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FREE GAZA/141: Internationale Solidarität und das Massaker gegen die Freedom-Flottille (EI)


The Electronic Intifada (Editorial) - 31. Mai 2010

Internationale Solidarität und das Massaker gegen die Freedom-Flottille


Heute früh im Schutz der Dunkelheit stürmten israelische Soldaten das Leitschiff des sechs Boote umfassenden Hilfskonvois der Freedom-Flottille in internationalen Gewässern. Sie töteten und verletzten Dutzende von Zivilisten an Bord. Sämtliche Schiffe wurden durch israelische Kräfte gewaltsam aufgebracht. Noch Stunden nach dem Überfall wurde nichts über das Schicksal der Passagiere an Bord der anderen Schiffe bekanntgegeben.

Auf der Mavi Marmara waren etwa 600 Aktivisten, als sie von israelischen Kriegsschiffen eingekesselt wurde. Soldaten seilten sich von Hubschraubern auf das Deck ab. Berichte von Menschen an Bord, die durch vom türkischen Fernsehen ausgestrahlte Videofeeds bestätigt wurden, zeigen, daß die israelischen Einsatzkräfte scharfe Munition gegen zivile Mitreisende einsetzten, von denen sich einige mit Stöcken oder anderen Gegenständen dem Angriff widersetzten.

Die Freedom-Flottille wurde von einer Koalition aus Gruppen organisiert, die damit gemeinsam die seit 2007 existierende israelische Blockade des Gazastreifens durchbrechen wollten. Insgesamt hatte die Flottille 700 zivile Aktivisten aus über 50 Ländern an Bord und über 10.000 Tonnen an Hilfsgütern, darunter Nahrungsmittel, Arzneimittel, medizinische Geräte, sowie Baumaterialien und -ausrüstungsgegenstände, neben anderen lebenswichtigen Gütern, deren Einfuhr willkürlich von Israel verboten wurde.

Bis 18:00 Uhr Jerusalemer Zeit sprachen die meisten Medien noch davon, daß bis zu 20 Menschen getötet worden seien und noch mehr verletzt. Dessen ungeachtet hielt Israel die genauen Angaben zurück, ebenso wie die Namen der Toten und Verletzten. Von Mitreisenden auf den Schiffen, die über Twitter von den Fortschritten der Flottille berichteten, hatte man seit vor dem Überfall nichts mehr gehört. Versuche, Passagiere per Satelliten-Telephon zu erreichen schlugen fehl. Das arabisch- und englischsprachige Al-Jazeera Network verlor den Kontakt zu einem halben Dutzend Mitarbeiter, die mit der Flottille gereist waren.

Nachrichten über das Massaker an Bord der Freedom-Flottille tauchten bei Anbruch des Tages im östlichen Mittelmeerraum zunächst über das "live feed" des Schiffes in den Sozialen Medien auf, im türkischen Fernsehen und bei Al-Jazeera. Israelische Medien wurden einer strengen militärischen Nachrichtensperre unterstellt und stützen sich in erster Linie auf ausländische Quellen. Dennoch berichtete die "Jerusalem Post" am Morgen, daß Soldaten, welche die Flottille in internationalen Gewässern geentert hatten, von Passagieren beschossen worden wären. Anonyme Militärinformanten zitierend behauptete die Jerusalem Post, die Mitreisenden der Flottille hätten ein "gut durchdachtes Lynchkommando" inszeniert. ("IDF: Soldiers were met by well-planned lynch in boat raid") [1]

Die israelische Tageszeitung Haaretz berichtete ebenfalls, israelische Soldaten seien bei dem Versuch angegriffen worden, an Bord der Flottille zu gelangen. ("At least 10 activists killed in Israel Navy clashes onboard Gaza aid flotilla") [2]

Die Mär von Passagieren, die israelische Soldaten überfielen, wurde eilig von "Associated Press" übernommen und über die Mainstream-Medien der Vereinigten Staaten, einschließlich der Washington Post weiterverbreitet. ("Israeli army: More than 10 killed on Gaza flotilla") [3]

Der israelische Vizeaußenminister Danny Ayalon erklärte Montag früh in einer Pressekonferenz, daß die israelischen Soldaten in "Notwehr" gehandelt hätten. Er behauptete, "mindestens zwei Gewehre" seien gefunden worden und daß der "Zwischenfall" immer noch andauere. Ayalon behauptete außerdem, daß die Organisatoren der Flottille "allgemein bekannt" wären und von "internationalen terroristischen Organisationen" unterstützt würden, zu denen sie gute Verbindungen hätten.

Es ist nicht zu verstehen, wie irgendjemand das israelische Märchen von der "Notwehr" für glaubwürdig halten konnte, zumal Israel einen nicht provozierten, bewaffneten Überfall auf zivile Schiffe in internationalen Gewässern durchführte. Jedes Recht zur "Selbstverteidigung" war durchaus auf Seiten der Passagiere. Darüber hinaus hatten die Organisatoren der Freedom-Flottille laut und deutlich verlautbaren lassen, daß es sich bei ihren Schiffen um unbewaffnete zivile Schiffe in humanitärer Mission handele.

Die israelische Medienstrategie besteht offenbar darin, die Nachrichtensperre über Angaben wie die Anzahl der Toten und Verletzten, die Namen der Opfer und auf welchen Schiffen Menschen verletzt wurden, aufrechtzuerhalten, während sie gleichzeitig ihre Version der Ereignisse aggressiv verbreiten. Letzteres beruht auf der Doppelstrategie, einerseits auf der wenig glaubwürdigen "Notwehrhandlung" zu bestehen und andererseits die Teilnehmer der Freedom-Flottille zu dämonisieren und nahezulegen, daß sie letztlich nur das bekommen hätten, was sie verdienten.

Während diese Nachrichten in aller Welt verbreitet wurden, fingen die Regierungen im Ausland an zu reagieren. Die Türkei und Griechenland, die viele Zivilisten an Bord der Flottille hatten, riefen unverzüglich ihre Botschafter aus Tel Aviv zurück. Spanien verurteilte den Überfall auf das Schärfste. Der französische Außenminister Bernard Kouchner erklärte er sei "zutiefst schockiert". Die Außenbeauftragte der Europäischen Union, Catherine Ashton, forderte eine "Untersuchung".

Folgendes sollte klar sein: Niemand kann behaupten, das, was das Palästinensische Zentrum für Menschenrechte [PCHR] zu Recht als "abscheuliches Verbrechen" bezeichnet, habe ihn überrascht. Israel hatte schon seit Tagen offen mit einem gewaltsamen Angriff auf die Flottille gedroht. Allein die Selbstgefälligkeit, die Komplizenschaft und Passivität vor allem westlicher und arabischer Regierungen gaben Israel wieder einmal wortlos zu verstehen, in vollkommener Straffreiheit handeln zu können.

Es besteht wohl kein Zweifel daran, daß das israelische Massaker an 1.400 hauptsächlich zivilen Personen in Gaza, zum Jahreswechsel 2008/2009, als Wachrütteln der internationalen zivilen Gesellschaft verstanden werden sollte, um endlich Maßnahmen wie Boykott, Abzug von Investitionen [engl.: Desinvestment/Divestment] und Sanktionen (kurz: BDS) über Israel zu verhängen, wie zuvor über Südafrika während der Apartheid-Ära.

Statt dessen verharren die meisten Regierungen in ihrer selbstgefälligen und befürwortenden Mittäterhaltung gegenüber der fortgesetzten israelischen Gewalt und Unterdrückung, die sowohl Palästinenser, aber zunehmend auch internationale, humanitäre Arbeiter und Solidaritätsaktivisten, nicht nur in Gaza, sondern in ganz Palästina (historisch gesehen) betrifft. Wäre die frühere israelische Außenministerin Tzipi Livni tatsächlich wegen ihrer Kriegsverbrechen in Gaza inhaftiert worden, als ein Londoner Gericht Haftbefehl gegen sie beantragte, hätte zudem die internationale Gemeinschaft begonnen, die Empfehlungen des von der UN in Auftrag gegebenen Goldstone-Reports zu befolgen, und wäre eine deutlichere Antwort auf Israels Attentat auf ein Mitglied der Hamas in Dubai erfolgt, würde es Israel unserer Ansicht nach heute wohl nicht mehr wagen, mit einer solchen Brutalität vorzugehen.

Wenn die Protest- und Solidaritätsbekundungen in Palästina und über der ganzen Welt beginnen, sollten sie folgende Botschaft tragen: Schluß mit der Straflosigkeit, Schluß mit der Komplizenschaft, Schluß mit israelischen Massakern und Apartheid. Von nun an Gerechtigkeit!

[1] http://www.jpost.com/Israel/Article.aspx?id=176970
[2] http://www.haaretz.com/news/diplomacy-defense/israel-navy-commandos-gaza-flotilla-activists-tried-to-lynch-us-1.293089
[3] http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2010/05/30/AR2010053000985.html?hpid=sec-world
[4] http://electronicintifada.net/v2/article11303.shtml

Weitere Artikel unter EI: Palestine: Opinion/Editorial:
The Flotilla attack and Turkey's views of Palestine (1 June 2010)
http://electronicintifada.net/v2/article11310.shtml
Palestine: Human Rights: "No other options:" Gaza's tunnel industry (1 June 2010)
http://electronicintifada.net/v2/article11309.shtml
Palestine: Diaries: Live from Palestine: Besieged Palestinians outraged over Israel's attack on Flotilla (1 June 2010)
http://electronicintifada.net/v2/article11308.shtml
Palestine: Diaries: Live from Palestine: Thousands rally for Freedom Flotilla in Stockholm (1 June 2010)
http://electronicintifada.net/v2/article11307.shtml
Palestine: Activism News: Gazans unite in call for solidarity with Freedom Flotilla (31 May 2010)
http://electronicintifada.net/v2/article11306.shtml
Palestine: Opinion/Editorial: International solidarity and the Freedom Flotilla massacre (31 May 2010)
http://electronicintifada.net/v2/article11305.shtml
Palestine: Action Items: Action alert: Call your governments, demonstrate support for Freedom Flotilla (31 May 2010)
http://electronicintifada.net/v2/article11304.shtml
Palestine: Human Rights: Rights org condemns "hideous" attack on Freedom Flotilla (31 May 2010)
http://electronicintifada.net/v2/article11303.shtml
Palestine: Opinion/Editorial: The Gaza flotilla and the ironies of history (30 May 2010)
http://electronicintifada.net/v2/article11302.shtml
Palestine: Opinion/Editorial: Freedom Flotilla exposes international community's failure (28 May 2010)
http://electronicintifada.net/v2/article11301.shtml


Anmerkungen der Schattenblick-Redaktion:

Englischer Originaltext:
http://electronicintifada.net/v2/article11305.shtml
© ei

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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
- Mavi Marmara von israelischer Marine flankiert
- Israelische Soldaten an Bord der Mavi Marmara
- Ein Passagier an Bord der Mavi Marmara trägt eine blutige Tragbahre


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Quelle:
The Electronic Intifada, 31.5.2010
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Internet: http://electronicintifada.net
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2010