Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → INITIATIVE

FREE GAZA/003: Solidarität als Macht (EI)


The Electronic Intifada - 17. Mai 2010

Solidarität als Macht

Von Ewa Jasiewicz


Im Laufe des Monats Mai werden Schiffe von unterschiedlichen Herkunftsländern im Mittelmeer zusammenkommen und sich zum besetzten und abgeriegelten Gaza-Streifen aufmachen. Freiheitsflotte nennt sich diese internationale Initiative.

Das Free Gaza Movement ist in den vergangenen Jahren bereits acht Mal nach Gaza aufgebrochen, davon fünf Mal tatsächlich dort angekommen. Die letzten drei Schiffe wurden durch die israelische Armee mit Gewalt dabei behindert, Gaza zu erreichen. Die Dignity wurde drei Mal gerammt, und die Spirit of Humanity im Januar 2009 abgedrängt, dann gekapert und alle, die an Bord waren, verhaftet.

Die Spirit of Humanity kurz vor dem Ablegen in Larnaka 2009

Die Spirit of Humanity kurz vor dem Ablegen in Larnaka 2009

Dieses Mal legen wir mit einer ganze Freiheitsflotte kräftig nach und rücken nicht mehr nur mit einem oder zwei Schiffchen an. Wir werden die israelische Belagerung mit acht Booten durchbrechen.

Früher konnte die israelische Marine unsere einzelnen Boote einfach überwältigen. Jetzt haben sie es mit acht Schiffen zu tun, darunter den vieren des Free Gaza Movement, 700 Passagieren und rund 5000 Tonnen Baumaterialien und medizinischen Hilfsgütern. Eines unserer Boote ist das MS Rachel Corrie, die dank der großzügigen Spenden der Perdana Global Peace Foundation aus Malaysia erworben werden konnte.

MS Rachel Corrie - frisch gestrichen und abfahrbereit

MS Rachel Corrie - frisch gestrichen und abfahrbereit

Die israelische Regierung begegnet der "Intifada vom Meer" mit Säbelrasseln und Beschuldigungen. Angeblich arbeiten wir Hamas in die Hände. Israel wettert gegen die türkische Menschenrechts- und Hilfsorganisation Insani Yardim Vakafi (IHH). IHHs Beitrag zur Freedom Flotilla besteht in der Entsendung eines Frachtschiffs und eines Passagierschiffs. Dafür wird die Organisation und ebenso die Free Gaza-Bewegung der "Unterstützung des Terrorismus" bezichtigt. Die halbe israelische Marine sitzt in den Startlöchern, um der Initiative zu begegnen, und der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak persönlich lässt es sich nicht nehmen, diese Operation zu befehligen. Die israelische Luftwaffe ist ebenfalls in Alarmbereitschaft, und hinter den Kulissen wird "diplomatischer Druck" ausgeübt. Israel lässt unmissverständlich verlauten: "Wir lassen euch nicht durchkommen, und wenn es sein muss, mit Gewalt."

Die Freedom Flotilla wird aber sowieso kein israelisches Gewässer tangieren. Die Route beginnt in europäischem oder türkischem Gewässer, verläuft dann durch internationale Gewässer und wird schließlich in gazauischem Gewässer enden. Keine Kontrollpunkte werden uns im Weg sein. Keine Mauern werden uns die Sicht verstellen. Wir haben bereits bewiesen, dass es möglich ist - so wie wir uns die Welt wünschen: - auf einem klaren Kurs ohne Grenzen zu segeln und auf diese Weise Gaza zu erreichen. Free Gaza lässt sich vielleicht am besten als Taktik beschreiben, eine in die Praxis umgesetzte Taktik innerhalb eines ganzen Bündels von Taktiken, die in der weltweiten Solidaritätsbewegung wirksam sind. Es ist allerdings eine kostspielige Taktik, und nicht wenige sehen die Hunderttausenden von Dollars, die in die Suche nach Booten geflossen sind, skeptisch. Sie haben Zweifel am Sinn des Aufwands für Registrierung, Beflaggung, rechtliche Aufwendungen, Management, Hafengebühren, Löhne für die Mannschaft, Reparaturen, Liegegebühren, Umbau, GPS, Lagerkosten für die Fracht, Anmietung von Kränen und Gabelstaplern. Insgesamt belaufen sich die Kosten für die Flotte tatsächlich auf Millionen von Euro. Manche fragen sich: "Wäre das Geld nicht besser in Form von 'Hilfe' ausgegeben?"

MS Rachel Corrie - Aufnahme letzter Ladung vor dem Ablegen

MS Rachel Corrie - Aufnahme letzter Ladung vor dem Ablegen

Jede palästinensische Familie, die wir in Gaza - besonders nach der israelischen Invasion vom vergangenen Winter - kennengelernt haben, sagte uns immer wieder: "Wir wollen keine Hilfe, wir brauchen eine politische Lösung, die Anerkennung und Durchsetzung unserer Rechte brauchen wir. Unser Anliegen ist nicht auf Essenspakete zu reduzieren oder in Säcken Mehl oder Getreide aufzuwiegen. Palästina ist kein humanitäres - es ist ein politisches Problem." Diese Tatsache und der Mangel an Gerechtigkeit stellen die humanitäre Industrie in Palästina auf den Prüfstand und sie entlarven die falsche "Objektivität" und das Fehlen des politischen Willens angesichts des Leidens der Menschen, wenn es heißt: "Wir sind vollkommen unparteiisch und leisten weiterhin humanitäre Hilfe."

Nun, wir nehmen allerdings Partei - die der direkten Demokratie und gegen Besatzung und Apartheid.

Diese Flotte unterbricht einen Macht-Diskurs, der da lautet: Die Regierungen werden es schon richten, überlassen wir es ihnen, neue "Freiräume" auszuhandeln und die Realität umzumodeln. Es ist die Fortführung des Diskurses, der nicht nur von oben nach unten geführt wird, sondern vielmehr nur noch zwischen oben und oben und zu nichts anderem dient als den normalen Menschen jeglichen Einfluss vorzuenthalten. Führer fliegen von einem Kontinent zum anderen, Runde Tische drehen sich unablässig, "weiße Elephanten" - die unausgesprochenen grundlegenden Themen - trampeln und trompeten unbeachtet. Die Gaza Freedom Flotilla nimmt sich die Macht-von-unten zurück und nutzt sie, um der weiterhin stattfindenden Nakba - der palästinensischen Katastrophe - Einhalt zu gebieten.

Eins der türkischen Schiffe der Gaza Freedom Flotilla

Eins der türkischen Schiffe der
Gaza Freedom Flotilla

Wir sind nicht aufzuhalten. Die Geschichte wiederholt sich seit 1948 bis heute: Siedlungen werden unablässig erweitert, Firmen ernten die Früchte fortgesetzter Repression, tagtägliche Enteignungen und Tötungen sind zur Normalität geworden, und die Entfremdung von den Produkten unserer Arbeit und unseres Tuns hält uns in getrennten Lagern gefangen. Die Besatzung reproduziert sich im Alltag der Fabriken, der Klassenzimmer, der Gerichte, der Kinos, der Galerien, der Supermärkte und der Ferienparadiese. Radikale Verweigerung, radikale Überschreitung kann eine wirkliche Veränderung herbeiführen. Die Entfremdung von unseren Schwestern und Brüdern nicht mitzumachen und unsere Verbundenheit anzuerkennen - das ist Solidarität ihrem Wesen nach.

Die Gaza Freedom Flotilla nimmt sich die Macht-von-unten zurück

Die Gaza Freedom Flotilla nimmt sich die Macht-von-unten zurück

Die Flotilla bedeutet radikale Solidarität und eine Macht, die wirksam ist, wenn Menschen aus der ganzen Welt ihrem Gewissen folgen. Eine Macht, die tatsächlich wirksam ist, indem wir uns nach draußen begeben oder die Firmen angehen, die von der Besatzung profitieren; indem wir deutlich Stellung beziehen; indem wir in Moscheen, Kirchen, Synagogen, Schulen sammeln; indem wir schreiben, singen, spielen, uns verbinden und austauschen, mobilisieren und vorantreiben, und indem wir Zement und andere Materialien, die gebraucht werden, zusammenpacken und transportieren, mit Fröhlichkeit und Gebeten vorangehen und Protest gegen die Angriffe einlegen, mit denen wir rechnen müssen.

Israel könnte es gelingen, uns an der Weiterfahrt zu hindern. Doch das ist ungewiss, und darin liegt auch eine gewisse Macht. Das, was noch nicht geschehen ist, können wir immer noch herausfordern und beeinflussen.

Als Rachel Corrie dem Fahrer des Bulldozers gegenüber stand, der sie umbrachte, war ihr Verhalten von einem radikalen Vertrauen bestimmt - dem Vertrauen darauf, dass der Soldat sie als Menschen wahrnehmen würde. Sie hat verloren, weil der Soldat seine Menschlichkeit verloren hatte. Doch Rachels Überzeugung lebt in uns allen fort. Wenn auch unsere Unterdrücker ihre Menschlichkeit verlieren, dürfen wir nicht aufhören ihnen zu zeigen, daß wir unsere noch besitzen. Wir machen uns im Geiste derer, die gekämpft und ihre Leben für unser aller Menschlichkeit verloren haben, auf den Weg nach Gaza. Und wir wollen alle, die Augen haben zu sehen, an die Notwendigkeit zu handeln erinnern.

Ewa Jasiewicz ist eine der Koordinatorinnen des Free Gaza Movement (http://www.freegaza.org/).

Übersetzung aus dem Englischen: Sophia Deeg

Englischer Originaltext:
http://electronicintifada.net/v2/article11266.shtml
© Ewa Jasiewicz


The Electronic Intifada (EI), unter electronicIntifada.net, veröffentlicht Nachrichten, Kommentare, Analysen und Grundlagenmaterialien über den israelisch-palästinensischen Konflikt aus einer palästinensischen Perspektive. EI ist das führende palästinensische Portal für den israelisch-palästinensischen Konflikt und seine Darstellung in den Medien.



Die Fotos stehen unter einer Creative Commons-Lizenz
http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/deed.de
Quelle: http://www.flickr.com/photos/freegaza/


*


Quelle:
The Electronic Intifada, 17. Mai 2010
MECCS/EI Project
1507 E. 53rd Street, #500
Chicago, IL 60615, USA
Fax: 001-(646) 403-3965
E-Mail: info@electronicIntifada.net
Internet: http://electronicintifada.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Mai 2010