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STANDPUNKT/228: Angstlust (Sami Omar)


Angstlust

von Sami Omar, 5. Januar 2018


Im Grenzland von Bedrohung und Erregung lebt die Angstlust. Man findet sie in Momenten, in denen man sich lustvoll einer beherrschbaren Angst hingibt, um daraus eine wohlige Aufregung zu generiere. Sie folgt eigenen Gesetzen. Sie ist expansiv, impulsiv - ein Ding für sich. Bergsteiger_innen kennen sie. Drogenkonsument_innen leben mit ihr. AfD-Anhänger_innen brauchen sie. Sie brauchen sie, weil die AfD sich aus vornehmlich zwei Dingen nährt: Dem Glauben an den Zustand der eigenen Entrechtung und dem Glauben an akute Bedrohung. Angstlust schafft Arbeitsplätze in Redaktionen und Parteibüros.

Erst in der vergangenen Woche war wieder zu beobachten, wie sie für die völkische Rechte medial nutzbar gemacht wurde. In einer Studie, die das Bundesfamilienministerium in Auftrag gegeben hatte, werteten die Kriminologen Christian Pfeiffer, Dirk Baier und Sören Kliem Daten der polizeilichen Kriminalstatistiken aus. Diese bezogen sich auf das Land Niedersachsen, dessen Justizminister Professor Christian Pfeiffer von 2000 bis 2003 war. Die Studie stellt einen Zusammenhang zwischen Kriminalitätsanstieg und dem Zuzug von Geflüchteten her, indem sie sagt, dass der Anstieg der Gewalttaten um 10,4 Prozent zu über 90 Prozent Geflüchteten zuzurechnen sei.

Um Angstlust an zu feuern und nutzbar zu machen, muss man mit den Erkenntnissen dieser Studie nichts weiter tun, als die Interpretation der Wissenschaftler und anderer besonnener Menschen weg zu lassen. Man muss verschweigen, dass Geflüchtete und Migrant_innen an sich deutlich bereitwilliger angezeigt werden (doppelt so oft), als Bürger, die der Mehrheitsgesellschaft zugeordnet werden. Man muss verschweigen, dass Kriminalstatistiken Anzeigen erfassen, keine Verurteilungen und in diesem Sinne der Unschuldsvermutung vorgegriffen wird, wenn man Verdächtige und Täter gleich setzt. Und man muss zumindest vernachlässigen, dass Gewalttaten von Geflüchteten in den Jahren 2014 bis 2016 - dem Zeitraum, den die Studie behandelt - zu großen Teilen Gewalttaten unter Geflüchteten sind (75 Prozent).

In dieser Zeit kam es in den massiv überbelegten Notunterkünften Land auf und Land ab zu unzähligen Polizeieinsätzen, die das gestiegene Aggressionspotential von Menschen ein zu fangen hatten, die unfreiwillig, auf engstem Raum und nach teils traumatischen Fluchterfahrungen zusammenlebten.

All dies zu negieren und auf die Verunsicherung der Leser_innen und Zuschauer_innen zu setzen, ist derzeit der Treibstoff vieler Debatten, die Parteien und Redaktionen nützten, aber keinesfalls dem Zusammenleben der Bürger_innen - ob alt oder neu.

Angstlust klingt in den Ohren mancher, als verspotte man jene, die sich wirklich fürchten und tatsächlich Angst empfinden, die sie nicht ablegen oder eindämmen können.

Aber ich behaupte, dass das die Minderheit derer ist, die über Geflüchtete reden, als seien sie eine Bedrohung oder ein Assimilierungsprojekt. Xenophobie ist in diesem Sinne keine Phobie, sondern eine Geisteshaltung.

Ein großer Teil der Menschen sehnt sich danach, die Debatte um Flucht und Migration zu "gewinnen" - als sei damit irgendjemandem geholfen. Neben vielen Schreihälsen im Internet findet man auch im Fernsehen immer wieder Belege für eine vergleichsweise subtile Form dieser Haltung. Claus Strunz, der Inhaber der Maz & More TV Produktion, die das Sat.1-Frühstücksfernsehen herstellt, kommentiert in eben dieser Sendung die Ergebnisse der Studie aus Niedersachsen:

"Alles, was Menschen, die mit offenen Augen und gesundem Verstand durchs Leben gehen seit knapp zwei Jahren sehen und sagen, ist jetzt amtlich. Diejenigen, die das stets weggeredet, verharmlost, die ihre Kritiker als zu ängstlich, dumm oder rechtsradikal herabgewürdigt haben - also alle Politiker in Regierungsverantwortung, außer der CSU - werden jetzt umdenken müssen."

Was Claus Strunz hier im Gestus der Volksfürsorge und des fehlgeleiteten Stolzes fragt, ist im Kern:

Warum fürchtet ihr Euch nicht endlich?

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Quelle:
© 2018 by Sami Omar
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2018

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