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STANDPUNKT/130: Pazifistische Überlegungen zu Waffenlieferungen an den Irak (Forum Pazismus)


Forum Pazifismus Nr. 41/42 - I-II. Quartal 2014
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Militär und Krieg niemals befürworten, aber nicht unter allen Umständen gegen kriegerische Einsätze aktiv vorgehen
Pazifistische Überlegungen zu Waffenlieferungen an den Irak

Von Martin Otto


(Red.) Anfang September hat die DFG-VK unter der Überschrift "Keine weiteren Kriegswaffen in den Irak!" öffentlich dazu aufgerufen, die am 1. September (Antikriegstag!) vom Deutschen Bundestag nachträglich genehmigte Entscheidung der Bundesregierung über Waffenlieferungen in den Irak zurückzunehmen und die "politisch verfehlten und völkerrechtswidrigen Kriegswaffenlieferungen" aktiv zu behindern (www.dfg-vk.de/dateien/aufruf_keine_waffenlieferung_web.pdf). Unter diesem Aufruf wurden und werden Unterschriften gesammelt. Martin Otto, DFG-VK-Mitglied seit 1978, hat in dem hier veröffentlichten Text differenziert dargelegt, warum er als Pazifist diesen Aufruf nicht unterschreibt.

1. Ich bin Pazifist.

2. Ich bin kein "Pazifist" à la Rupert Neudeck, der in den ARD-"Tagesthemen" gefragt wurde, wie denn er "als Pazifist" zu militärischem Vorgehen gegen den Terror des "Islamischen Staats" stehen würde. Neudeck sagte, er befürworte dies. Eine solche Einstellung ist angesichts der IS-Gräueltaten verständlich, allerdings hat sie meines Erachtens mit Pazifismus nichts zu tun.

3. Ich befürworte militärisches Vorgehen gegen den IS und die Lieferung deutscher Waffen in den Irak nicht.

4. Als Pazifist kann ich die Lieferung von Kriegswaffen gar nicht befürworten, weil ich grundsätzlich gegen die Existenz von Kriegswaffen und Militär bin.

5. Ich hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn die Bundesregierung ihren Beschluss, Kriegswaffen in den Irak auszuführen, zurücknehmen würde.

6. Eine andere Sache wäre es, wenn ich durch Unterzeichnen des Aufrufs aktiv gegen den Regierungsbeschluss vorgehen oder selbst dem Aufruf Folge leisten würde.

7. Die im Aufruf angeführten Argumente gegen die Waffenlieferungen leuchten mir ein (es drohen weitere Menschenrechtsverletzungen mit deutschen Waffen/mit der Lieferung verstößt die Bundesregierung gegen das Gewaltverbot der UN-Charta); andererseits wird der Frage ausgewichen, wie die vom IS-Terror bedrohten Menschen kurzfristig geschützt werden könnten. (Margot Käßmann, Schirmherrin der Kampagne "Aktion Aufschrei" ist dieser Frage im Interview mit der Frankfurter Rundschau am 19. September nicht ausgewichen. Sie sagte: "Ich habe darauf nicht die eine, klare Antwort. Aber ich finde es zu einfach, bloß zu sagen: Waffen liefern! Vielleicht müssen wir es aushalten, dass wir alle miteinander hilflos und ohnmächtig sind angesichts dieser Gewalt." Und "Misereor" Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel, der sich in einem Kommentar gegen die Waffenlieferungen an die irakischen Kurden aussprach, schrieb, es gebe keine "richtige" Antwort darauf, wie das Grauen beendet und der Vormarsch des IS gestoppt werden könne. Vielleicht gebe es nur noch falsche Antworten, weil die Völkergemeinschaft den Zeitpunkt, zu dem es richtige hätte geben können, längst verpasst habe. Er sei sich der Tatsache bewusst, dass nicht-militärische Lösungsvorschläge nicht kurz-, sondern nur mittel- und langfristig greifen könnten.)

8. Ich befürworte alle Versuche gewaltfreier Konfliktlösung, verschließe aber auch nicht die Augen davor, dass sie in extremen Situationen nicht erfolgversprechend sind - jedenfalls nicht kurzfristig.

9. PazifistInnen sind davon überzeugt, dass kein Staat, keine Religion, kein System, kein Prinzip einen solchen Wert haben darf, dass ihm Menschenleben geopfert werden dürfen. Nun gibt es aber mit Gewalt ausgetragene Konflikte, in denen es wahrscheinlich ist, dass ein militärischer Einsatz eine geringere Anzahl von menschlichen Opfern bedeutet als der Verzicht auf den Einsatz. Wer in einem solchen Konflikt gegen den militärischen Einsatz aktiv wird, hilft mit, dass Menschenleben einem Prinzip geopfert werden: dem Prinzip des Pazifismus. Ein solches Verhalten wäre also unpazifistisch.

Allerdings ist es meines Erachtens ein falsches Verständnis von Pazifismus, wenn seine AnhängerInnen es für richtig halten, jeden Militäreinsatz aktiv zu be- oder zu verhindern, auch in extremen Situationen, in denen es offensichtlich ist, dass Menschen kurzfristig nicht durch Bemühen um gewaltfreie Konfliktlösung vor ihrer Ermordung bewahrt werden können.

Tatsächlich pazifistisch ist es meiner Meinung nach, die Existenz militärischer Rüstung und die Bereitschaft zur "Lösung" politischer Konflikte mit Gewalt niemals zu befürworten, andererseits jedoch nicht unter allen denkbaren Umständen gegen den Einsatz von Waffen oder die Androhung ihres Einsatzes aktiv vorzugehen.

10. In extremen Situationen (und der momentane IS-Terror ist nach meiner Meinung eine solche extreme Situation) stelle ich mir die Frage: Wie hätte ich mich wohl als englischer Pazifist während des Zweiten Weltkriegs verhalten? Ich nehme an, ich wäre nicht gegen Nazi-Deutschland in den Krieg gezogen, hätte aber auch keinen englischen Soldaten daran gehindert, es zu tun. (Man werfe mir bitte nicht vor, ich würde den Terror der deutschen Nazis mit dem Terror des IS gleichsetzen. Das tue ich nicht, denn es wäre eine Verharmlosung des Holocaust. Allerdings finde ich es erschreckend, wenn das deutliche Benennen von Terror als "Dämonisierung" hingestellt wird - auch wenn ich nicht verkenne, dass Kriege oft mit Lügen begonnen werden. Ich habe keine Veranlassung zu glauben, dass die Morde durch den Terror des IS weniger furchtbar sind als der Terror durch die Morde westlicher Drohnen.)

11. Gemäß meinem Motto "Frieden schaffen ohne Waffen" beteilige ich mich seit Jahrzehnten an gewaltfreien Aktionen gegen Rüstung und Militär und wurde als Folge davon mehrmals in Gefängnisse gesperrt. Andererseits stimme ich schon seit Jahrzehnten der These zu, die (formuliert von Theodor Ebert, wenn ich nicht irre) lautet: "Gewaltfreier Widerstand leugnet nicht die Tatsache, dass mit Gewalt kurzfristig erstrebenswerte Ziele erreicht werden können." Entsprechend sage ich heute: Pazifismus leugnet nicht die Möglichkeit, dass ein aus verwerflichen Motiven (z.B. aus wirtschaftlichen Interessen) heraus geführter Militäreinsatz auch zu einem erstrebenswerten Ziel (z.B. der kurzfristigen Eindämmung einer Völkermordgefahr) führen kann. Trotzdem befürworte ich Gewalt nicht, weil ich weiß, dass damit keine gewaltfreie Gesellschaft geschaffen werden kann. Das geht nur, wenn der Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt durchbrochen wird. Krieg kann nicht durch Militäreinsätze aus der Welt geschafft werden. Das geht nur mit der Weigerung, politische Konflikte mit Waffengewalt lösen zu wollen, und mit der Weigerung, diejenigen zu unterstützen, die Waffengewalt anwenden wollen.

12. Es ist denkbar, dass das Unterlassen von Waffenlieferungen an die KurdInnen im Irak eine größere Anzahl von Folterungen und Ermordungen unschuldiger Menschen zur Folge haben kann als die Lieferung von Waffen. Die Friedensbewegung hat nicht die Mittel (sprich: Waffen), um einen IS-Terroristen vom Töten abzuhalten, indem sie ihn tötet. Daher muss sie sich nicht vorwerfen lassen, sie würde dem Töten im Irak und in Syrien zusehen, ohne es mit Waffengewalt zu unterbinden, obwohl sie doch die Mittel hätte. Der deutsche Staat hat diese Mittel. Und so beschließt die Bundesregierung - gegen den Mehrheitswillen der deutschen Bevölkerung - Waffenlieferungen, weil sie sich nicht vorwerfen lassen will, sie würde dem Töten "tatenlos" zusehen, obwohl Deutschland doch über enorme militärische Mittel verfügt. Hier liegt das Problem! Diese Mittel müssen weg! Die Bundeswehr muss abgeschafft werden! Dann stellt sich auch nicht mehr die Frage, ob Waffenlieferungen aus Bundeswehrbeständen erfolgen sollen.


Martin Otto ist seit 1978 Mitglied der DFG-VK und aktiv in der DFG-VK-Gruppe Lahn-Dill.

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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit
Nr. 41/42 - I-II. Quartal 2014, S. 32 - 33
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen)
mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der DFG-VK,
Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für Pazifismus,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2015

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