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BERICHT/006: Geschäftsidee Wohnungsnot - Mieter am Kottbusser Tor wehren sich gegen ihre Vertreibung (SB)


Verwaltung von Sozialwohnungen in den Händen von Finanzhaien

Berliner Mieterinitiative Kotti & Co protestiert gegen steigende Mieten im Sozialen Wohnungsbau

In vielen Staaten werden Menschen aus ihren Wohnungen und Häusern vertrieben, ihres vertrauten sozialen Umfelds beraubt, entwurzelt. Sogar im reichen Deutschland. Neben der unmittelbaren Vertreibung aufgrund eines als höher angesehenen Rechts, das beim Bau von Autobahnen und anderen Infrastruktureinrichtungen oder auch beim Landraub in Form des Braunkohle-Tagebaus geltend gemacht wird, existieren mannigfache Formen der Verdrängung aufgrund eines ökonomischen Drucks durch steigende Mieten. Letzterem sind zahlreiche Menschen in der deutschen Hauptstadt Berlin ausgesetzt, einer "Boomtown", in der vor allem die zentrumsnahen Stadtteile die Begehrlichkeiten von Investoren, Spekulanten und ihren an der "Aufwertung" der Gebiete interessierten Türöffnern in der Senatsverwaltung wecken.

Nach der Wiedervereinnahmung der DDR und mit der Verlegung des Regierungssitzes in die alte Reichshauptstadt wurden in Berlin gewaltige Bauprojekte verwirklicht. Dieser Trend hält im Jahr 2012 an, wobei inzwischen weniger die urbanen Leerflächen mit architektonischen Konstruktionen "beglückt" werden, sondern vermehrt vorhandene Bausubstanz durch Modernisierung aufgewertet wird. Bei dieser Aufwertung, im übergreifenden Sinn Gentrifizierung genannt, findet typischerweise ein Strukturwandel statt von Alteingesessenen, die teils seit Jahrzehnten in ihrem Stadtteil leben, zu einer betuchteren Klientel, die sich höhere Mieten oder gar in Eigentumswohnungen umgewandelte ehemalige Mietwohnungen leisten kann. In diese Viertel ziehen im gleichen Zeitrahmen Geschäfte, Bars und Restaurants für "gehobenere" Kundschaft hinterher.

Drei Personen sitzen in der mit Infomaterial und bunten Plakaten beklebten Palettenhütte - Foto: © 2012 by Schattenblick

Sachkundig und engagiert - Mieterinitiative Kotti & Co gegen Vertreibung
Foto: © 2012 by Schattenblick


Kotti & Co - die Anfänge

So alt in Berlin die Gentrifizierung, so alt auch der Widerstand dagegen. Seit Anfang der 1980er Jahre kam es zu Wellen von Hausbesetzungen, die bis in die heutige Zeit hineinschwappen. Erst im vergangenen Jahr wurde die Liebigstraße 14 [1] von der Polizei gewaltsam geräumt, um ein Beispiel zu nennen, das breitere Medienaufmerksamkeit erlangt hat. Das Ringen und Kämpfen um den Erhalt des Werkstattprojekts Linienhof [2] und anderer besetzter Häuser zeugen davon, daß es an erschwinglichem Wohnraum mangelt.

Unter all den vielen Bewegungen, Initiativen und Protesten gegen Verdrängung und Vertreibung aus angestammten Wohnquartieren macht die im März vergangenen Jahres gegründete Mietergemeinschaft Kotti & Co in letzter Zeit verstärkt von sich reden [3]. So rief sie am 16. Juni zum inzwischen dritten Mal zu einer "Lärm-Demo" auf, dem mehrere hundert Personen gefolgt waren.

Worum geht es in diesem Konflikt? An der südlichen Seite des Kottbusser Tores stehen mehr als ein halbes Dutzend Hochhäuser mit etwa 1000 Sozialwohnungen, die von einem für Kreuzberg typischen kulturellen Gemisch bewohnt werden. Im Anschluß an ein Stadtteilfest am letzten Mai-Wochenende haben die Mieterinnen und Mieter kurzerhand eine zu diesem Zweck errichtete Veranstaltungshütte aus Paletten nicht wieder abgebaut, sondern zum Zentrum einer Besetzung gemacht. "Gecekondu" nennt sich auf türkisch das Errichten einer Hütte innerhalb einer Nacht. Das Protestlager ist seitdem rundum die Uhr besetzt, ein Ende nicht geplant oder, anders gesagt, es liegt in den Händen des SPD/CDU-Senats, auf die Forderungen der Mieterinitiative einzugehen und dadurch den Anlaß ihrer Proteste hinfällig zu machen.

Hochhäuser am Kottbusser Tor - Foto: © 2012 by Schattenblick

Reichlich Rendite mit der Miete
Foto: © 2012 by Schattenblick

Jene Hochhäuser am Kottbusser Tor gehören der im Jahr 2004 an ein Konsortium privater Eigentümer - Whitehall (Goldman Sachs) und Cerberus - verkauften städtischen Wohnungsbaugesellschaft GSW und der seit dem Bau dieser Wohnhäuser privaten Admiral-Grundstücks GmbH/Hermes-Hausverwaltung. Ursprünglich waren die Sozialwohnungen zu relativ günstigen Mieten zur Verfügung gestellt worden. Doch im Jahr 2003 beschloß der rot-rote Senat mit dem damaligen Finanzsenator Thilo Sarrazin den schrittweisen Ausstieg aus der sogenannten Anschlußförderung im sozialen Wohnungsbau, der den Vermietern bis dahin Millionensummen in die Kassen gespült hatte.

Unmittelbar betroffen von diesem Schritt der politischen Entscheidungsträger sind nun die Mieterinnen und Mieter von etwa 28.000 Berliner Sozialwohnungen, von denen quasi ersatzweise jene Millionensummen eingefordert werden. Denn der Abbau der Subventionen hat zur Folge, daß die Eigentümer die Mieten auf das Niveau der "Kostenmiete" erhöhen dürfen, welche am südlichen Kottbusser Tor bei bis zu 14 Euro/qm Wohnfläche liegt. Weil der Senat bislang für die Differenz zwischen der Kostenmiete und der staatlich festgelegten Sozialmiete aufgekommen ist, gleichzeitig die profitorientierten Wohnungsbaugesellschaften nicht einmal auf ihre in der Kostenmiete bereits eingerechnete Rendite von etwa 6,5 Prozent verzichten wollen, werden die Schwächsten in diesem ungleichen "Spiel", nämlich die Mieter, kräftig zur Kasse gebeten.


Herrschaftsförmige Bevölkerungspolitik - "Durchmischung" statt Zusammenhalt

Wie in anderen Berliner Vierteln setzt nun auch am Kottbusser Tor in Kreuzberg eine erzwungene Abwanderung jener Haushalte ein, die sich die höheren Mieten nicht leisten können. Es sieht so aus, als ob das keine zufällige Folge einer unerwünschten Fehlentwicklung, sondern politisch gewollt ist. Sind doch rund 80 Prozent der Haushalte in den Hochhäusern am Kottbusser Tor türkischer Herkunft. Wie sagte es noch der Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Ephraim Gothe, laut Kotti & Co auf einer von der Mieterinitiative mitorganisierten Veranstaltung im Berliner Abgeordnetenhaus am 29. Februar dieses Jahres? Das Kotti brauche mehr "Durchmischung". [4]

Aus Sicht der Stadtoberen ist Kreuzberg nur dann richtig "durchmischt", wenn kein Zusammenhalt der Einwohner untereinander entsteht. Nichts haben die vorherrschenden Interessen aus Politik und Wirtschaft mehr zu fürchten, als wenn sich die Menschen nicht gegeneinander ausspielen lassen, weil sie in der Not des anderen die eigene Lage erkennen. Das würde die soziale Ordnung in oben und unten empfindlich stören.

Ja, die Mietsteigerungen gehen über das Maß der Minderung der Subventionen hinaus, bestätigte der an den Protesten beteiligte Detlev K. [5] auf Nachfrage des Schattenblicks bei einem Besuch des Protestlagers am 31. Mai dieses Jahres. Das Ergebnis dieses Kurzpaßspiels zwischen Politik und Wirtschaft nimmt geradezu kafkaeske Züge an, denn inzwischen erklärt das Jobcenter Kreuzberg-Friedrichshain den Hartz-IV-Beziehern, daß sie, bitte schön, die "Kosten der Unterkunft" senken sollten. Im Ergebnis dürfte diese Aufforderung darauf hinauslaufen, daß sich die Einwohner preiswertere Wohnungen suchen müssen - und die gibt es, wenn überhaupt, bald nur noch in der Peripherie Berlins, fern der vertrauten Umgebung, den Kita-Plätzen, Schulen und womöglich auch Arbeitsplätzen.

Kotti & Co macht laufend mit Aktionen auf die mißliche Lage der Mieter und den sich verschärfenden Wohnmißstand aufmerksam. Auch hat sich die Initiative mit anderen Mieterorganisationen zusammengeschlossen, Politiker zu runden Tischen eingeladen und Informationsveranstaltungen organisiert. Zu den zentralen Forderungen gehört eine Kappungsgrenze des Mietpreises bei 4 Euro/qm (netto, kalt) für die Sozialwohnungen am Kottbusser Tor. Darüber hinaus hat die Mietergemeinschaft politische Überlegungen an- und entsprechende Forderungen aufgestellt, um die offensichtliche Fehlentwicklung, daß in Berlin das Niveau von inzwischen rund 40 Prozent der Sozialmieten über dem Vergleichsmietensystems liegt, grundsätzlich zu beheben. Verlangt wird beispielsweise eine Novellierung des Berliner Wohnraumgesetzes und die Kommunalisierung des Sozialen Wohnungsbaus. Entsprechende Vorschläge müßten spätestens im Herbst auf einer einzuberufenden Konferenz erarbeitet werden, lautet eine weitere Forderung, über die sich jeder und jede Interessierte im Protestlager im Gespräch mit den Besetzern oder anhand des dort ausliegenden Informationsmaterials ausführlich in Kenntnis setzen kann.

Das Gecekondu von der anderen Straßenseite aus - Foto: © 2012 by Schattenblick

Mieterproteste am Kotti - Gegen das Versteckspiel des Senats
Foto: © 2012 by Schattenblick

Da reduziert die Stadt die Subventionen, umgekehrt steigen Jahr für Jahr die Mieten, und als Folge sollen die Mieter ihre Sozialwohnungen räumen? Alles andere, als dieses perfide Spiel nicht zumindest als von der Politik bereitwillig geduldet zu bezeichnen, wäre naiv. Hier manifestiert sich eine kaum verhohlene bevölkerungspolitische Zwangsmaßnahme mit der Funktion, eine an Attraktivität gewonnene Wohnlage mittels Vertreibung der angestammten Bevölkerung aufzuwerten und gleichzeitig einen Stadtteil zu "durchmischen". Daß vier von fünf Haushalten in den rund 1000 Sozialwohnungen am südlichen Kottbusser Tor türkische Wurzeln aufweisen, stört die Behörden offenbar. Die setzten bereits kurz nach der Wende, als der Stadtteil Kreuzberg seine unattraktive Randlage verlor, rücksichtslos ihre administrative Verfügungsgewalt ein, um eine Gettobildung der türkischen Bevölkerungsanteile zu unterbinden. Viele türkische Einwohner bekamen "Zuzugsperre für den Bezirk Kreuzberg" in ihre Pässe gestempelt. Mit einer Gettobildung als Folge sozialer Benachteiligung hat man in der Senatsverwaltung offenbar weniger Probleme. Das könnte beinahe dazu anregen, weitere Protestlager in Berlins Nobel-Vororten zu errichten, um auch diese etwas stärker zu durchmischen ...

In den Hochhäusern am südlichen Kottbusser Tor zahlt inzwischen jede zweite Familie 40 bis 50 Prozent ihres Einkommens für die Miete, Tendenz steigend. Der Wohnkomplex wird als eine von 16 "problematischen Großraumsiedlungen" der Kategorie I bezeichnet. Für sie war noch bis zum vergangenen Jahr eine "Kappungsgrenze" von 5,35 Euro/qm Wohnfläche eingeräumt worden. Hier habe der letzte Senat im Mietenkonzept 2009 aus Gründen der sozialen Verträglichkeit bewußt eine "Begrenzung förderungsbedingter Mietsteigerungen" vorgenommen, schreibt die Mieterinitiative Kotti & Co in einem Offenen Brief an Stadtentwicklungssenator Michael Müller (SPD) und fragt, welche neuen Erkenntnisse ihm vorlägen, die eine Umlage der Förderkürzungen mittlerweile als sozial verträglich erscheinen lassen. [6]

Jedes Jahr werden am Kottbusser Tor die Monatsmieten im Rahmen der Förderverträge um etwa 10 Euro erhöht. Bereits im April 2011 mußten die Mieter jener von Hermes verwalteten 120 Wohnungen einen Quadratmeterpreis von 5,83 Euro und somit rund 50 Cent/qm über der ursprünglichen Kappungsgrenze entrichten. Ab dem Jahr 1979 hatte die Hermes Hausverwaltungsgesellschaft vom Land Berlin Fördergelder für die Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum erhalten, inzwischen sind die Hochhäuser längst abgeschrieben. Sie sind wahre Goldesel.

Der Kostenmiete im sozialen Wohnungsbau Berlins liegt allgemein zwischen 12 und 18 Euro/qm. Das seien Beträge, "die selbst in Vorzugslagen auf dem privaten Wohnungsmarkt nur selten erreicht werden", schreibt Kotti & Co in dem Offenen Brief an Senator Müller. So können Wohneigentümer, die jahrzehntelang Fördergelder in Millionenhöhe erhalten haben, damit sie Sozialwohnungen bereitstellen, die Mieter mit ökonomischen Mitteln aus den Wohnungen herausdrängen und diese anschließend nochmals teurer vermieten.

Das GSW-Verwaltungsgebäude überragt sein Umfeld - Foto: © 2012 by Schattenblick

Aus gemeinnütziger Gesellschaft wurde privates Aktienunternehmen - Mieterschutz adé
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die 2004 privatisierte Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft GSW ging 2011 an die Börse und hat seitdem ihren Gewinn mehr als verdoppelt. Sie und Hermes werden so lange die Mieten anheben, solange ihnen keine rechtlichen Schranken auferlegt werden. Und danach sieht es nicht aus; der Senat versucht die Problematik offenbar zu ignorieren. Statt dessen verlegt er seine Stadtentwicklungspolitik auf den Neubau von Sozialwohnungen. Es läßt sich darüber spekulieren, ob die Wohnlage Kottbusser Tor, nur wenige Kilometer von Berlin-Mitte entfernt, gezielt aufgewertet werden soll. Wobei mit "Wert" nicht die Wertschätzung, also das Wohninteresse der hier lebenden Einwohner, sondern das Bereicherungsinteresse privater Renditejäger gemeint ist. Ziehen die alten Mieter fort, ist das eine Gelegenheit, bei den Nachfolgern eine höhere Miete zu verlangen.


Kappungsgrenze politisch nicht durchsetzbar? Wozu sind Politiker dann noch da?

Stadtentwicklungssenator Michael Müller (SPD) hält eine Kappungsgrenze derzeit für politisch nicht durchsetzbar [7]. In einem dpa-Gespräch sagte er, daß man dafür "richtig viel Geld in die Hand nehmen" müsse. Eine Mietbeschränkung würde bei rund 150.000 Berliner Sozialwohnungen jährlich bis zu 100 Millionen Euro kosten.

Abgesehen davon, daß die Bezeichnung "bis zu" ziemlich dehnbar ist, wäre diese Summe verglichen mit anderen Ausgaben gar nicht viel. Pro Sozialwohnung wären das knapp 670 Euro im Jahr oder 56 Euro im Monat. Weiter geteilt durch die Anzahl der Personen, die in der Sozialwohnung leben, reduzierte sich der Betrag, den die Stadt für seine Bürgerinnen und Bürger aufbrächte, drastisch weiter. Apropos "richtig viel Geld in die Hand nehmen": Für den neuen Hauptstadtflughafen müssen 500 Mio. Euro zusätzlich aufgebracht werden, was die Regierung von Bürgermeister Klaus Wowereit flugs durchgewunken hat. Die Kosten für den Flughafen überschreiten gerade die Grenze von drei Milliarden Euro. Im übrigen gibt das Land Berlin seit Jahrzehnten enorme Summen für das Fördersystem des sozialen Wohnungsbau aus. Darauf macht der Stadtsoziologe Andrej Holm in seinem Gentrification-Blog [8] aufmerksam.

Die knapp 160.000 Sozialwohnungen würden jährlich mit 850 Mio. bis 1,5 Mrd. Euro finanziert, schreibt er und zieht den Schluß: "Was beim Flughafenausbau (Erstellung der intendierten Funktionsfähigkeit) selbstverständlich erscheint, wird beim Sozialen Wohnungsbau mit der selben Selbstverständlichkeit zurückgewiesen." [8]

Die Berliner Landesregierungen, von welcher Partei auch immer, haben den sozialen Wohnungsbau vernachlässigt. Laut Holm werden seit 2001 keine Sozialwohnungen mehr gebaut. Zudem werden die von den Bürgerinnen und Bürgern eingetriebenen Steuergelder und Gelder aus dem Abverkauf von Gemeineigentum lieber dafür verwendet, die Milliardenverluste aus der Konkurs gegangenen Bankgesellschaft zu begleichen. Für die Mieter der Sozialwohnungen erweist sich die für ihren Filz berüchtigte Berliner Politik des Verschuldens und Schuldenabtrags zu Lasten der Schwächeren als desaströs. Sie müssen einen immer höheren Anteil ihrer Einkommen für die Miete ausgeben oder, in soziologendeutsch: Die Schere zwischen Miet- und Einkommensentwicklung klafft immer weiter auseinander.

Wie konnte es dazu kommen, daß in manchen Bezirken Berlins ausgerechnet die Mieten für Sozialwohnungen Jahr für Jahr steigen - teils um mehrere 100 Prozent? Ein Schlüssel hierzu ist die weiter oben bereits erwähnte Kostenmiete und somit ausgerechnet ein Mechanismus, mit dem das "natürliche" Profitstreben von Unternehmen eingeschränkt werden sollte. Kostenmiete bedeutet, daß die Mieten die tatsächlichen Kosten nicht übersteigen. Aber was sind die tatsächlichen Kosten? Die Träger des sozialen Wohnungsbaus besaßen kein Interesse an kostengünstigem Bauen. "Neben zinsgünstigen Baudarlehen wurden zur Finanzierung der Bauvorhaben am Kapitalmarkt zusätzliche Kredite aufgenommen. Die monatlichen Kosten für Zins und Tilgung lagen daher regelmäßig über den festgelegten Sozialmieten", schrieben Katja Schickel, Lucile Greco und Dieter Bernhardt vor zwei Jahren in einem Aufruf, den die Internetseite sozialmieter.de veröffentlicht hat. [9]

Als Folge der hohen Baukosten kann die Kostenmiete im Extremfall sogar bis zu 21 Euro/qm netto kalt betragen. Aufgrund einer bestimmten Klausel, die in vielen Mietverträgen enthalten sei, wurde die teils um mehrere hundert Prozent erhöhte Miete sogar bis zu 23 Monate rückwirkend eingefordert, berichtete die Internetseite sozialmieter.de und resümiert:

"Der Vermieter von Wohnungen, für die die 'Anschlussförderung' gestrichen wurde, kann die Miete also praktisch unbegrenzt erhöhen. Und dies sogar beliebig oft. Der Mietspiegel spielt hierbei keine Rolle. Auch die sonstigen Instrumente des Bürgerlichen Gesetzbuches zum Schutz des Mieters greifen hier nicht. Dem Betroffenen bleibt im Falle einer exorbitanten und - im freifinanzierten Wohnungsbau vollkommen undenkbaren - Mieterhöhung nichts anderes übrig, als sofort zu kündigen und die Wohnung umgehend zu verlassen." [9]

Nachdem die Mieter weggezogen sind, werden die Sozialwohnungen meist modernisiert und anschließend entweder zu einem viel höheren Preis vermietet oder aber als Eigentumswohnungen verkauft. Mit dem ursprünglichen Anliegen, sozialen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, hat das nichts mehr zu tun. Dabei enthält die Kostenmiete fiktive Posten, die mit den tatsächlichen Kosten gar nichts zu tun haben. Darauf machte im vergangenen Jahr der Berliner Wissenschaftsbund in einem Appell an die Abgeordneten des Berliner Parlaments aufmerksam. Sie sollten "dem Unwesen der rechtlich bedenklichen Durchsetzbarkeit fiktiver Kosten bei der Berechnung der Mieten im Sozialen Wohnungsbau konkret" entgegenwirken, wurde gefordert [10].

Mehrgeschossiges Eckhaus mit vernagelten Fenstern - Foto: © 2012 by Schattenblick Zwei Personen spähen in den dunklen Eingangsbereich des Hauses, eine weitere Person hält ein Handy an ihr Ohr - Foto: © 2012 by Schattenblick

Urbaner Leerstand ...
... weckt Begehrlichkeiten
Foto: © 2012 by Schattenblick


Sozialer Wohnungsbau - um die Massen zu befrieden

An diesen allgemeinen Ausführungen zum sozialen Wohnungsbau in Berlin zeigt sich, daß die Probleme der Mieterinnen und Mieter am Kottbusser Tor auf einer generell mieterunfreundlichen Wohnungspolitik des Berliner Senats zurückgehen und daß dies Tradition hat.

Ganz nach der neoliberalen Ideologie daß man die Wohlhabenden nur ordentlich mit Kuchen vollstopfen muß, damit auch ein paar Krümel vom Tisch für die Ärmeren abfallen, haben die Anhänger dieses Vorgehens offenbar übersehen oder, eher noch, nicht sehen wollen, daß bei allem Bemühen die Mäuler und Mägen der Reichen nicht so leicht an ihre Füllgrenze zu treiben sind, weisen sie doch ein überdurchschnittliches Fassungsvermögen aus. Anders gesagt: es gibt noch nicht einmal ausreichend Krümel. Auf das aktuell Beispiel bezogen bedeutet es: Der soziale Wohnungsbau ist versiegt, GSW und Hermes wollen Profite machen, und die davon am schwersten betroffenen Mieter werden aus ihren angestammten Quartieren vertrieben, weil sie die Unkosten für die Bewahrung ihrer Wohnung nicht mehr aufbringen können.

Daß die rot-schwarze Berliner Landesregierung dem Wohnungsbau neuen Schwung verleihen will, steht bislang nur auf dem Papier, und das ist bekanntlich geduldig. Von jährlich 6000 neuen Wohnungen bis 2016 im innerstädtischen Bereich sowie die Erhöhung des landeseigenen Bestands auf 300.000 Wohnungen ist in der Koalitionsvereinbarung von SPD und CDU die Rede. Aber selbst wenn diese Ziele verwirklicht würden, hätte das nichts mit den akuten Problemen am Kottbusser Tor (und selbstverständlich anderen gentrifizierten Stadtgebieten) zu tun. Außerdem dürfte der Mietpreis in den Neubauten bei über acht Euro pro Quadratmeter liegen, wie der Politologe Benedict Ugarte Chacón am Montag in der Tageszeitung "junge Welt" schrieb. [11]

Mit Sprüchen wie "arm, aber sexy" versucht Bürgermeister Klaus Wowereit die grassierende soziale Not Berlins, nicht zuletzt aufgrund einer armutsfördernden Wohnungspolitik, zu einem Standortvorteil zu verklären. Berlin soll als Marke in einem über Deutschlands Grenzen hinausreichenden Konkurrenzkampf der Metropolen um kapitalstarke Investoren etabliert werden. Die Folge besteht in diversen Formen der Verdrängung und Vertreibung. Dem versucht eine ziemlich rege Mieterbewegung unter anderem mit der Forderung nach einem "Recht auf Stadt" entgegenzutreten. Die Hoffnung, daß mit einem solchen Recht die Probleme der Stadt bzw. die der von Verdrängung getroffenen Einwohner gelöst werden könnten, entstammt der weitverbreiteten Vorstellung, Recht und Rechtlosigkeit seien ein Gegensatz und schlössen einander aus. Diese Vorstellung muß doch wohl mit Blick auf die mißliche Lage vieler Berliner Mieterinnen und Mieter in Frage gestellt werden. Allem Anschein nach liegen Recht und Rechtlosigkeit auf gleicher Linie und sind Ausdruck ein- und desselben Gewaltverhältnisses, dem Menschen immer wieder ausgesetzt sind.

Für die verschiedenen Mieterinitiativen in Berlin und darüber hinaus könnte es sich als entscheidend für die Durchsetzung ihrer Interessen herausstellen, wenn sie sich nicht durch Lockangebote, die mit Sicherheit kommen werden, auseinanderdividieren lassen. "Be Berlin" lautet das anglifizierte Motto der Berliner Werbestrategen. Kaum vorstellbar, daß sie damit "Occupy Berlin!" gemeint haben.

Geschichtlich hat der soziale Wohnungsbau von Anfang an und vordringlich die Funktion der Kontrolle und Befriedung eines Verweigerungs- und Widerstandspotentials der Bevölkerung erfüllt. Daß für die Geringerverdienenden sogenannter Wohnraum bereitgestellt wurde - "vertikale Lagerhaltung" wäre die treffendere Bezeichnung für die enge Verwahrung von Menschen in einem Hochhaus -, wurden von den herrschenden Kräften als unverzichtbar erkannt, um eine gesellschaftliche Ordnung durchzusetzen, in der Privilegierte und Unterprivilegierte quasi nebeneinander leben und faktisch keine ernsthaften Bestrebungen bestehen, den Unterschied aufzuheben. Obgleich also die Eigentums- und Einflußunterschiede innerhalb einer Gesellschaft gewaltig sind, gelingt es dem Establishment, diesen eklatanten Widerspruch aufrechtzuerhalten. Bislang wird nur gelegentlich mit offenen Repressionen gearbeitet, wie Anfang Juni der Übergriff auf eine Mieterdemonstration von Kotti & Co durch die Polizei gezeigt hat. Die meisten Repressionen hingegen sind strukturell angelegt und finden unter anderem in den Amtsstuben, Maklerbüros und Jobcentern statt.


Fußnoten:

[1] LAIRE/1263: Liebigstraße 14 geräumt ... Kapitel 1 - Sieg des Kapitals (SB), 2. Februar 2011
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/meinung/pola1263.html

[2] BERICHT/004: Linienhof bleibt! ... Gentrifizierung links gewendet (SB), 4. November 2011
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0004.html

[3] http://kottiundco.wordpress.com/

[4] http://kottiundco.wordpress.com/hintergrund/

[5] Siehe das Interview mit Detlev K. unter:
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0005.html

[6] Offener Brief an Senator Michael Müller vom 6. Juni 2012
http://kottiundco.wordpress.com/2012/06/07/offener-brief-an-senator-michael-muller/

[7] "Senator Müller: Mietobergrenzen in Berlin nicht durchsetzbar", dpa, 26. Mai 2012
http://www.berlin.de/aktuelles/berlin/2535823-958092-senator-mueller-mietobergrenzen-in-berli.html

[8] "Berlin: Bruchpiloten der Wohnungspolitik", verfaßt von: ah, 30. Mai 2012
http://gentrificationblog.wordpress.com/2012/05/30/berlin-bruchpiloten-der-wohnungspolitik/

[9] SCHLUSS MIT DEN VERTREIBUNGEN AUS DEM ZUHAUSE, Aufruf zum Aktionstag in der Akazienstraße am 03. April 2010, von Katja Schickel, Lucile Greco, Dieter Bernhardt
sozialmieter.de

[10] Pressemitteilung des Berliner Wissenschaftsbundes vom 19. August 2011
http://www.sozialmieter.de/2011/08/berliner-wissenschaftsbund-pressemitteilung/

[11] "Rendite durch Miete. Zur 'Handelsblatt'-Jahrestagung 'Immobilienwirtschaft'", junge Welt, 18. Juni 2012, S. 10/11.

19. Juni 2012