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BERICHT/016: Megacities - Evolution der Umlast (SB)


Weltweites Armutsregime am Beispiel Dhaka

Session 2: "Resilience and Coping in Urban Contexts" am 15. April 2013


Arbeiterinnen mit Transparent - Foto: Soman, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Gewerkschaftsprotest am 8. März 2013 in Dhaka
Foto: Soman, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Die Lebensverhältnisse der Bevölkerung Bangladeschs führten in der Medienöffentlichkeit der westlichen Länder zumeist ein Schattendasein. Das hat sich fürs erste geändert. Seit dem Einsturz eines achtstöckigen Geschäfts- und Fabrikgebäudes im Industriegebiet Savar nordwestlich der Hauptstadt Dhaka am 24. April vergeht kaum ein Tag ohne neue Berichte über die größte Tragödie in der Textilindustrie des Niedriglohnlandes. Zum Abschluß der Suche nach weiteren Opfern zog man die Schreckensbilanz von 1127 Toten und 2438 Verletzten, die aus den Trümmern geborgen wurden. Dies war der mit Abstand folgenschwerste, doch beileibe nicht der einzige derartige Zwischenfall in Bangladesch. Seit 2005 sind dort etwa 700 Menschen bei Fabrikbränden ums Leben gekommen. Bei Einstürzen von Textilwerken starben zwischen 2005 und 2010 insgesamt 79 Arbeiterinnen und Arbeiter. Im letzten November kamen bei dem bis dahin schlimmsten Fabrikbrand im Industriegebiet Ashulia 112 Menschen um.

Nun stehen landesweit zahlreiche Fabriken still, teils aufgrund ähnlicher Gefahren in baufälligen Gebäuden, teils wegen Protestaktionen und Streiks gegen die verheerenden Arbeitsbedingungen. Hunderttausende demonstrierten in Dhaka und anderen Industriegebieten. Mancherorts kommt es zu Unruhen, weil die Arbeiterinnen und Arbeiter ihr Los nicht länger widerspruchslos hinnehmen. In der Vergangenheit wurden solche Versuche, für die eigenen Interessen zu kämpfen, immer wieder gewaltsam unterdrückt. So erschoß die Polizei im Jahr 2010 vier unbewaffnete Demonstranten. Nun setzt Premierministerin Scheich Hasina Wajed Polizei, Militär und Einheiten des berüchtigten Rapid Action Bataillon ein, um das Aufbegehren einzudämmen.

Die Katastrophe hat der Bevölkerung Bangladeschs, aber auch den Konsumenten in aller Welt vor Augen geführt, daß Tote und Verletzte in den Textilfabriken weder unvorhersehbare Unglücksfälle, noch unabwendbaren Bedingungen geschuldet sind. Was aber sind sie dann? Um diese Frage und deren unabsehbare Konsequenzen einzuhegen, bemüht man das Bild einer Kette von den Konsumenten bis zu den Produzenten, in der der Druck von einer Station zur nächsten weitergegeben werde. Wenngleich der nicht länger auszublendende Zusammenhang von einem Ende zum andern eingeräumt wird, deutet man den Nexus zu einem Problem des Druckausgleichs mittels regulierender Ventile um.

Die Regierung von Bangladesch sah sich zu Sofortmaßnahmen genötigt: Sie schloß Hunderte Fabriken, beginnt in fast 950 anderen, die bei einer Untersuchung als riskant eingestuft wurden, Sicherheitsstandards durchzusetzen, sie gestattet den Beschäftigten, sich künftig in unabhängigen Gewerkschaften zusammenschließen und Lohnverhandlungen zu führen, und will den gesetzlichen Mindestlohn anheben, der derzeit bei etwa 30 Euro im Monat liegt, ohne sich jedoch auf eine Summe festzulegen.

Bisher hatten westliche Großabnehmer von Textilien Veränderungsvorschläge hinsichtlich ihrer Auflagen an Subunternehmen stets zurückgewiesen. Als in den Trümmern Kleidungsstücke gefunden wurden, die wie in stummer Anklage Etiketten bekannter westlicher Modelabel trugen, erklärten sich nur wenige dieser Unternehmen zu Entschädigungszahlungen bereit. Hingegen behaupteten die anderen, sie hätten nur in der Vergangenheit oder ausnahmsweise dort produzieren lassen. Unterdessen haben jedoch mehr als 800.000 Menschen einen Aufruf der Kampagnenorganisation Avaaz unterzeichnet, in dem diese Firmen zum Umdenken aufgefordert werden, wollten sie nicht ihr Image aufs Spiel setzen.

Um möglichen Boykottkampagnen zuvorzukommen, haben führende Auftraggeber von Textilprodukten in den westlichen Ländern wie die schwedische Modekette H&M, die spanische Zara/Inditex, in Deutschland C&A und Tchibo wie auch der britische Discounter Primark und die Calvin-Klein-Mutterfirma PVH ein Abkommen unterzeichnet, das von ihren Händlern einen Beitrag zur Finanzierung von Brandschutzmaßnahmen und Gebäudeverbesserungen verlangt. Die Internationale Arbeitsorganisation, Gewerkschaften wie IndustriALL und andere haben die auf fünf Jahre angelegte Vereinbarung ausgehandelt, die rechtlich verpflichtend ist und unabhängige Inspektionen samt öffentlichen Berichten und Gegenmaßnahmen verlangt. Untersagt wird eine Produktion bei Firmen, die nicht in die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen investieren oder gewerkschaftliche Organisation und Mitspracherechte ablehnen. Ziel sei eine sichere und nachhaltige Textilindustrie in Bangladesch, in der "kein Arbeiter Angst vor Feuern, Gebäudeeinstürzen oder anderen Unfällen haben muß, die durch vernünftige Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen vermeidbar gewesen wären". [1]

Die "Kampagne für Saubere Kleidung", die von 21, meist kirchen- und gewerkschaftsnahen Organisationen getragen wird, hat das Abkommen als "Meilenstein" gewürdigt. Es sei schlimm, daß erst so viele Menschen sterben mußten, bis es zu einem Umdenken bei den Unternehmen gekommen sei. [2] Die Europäische Union hat mit Strafmaßnahmen gedroht, sollte Bangladesch nicht für bessere Arbeitsbedingungen in der Textilbranche sorgen. Im Gegenzug forderte die Regierung in Dhaka die EU auf, nicht zu strenge Auflagen zu verhängen. Sollten restriktivere Handelsbedingungen verfügt werden, würde das der Wirtschaft des Landes schaden und eine Million Menschen ihrer Arbeit berauben. [3]

Die Textilbranche ist der wichtigste Wirtschaftszweig und mit 79 Prozent der Exporteinnahmen der größte Devisenbringer des Niedriglohnlandes Bangladesch, das nach China der weltweit zweitgrößte Produzent ist. In seinen fast 4.000 Textilunternehmen sind mehr als 3,5 Millionen Menschen beschäftigt, davon 80 Prozent Frauen. Viele von ihnen produzieren für westliche Bekleidungshersteller. Der Verband der Textilproduzenten und -exporteure hat bereits die Sorge geäußert, daß die Auftraggeber aus Europa und den USA angesichts der Unglücke in andere Länder weiterziehen könnten. Als erstes Unternehmen will sich Disney aus Bangladesch und anderen "Hochrisikoländern" zurückziehen, in denen der Konzern Fanartikel produzieren läßt.

Daß die Textilbranche aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung besonders anfällig für Bestechung und Korruption ist, steht außer Frage. Ob sich die Problemlage jedoch mit gierigen Produzenten, bestechlichen Beamten, Architekten und Bauunternehmern - oder gedankenlosen Konsumenten in den westlichen Ländern - hinreichend beschreiben läßt, muß bezweifelt werden. Aktivisten, die die unwürdigen Arbeitsbedingungen anprangern, riskieren ihr Leben. Vergangenes Jahr wurde der prominente Kritiker Aminul Islam tot aufgefunden, sein Körper wies Folterspuren auf. Als der Ingenieur Adbur Razzak warnte, das Fabrikgebäude Rana Plaza sei unsicher und müsse geräumt werden, wurde er verhaftet. Regierungschefin Sheikh Hasina kündigte zwar Reformen an, doch die Branche hat eine mächtige Lobby - jeder zweite Parlamentarier soll Beziehungen zur Textilindustrie haben. [4]

Das Wirtschaftssystem Bangladeschs zeichnet sich durch eine Variante der Kapitalverwertung aus, die angesichts niedriger Produktivität einen hohen Einsatz menschlicher Arbeitskraft benötigt, deren Preis extrem tief gedrückt wird. Die durch Hungerlöhne, lange Arbeitszeiten, gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen, repressive Überwachung und marode Gebäude ausgebeuteten Lohnabhängigen sind in einer weithin von Armut geprägten Gesellschaft zumeist noch relativ besser gestellt als zahllose andere Menschen, die mittels informeller Erwerbsmöglichkeiten zu überleben versuchen. Man könnte daher von einer riesigen Reservearmee auf Grundlage elender Lebensverhältnisse sprechen, in der Armut durch einen Konkurrenz- und Ausgrenzungsprozeß bis hin zu sklavenähnlichen Verhältnissen qualifiziert wird.

Unmittelbare Profiteure und Produzenten dieser Verhältnisse sind die nationalen Eliten, die, angefangen bei reichen Unternehmern, Grundbesitzern und hochrangigen Politikern, über ein System von subalternen Kollaborateuren die extreme Vernutzung des "Humankapitals" zum Zweck ihrer Bereicherung und ihres Machterhalts forcieren. Sie haben kein Interesse daran, diese Verhältnisse zu ändern, da ihre Vorteilsnahme in wesentlichen Teilen darauf gründet, als Niedriglohnland ohne nennenswerte Sozialstandards den Hauptkonkurrenten China zu unterbieten und ausländisches Kapital durch eine entgrenzte Neoliberalisierung von Produktion und Handelsbeziehungen anzuziehen.

Im Kontext weltweiter Kapitalverwertung dient sich Bangladesch so den westlichen Industriestaaten als Werkbank der Textilproduktion zu günstigen Bedingungen an. Europäische und US-amerikanische Unternehmen generieren ihre Profite unter Ausnutzung dieses Produktivitäts- und Lohnunterschieds, womit sie zugleich das Wachstum ihrer jeweiligen Volkswirtschaften befeuern. Deren Wohlstandsniveau hängt also nicht zuletzt von der Möglichkeit ab, sich der Fertigung in Niedriglohnländern zu bedienen und diese gegeneinander auszuspielen. Gesundheit und Leben von Arbeiterinnen und Arbeitern dem Profitstreben zu opfern, bleibt mithin der Motor dieser Wertschöpfung, was sowohl für die Produktionsstätten der Industrienationen, als auch die Sweatshops Asiens, Afrikas und Lateinamerikas gilt.

Angesichts der Katastrophe nahe Dhaka sehen sich Politik und Wirtschaft veranlaßt, Schadensbegrenzung zu betreiben. Diese zielt darauf ab, Unruhen und Aufstände einzudämmen oder zu verhindern, Verluste in Grenzen zu halten und insbesondere alles aus dem Feld zu schlagen, was sich gegen die Wertschöpfungskette zugunsten weniger und deren systembegründende und -stabilisierende Eigentumsordnung wenden könnte. Ohne graduelle Entschärfungen der Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie Bangladeschs in Abrede zu stellen, bleibt doch eine grundsätzliche Verbesserung der Erwerbs- und Lebensmöglichkeiten für Millionen von Menschen ein unerfüllbarer Traum, solange sie die Eigentumsfrage nicht stellen und Konsequenzen in ihrem Sinne daraus ableiten und erstreiten.

Podium mit Referentinnen und Referenten - Foto: © 2013 by Schattenblick

Hans-Georg Bohle, Raquib Ahmed, Tibor Aßheuer, Insa Thiele-Eich, Benjamin Etzold
Foto: © 2013 by Schattenblick


Unmittelbares Überleben - Langfristige Verarmung

Im Rahmen des Abschlußkolloquiums zum Schwerpunktprogramm "Megacities - Megachallenge. Informal Dynamics of Global Change" im Wissenschaftszentrum Bonn war die Session 2 dem Thema "Resilience and Coping in Urban Contexts" gewidmet. Es ging mithin in Vorträgen und Diskussion um die Frage, auf welche Weise es jenen aus formellen Existenzweisen ausgegrenzten und weitgehend sich selbst überlassenen Bevölkerungsteilen gelingt, ihr unmittelbares Überleben zu sichern und womöglich eine künftige Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse zu erwirken. Wie die eingangs vorgenommene Einschätzung und Bewertung der Verhältnisse in der Textilindustrie Bangladeschs deutlich gemacht haben sollte, läßt sich das Informelle nur im Kontext des Formellen angemessen erörtern, da andernfalls grundlegende Zusammenhänge und Mechanismen der Produktion und Verwertung von Armut auf der Strecke blieben. Hier geht es also um Menschen, denen selbst die durch extreme Ausbeutung und akute Lebensgefahr geprägten Arbeitsverhältnisse in den Sweatshops verwehrt sind, während sie ihrerseits Erwerbsweisen betreiben, die gescheiterte Konkurrenten auf noch rudimentärere Formen, ihr Dasein zu fristen, zurückwerfen.

Insa Thiele-Eich und Dr. Tibor Aßheuer befaßten sich anhand ihres Forschungsprojekts mit den direkten und indirekten Auswirkungen des Klimawandels auf informelle Akteure in Dhaka, wobei eine künftige Zunahme der Migration in die Städte zu erwarten ist. Für die Mehrzahl dieser Menschen ist das Leben in urbanen Slums nicht eine Durchgangsstation, sondern ihr endgültiges Dasein. Dr. Anna Lena Bercht referierte die Ergebnisse einer psychologischen Studie in der südchinesischen Kleinstadt Shibi, wo der Bau des größten Bahnhofs Asiens massive Auswirkungen auf die dort ansässige Bevölkerung hatte. Die Fallstudie widmet sich Fragen der individuellen Verarbeitung von Arbeitslosigkeit, Einkommensverlust, finanzieller Unsicherheit und Umsiedlung. Benjamin Etzold führte in die informelle Lebensmittelversorgung Dhakas ein, die sich ungeachtet der ökologischen, sozialen und politischen Krise der Jahre 2007 und 2008 als erstaunlich funktionsfähig erwiesen hat. Am Beispiel der Großhändler, Straßenverkäufer und armen Konsumenten zeigte er Bewältigungsstrategien im sozialen Kontext auf und kontrastierte diese mit fehlender staatlicher Unterstützung, rechtlicher Einschränkung und behördlicher Drangsalierung.

Am Stehpult - Foto: © 2013 by Schattenblick

Benjamin Etzold
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schlägt man den Bogen von den gravierenden Folgen des Klimawandels über die Brachialgewalt eines infrastrukturellen Großprojekts bis zur Ernährungslage in Krisenzeiten, deutet sich das breite Spektrum bedrohlicher Verhältnisse und Szenarien für die armen Bevölkerungsteile an. Das gilt in besonderem Maße für Bangladesch, das als weltweit dichtbesiedeltster Flächenstaat zugleich zu den am wenigsten entwickelten mit einer hohen Armutsquote gehört. Was sich an informellen Bezügen und Vorgehensweisen ausbildet und verändert, prägt somit weithin das Leben in der Megastadt Dhaka, deren geschätzte Einwohnerzahl von über 14 Millionen rasant wachsende Anteile an der Gesamtbevölkerung ausweist, die in einem unversorgten, abgekoppelten und ausgeblendeten Limbus existieren.

Es kreuzen sich also die unwägbarsten Gefahrenlagen mit den denkbar geringsten Absehbarkeiten über den Tag hinaus, was eine umfassende Ohnmacht und Apathie vermuten ließe. Demgegenüber deuten die vorgestellten Befunde auf eine bemerkenswerte Fähigkeit vieler Slumbewohner hin, die Anforderungen des Alltags zu bewältigen, ihr Leben zu organisieren, Erwerbsmöglichkeiten zu erschließen und funktionsfähige Überlebensökonomien aufzubauen. Während sie jedoch bei der Bewältigung unmittelbarer Anforderungen außerordentlich flexibel seien und ständig mit unvorhersehbaren Verhältnissen zurechtkämen, sie also aus früheren Erfahrungen lernten und fähig seien, selbstorganisiert zu handeln, hinderten sie verschiedene Bedingungen daran, ihre Situation auf Dauer zu verbessern.

Informelle Beschäftigung sei zugleich eine Armutsfalle. Beispielsweise arbeite ein Rikschafahrer körperlich so hart wie ein Leistungssportler, weshalb seine Ernährung die geringen Einkünfte verschlinge und ihn auf Dauer immer ärmer mache. Auch das soziale Kapital könne sich als Falle erweisen, da die Menschen einander helfen, solange sie etwas besitzen, und damit insgesamt gesehen weiter verarmen. Großhändler des informellen Sektors unterhielten Geschäftsbeziehungen auf Vertrauensbasis, so daß Reputation und gegenseitige Unterstützung auch Krisenzeiten überbrückten. Da sie jedoch keinen Zugang zu Bankkrediten erhielten, schwäche dies ihre Position in der Wirtschaft ebenso wie ihr fehlender Grundbesitz, da sie ihre Plätze durch Bestechung erkaufen müßten.

Ein weiteres Beispiel sind die etwa 95.000 Straßenhändler in Dhaka, die überwiegend unter der Armutsgrenze leben und keine Möglichkeit haben, ihr Gewerbe registrieren zu lassen. Sie arbeiten deshalb illegal und werden immer wieder von der Polizei vertrieben, die überdies ihre Ausrüstung konfisziert. Sie borgen sich Geld von Verwandten und Bekannten, investieren aber nicht in ihre Ausrüstung, die jederzeit verlorengehen kann, sondern müssen Gelder an Polizisten, Behördenvertreter und andere einflußreiche Gruppen zahlen, weshalb sie keine Möglichkeit haben, dauerhafte Veränderungen einzuleiten. Hinzu kommt die negative Berichterstattung in den Medien, die den Straßenhandel als Hindernis für die Funktionsfähigkeit der Stadt diskreditiert. Dieses Narrativs bediente sich die Interimsregierung bei ihrer großangelegten Vertreibung von Straßenhändlern 2007 und 2008. Da die Slumbewohner den überwiegenden Teil ihrer geringen Einkünfte für Lebensmittel aufwenden müssen, sehen sie sich häufig gezwungen, ihre Nahrungsaufnahme zu reduzieren. Zwar gibt es in Krisenzeiten staatliche Lebensmittelhilfen, doch erreichen diese die Menschen in den Elendsquartieren nicht. Wenngleich es diesen zumeist gelingt, über die Runden zu kommen, sind sie daran gehindert, eine langfristige Verbesserung einzuleiten.

Diese Forschungsergebnisse sollten geeignet sein, tiefer zu fassen und die geschilderten Lebensverhältnisse im Zusammenhang grundlegender gesellschaftlicher Widersprüche zu entschlüsseln. Dazu bedarf es analytischer Werkzeuge und einer kritischen Positionierung, die sich nicht scheut, Unterdrückung und Ausbeutung, Herrschaft und Kampf zu deren Überwindung beim Namen zu nennen. Nicht zuletzt gilt es, die in den Forschungsprojekten untersuchten Überlebensstrategien daraufhin zu überprüfen, ob es sich bei ihnen durchweg um Anpassungsleistungen an die herrschenden Verhältnisse handelt oder im Gegenteil Ansätze des Widerstands zu erkennen sind. Die im wissenschaftlichen Diskurs favorisierten Konzepte wie Adaptation, Resilience und Coping, die ein Spektrum von Umgangsweisen mit einschränkenden und gefährdenden Bedingungen abdecken sollen, drohen bis zur Bedeutungslosigkeit zu verschwimmen, werden sie nicht auf dem Feld unvereinbarer ökonomischer, politischer und sozialer Widersprüche auf ihre Bedeutung und Aussagekraft abgeklopft.

Am Stehpult - Foto: © 2013 by Schattenblick

Prof. Dr. Hans-Georg Bohle
Foto: © 2013 by Schattenblick

Prof. Dr. Hans-Georg Bohle warf denn auch als Diskutant die Frage auf, wie man es vermeiden könne, das Konzept "Resilience" zu einer nichtssagenden Worthülse zu degradieren. Wie diesbezügliche Publikationen zeigten, bestehe diese Gefahr durchaus. Die Definition des Stockholm Resiliance Center, es handle sich dabei um "die Fähigkeit, mit Veränderung umzugehen und sich weiterzuentwickeln", mache seines Erachtens nicht viel Sinn. Prof. Bohle erinnerte in diesem Zusammenhang an das Konzept "Nachhaltigkeit", das inzwischen bar jeden konkreten Inhalts in allen erdenklichen Zusammenhängen verwendet wird. Noch wichtiger scheine ihm die Frage zu sein, auf welche Weise "Social resilience" aufgebaut und gefördert werden könne. Wie können Menschen dem Unerwarteten begegnen, wie mit Unsicherheit umgehen? Wie ließen sich junge Leute in einer vulnerablen Umgebung so stärken, daß sie ein relativ normales Leben zu führen imstande sind? Und wie könne man soziale Gruppen unterstützen, die sich in gewissem Umfang behaupten, aber durch den Staat unterdrückt werden?

Diese Warnung, man hantiere hier allzu leicht mit unhinterfragten Begriffen und Konzepten, ist nicht nur von akademischem Belang. Da die Wissenschaft den Anspruch des Übertrags ihrer Ergebnisse auf die Gesellschaft erhebt, muß sich das Schwerpunktprogramm sowohl insgesamt als auch hinsichtlich der einzelnen Projekte selbstkritisch mit der Frage auseinandersetzen, welchen Zwecken die Erforschung informeller Prozesse in Megastädten dient. Handelt es sich um einen emanzipatorischen Ansatz zur Veränderung der bedrückenden Verhältnisse? Hat man es mit einer Befriedungsstrategie zu tun, die aufkeimenden Protest und Widerstand in Anpassungsleistungen reintegriert? Läuft man gar Gefahr, Herrschaftsinteressen die Tür zu gesellschaftlichen Sphären zu öffnen, die sich bislang der administrativen Kontrolle entziehen?

Wissenschaftszentrum Bonn - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://www.tt.com/Nachrichten/6569138-2/1127-tote-in-bangladesch-hm-zara--und-co.-ziehen-konsequenzen.csp

[2] http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1451317

[3] http://diestandard.at/1363710122417/Dhaka-EU-und-ILO-forcieren-mehr-Sicherheit-fuer-NaeherInnen

[4] http://www.wsws.org/de/articles/2013/05/01/bang-m01.html

18. Mai 2013