Gewissen berufen, und ihrer Fraktion in Hessen. Die SPD hatte im Wahlkampf zwei Aussagen gemacht, die nach dem Ergebnis der Wahl nicht mehr gleichzeitig erfüllbar waren. Einerseits sollte Ministerpräsident Koch abgelöst werden, andererseits sollte das aber auf keinen Fall mit Hilfe der Linkspartei geschehen. Daraufhin hat die SPD-Vorsitzende mit großer Zustimmung ihrer Fraktion und ihrer Partei entschieden, mit der Linkspartei zwar keine Koalition einzugehen, aber für die Wahl zur Ministerpräsidentin auch auf deren Stimmen zu setzen. Das hat eine Abgeordnete sofort als Wortbruch abgelehnt, und drei andere Abgeordnete haben am Tag vor der schon angesetzten Wahl ebenfalls dieses Vorgehen als Wortbruch abgelehnt. Ohne sie war aber keine Mehrheit zu erreichen, die Wahl wurde abgesagt. Der ganze Vorgang hat vielfachen Ärger verursacht. Es gab moralische Verurteilungen und Rufe nach Parteiausschluss.

Im Bundestag gibt es die merkwürdige Praxis, dass nur bestimmte Abstimmungen als Fragen des Gewissens behandelt werden, so war das bei Fragen der Abtreibung, der Gentechnik und der Auslandseinsätze der Bundeswehr. Einzelne Abgeordnete haben sich aber auch in anderen Fällen auf ihr Gewissen berufen. So weiß ich, dass der SPD-Abgeordnete meines Wahlkreises in Bremen, der als rassisch Verfolgter nur überlebt hat, weil er in Holland vor den deutschen Truppen versteckt worden war, sich stets geweigert hat, dem Haushalt der Bundeswehr zuzustimmen. Er ging dann vor der Abstimmung zu Herbert Wehner und hat ihm das gesagt, und der hat das akzeptiert. Das ist auf jeden Fall besser als ein anonymes Nein erst in einer Wahl oder Abstimmung.

Trotzdem bleibt immer das Problem der Gewissensentscheidung, die der Mehrheit im Weg ist. Die Fraktionen, die Druck auf Abweichler ausüben, sagen, dass die Partei gegenüber ihren Wählern und Mitgliedern in der Pflicht ist und deshalb niemand Sonderwege gehen darf. Es ist der klassische Konflikt zwischen Mehrheit und Einzelnen. Und es entsteht die Frage, ob man die Entscheidung überprüfen kann, ob es wirklich eine Gewissensentscheidung ist. Kriegsdienstverweigerer wissen, dass man Gewissen nicht prüfen kann. Wer es versucht, missachtet nicht nur den ausdrücklichen Schutz der Gewissen sondern auch die über diesen Regelungen stehende Würde der Einzelnen. Man kann sich im Einzelfall ärgern, aber die Verfassung ist wichtiger.


Ulrich Finckh war 1971-2003 Vorsitzender der Zentralstelle KDV


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Quelle:
ZivilCourage Nr. 6 - Dezember 2008, S. 18
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
Kasseler Straße 1A, 60486 Frankfurt
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Januar 2009