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BERICHT/041: Aufbruchtage - mit dem Schnee schmilzt das Leben ... (SB)


Eisbären sterben aus

Mahn-Aktion auf der Degrowth-Konferenz in Leipzig am 5. September 2014


Ein großer Eisbär läuft auf dem Packeis, hinter ihm Wasser - Foto: By Ansgar Walk [CC BY-SA 2.5 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5)], via Wikimedia Commons

Eisbär in menschengemachter Lebensgefahr - Aufnahme vom 15. November 2004 am Cape Churchill im Wapusk-Nationalpark, Manitoba, Kanada
Foto: By Ansgar Walk [CC BY-SA 2.5 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5)], via Wikimedia Commons

Vom 2. bis 6. September 2014 fand an der Universität Leipzig, aber auch an vielen anderen Orten und Begegnungsstätten der Stadt die Vierte internationale Degrowth-Konferenz für ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit statt. Rund dreitausend, überwiegend jüngere und kritisch-wissenschaftlich arbeitende Menschen nahmen an ihr teil. Sie alle einte die Überzeugung, daß es auf einem endlichen Planeten kein unendliches Wachstum geben könne, aber auch der Standpunkt, daß kein noch so engagierter Kampf gegen Klimakollaps und Umweltzerstörung zu Lasten betroffener Menschen geführt werden sollte. Die Ablehnung kapitalistischer Verwertungsstrukturen wurde von den meisten Konferenzbeteiligten - Organisatorinnen und Organisatoren, Referentinnen und Referenten, Künstlerinnen und Künstler, Teilnehmerinnen und Teilnehmer - ebenso geteilt wie die Auffassung, daß der Aufbau einer anderen Welt respektive neuen Gesellschaft nicht erst morgen, sondern schon heute anfange, also auch auf der Konferenz, im Umgang miteinander wie auch im Ringen um die vielen prekären Fragen und Gegenentwürfe, die für all jene von Belang sind, die an der Umsetzung der gesteckten Ziele und erklärten Absichten brennend interessiert sind.

Wie aber ist es um das Leben und Wohlergehen der vielen Mitlebewesen bestellt, die nach herkömmlicher Lesart als "Tiere" bezeichnet werden von den Angehörigen einer Spezies, die sich mit ihrer Produktions- und Reproduktions-, Inwertsetzungs- und Verwertungsordnung zwar weltweit durchsetzen konnte, aber große Mühe hat, den behaupteten Nutzen für alle nachweislich einzulösen? Die Frage nach den Mitlebewesen des Menschen zu stellen, berührt ein Gewaltverhältnis, das sich aufs Unmittelbarste manifestiert, wenn sich eine Spezies zu Lasten anderer ernährt, aber auch mittelbar, wenn beispielsweise die menschenbedingten Klimaveränderungen den Lebensraum anderer Arten nicht nur beeinträchtigen, sondern so fundamental zu zerstören im Begriff stehen, daß deren Überleben in extremster Weise gefährdet ist.

Eisbärin mit zwei Jungtieren - Foto: By Steve Amstrup (United States Fish and Wildlife Service, USFWS) [Public domain], via Wikimedia Commons

Eisbärin mit zwei Jungtieren - aufgenommen am 5. Dezember 2001 auf dem Packeis der Beaufortsee im Nordpolarmeer
Foto: By Steve Amstrup (United States Fish and Wildlife Service, USFWS) [Public domain], via Wikimedia Commons

So geschieht es mit den Eisbären, die als eines der größten Landraubtiere gelten und in weiten Teilen der Arktis beheimatet sind, wo sie bei einer winterlichen Durchschnittstemperatur von -30°C leben. Ihre Bestandsgröße wird auf 20.000 bis 25.000 geschätzt bei abnehmendem Trend und hohem Gefährdungsstatus. Die Umweltschutzorganisation World Wide Fund For Nature (WWF) warnte Ende November davor, daß es Eisbären, wenn die derzeitige Klimaentwicklung so weitergehe wie bisher, nur noch in Büchern und Filmen und vielleicht noch in Zoos geben werde. Jüngsten Zählungen zufolge würden in der Beaufordsee Alaskas und im Nordwesten Kanadas nur noch 900 Eisbären leben gegenüber 1500 Exemplaren, die in dieser Region zehn Jahre zuvor noch lebten. Für diesen Rückgang ist nach Ansicht der WWF-Expertin Sybille Klenzendorf in erster Linie der Klimawandel verantwortlich. Das sommerliche Packeis auf dem Meer und damit das Robbenjagdgebiet der Eisbären verkleinere sich seit Jahren. Die Erwärmung der Arktis steht außer Frage, die durchschnittliche Lufttemperatur ist in den letzten 100 Jahren um 5°C angestiegen.

Mahnungen und Vorhersagen dieser Art sind nicht neu. 2009 gab es bereits eindringliche Warnungen der Eisbär-Experten des WWF und der Weltnaturschutzunion IUCN, die erklärten, daß der Klimawandel die Eisbären stärker als bis dahin angenommen bedrohe. Den damaligen Angaben des WWF zufolge waren fünf Eisbär-Populationen bereits 2005 rückläufig, in den anschließenden vier Jahren kamen weitere drei hinzu. Zwei Drittel der 12 wissenschaftlich untersuchten Eisbärenbestände befanden sich demnach bereits vor fünf Jahren in einem Schrumpfungsprozeß. "Es gibt einen beunruhigenden Abwärtstrend. Sollte sich die derzeitige Entwicklung ungebremst fortsetzen, könnte die Zahl der Eisbären im Jahr 2050 um mindestens 30 Prozent niedriger liegen als heute", so die Warnung des WWF-Artenschutzexperten Stefan Ziegler vom 22. Juli 2009. Große Gebiete würden "Eisbär-freie Zonen" werden.

Der menschenverursachte Klimawandel verändert das Ökosystem der Arktis in großem Tempo, dieser Zusammenhang galt schon 2009 als eindeutig nachweisbar. "Der Eisbär hat aufgrund der Schnelligkeit, mit der sich sein Lebensraum verändert, keine Gelegenheit, sich anzupassen", so Ziegler. Die Tiere verhungern, ertrinken und stellen die Fortpflanzung ein. Die Umweltschutzexperten zeigten sich seinerzeit optimistisch in Hinsicht darauf, daß die für Eisbären todbringende Entwicklung noch gestoppt und sogar umgekehrt werden könnte und benannten dafür als Voraussetzung, daß die internationale Staatengemeinschaft ihre Treibhausemissionen schnell und in großem Umfang reduziert, der vollständige Verlust des arktischen Sommereises müsse dringend verhindert werden.

Doch die Realität sieht anders aus. Das Meer-Eis zieht sich immer schneller und in einem immer größer werdenden Umfang zurück.

Zwei junge Eisbären im Schnee - Foto: By U.S. Fish and Wildlife Service [Public domain], via Wikimedia Commons

Zwei junge Eisbären - aufgenommen am 24. August 2005 in Alaska
Foto: By U.S. Fish and Wildlife Service [Public domain], via Wikimedia Commons


Ursus maritimus - die erste Art, die infolge des Klimawandels auszusterben droht

Das vollständige Verschwinden des arktischen Sommereises, so wußte man schon 2004, würde zum Aussterben der Eisbären führen. Forscher der US-Wissenschaftsbehörde Geological Survey um Teamleiter Steven Amstrup berichteten im Juni 2006 in der Zeitschrift Polar Biology, sie hätten seit 2004 mehrfach Überreste erwachsener weiblicher Eisbären gefunden, die von männlichen Artgenossen getötet und teilweise aufgefressen worden waren. Die Wissenschaftler gehen davon aus, daß Hunger die treibende Kraft für dieses Verhalten ist. Alle Angriffe hätten sich in Gebieten ereignet, in denen das Polareis immer mehr wegschmilzt und wo die Tiere auffallend dünn sind. Auch der Zeitpunkt der Jahr für Jahr einsetzenden Schmelze spielt demnach eine Rolle. Je früher das Packeis zurückweicht, umso eher müßten sich die Eisbärmütter aus den Jagdgebieten zurückziehen - auch wenn sie sich noch nicht genug Speck angefressen haben, um Milch für die Neugeborenen zu produzieren. Viele Eisbären verhungern schon in ihrem ersten Lebensjahr.

Wenn all dies seit fünf, wenn nicht mindest zehn Jahren bekannt ist, bliebe zu fragen, ob die dringenden Mahnungen überhaupt ernstgenommen und befolgt wurden. Und wie ist es bei den Eisbären um den Artenschutz bestellt? Im März 2010 fand die 15. Vertragsstaatenkonferenz des Washingtoner Artenschutzübereinkommens (CITES) in Doha, Katar, statt, auf der es unter anderem um einen verbesserten Schutz der Eisbären ging. Vor der Konferenz hatte der damalige Bundesumweltminister Norbert Röttgen die Verpflichtung betont, in dem internationalen Jahr der biologischen Vielfalt (2010) die Weichen für einen wirksamen internationalen Artenschutz zu stellen, um die dringend erforderliche Trendwende einzuleiten. Mit der Biodiversität schwinde, so Röttgen damals, der Reichtum unserer Erde.

Der Antrag der USA, die als "Botschafter des Klimawandels" bezeichneten Eisbären in Anhang I der Artenschutz-Konvention zu listen, was zur Folge gehabt hätte, daß der internationale Handel mit ihnen oder ihren Fellen verboten worden wäre, war von Deutschland und der EU-Kommission zunächst unterstützt worden, wie es am 2. März 2010 einer Pressemitteilung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu entnehmen war. Tatsächlich jedoch stimmten die EU-Staaten geschlossen gegen den Antrag, die Eisbären von Anhang II auf Anhang I hochzustufen, mit der Begründung, daß der Klimawandel das Hauptproblem sei. Heike Finke, Artenschutzexpertin des Naturschutzbunds Deutschland (NABU), ließ dieses Argument nicht gelten und erklärte, daß die Eisbären durch den Klimawandel massiv unter Druck stünden und daß gerade deshalb verhindert werden müsse, daß Hunderte von ihnen für den Handel getötet werden.

Auf der letzten internationalen Artenschutzkonferenz, die im November 2014 in Quito, Ecuador, stattfand, wurde der diesmal von Norwegen gestellte Antrag, die Eisbären unter stärkeren Schutz zu stellen, angenommen mit der Folge, daß mit Eisbären oder Eisbärprodukten international kein Handel mehr getrieben werden darf. Wie schon vor zehn Jahren hieß es, daß, wenn die Klimaentwicklung so weitergehe wie bisher, innerhalb der nächsten hundert Jahre der größte Teil des von Eisbären genutzten Lebensraums für die Tiere unbewohnbar wird. Nicolas Entrup, Sprecher der Meeresschutzorganisation OceanCare, reagierte positiv auf den Beschluß der Artenschutzkonferenz und erklärte, dieser sei eine klare Aufforderung an die Staatengemeinschaft, Verantwortung zu übernehmen und alles daran zu setzen, den Lebensraum Arktis zu erhalten.

Da es in den zurückliegenden Jahren an Appellen, dringenden Mahnungen und Aufforderungen nicht gemangelt und ihre Klarheit ebenfalls nichts zu wünschen übriggelassen hatte, ist gegenüber dem mit dem jetzigen Beschluß der Artenschutzkonferenz begründeten Optimismus Vorsicht, wenn nicht mißtrauische Skepsis geboten.

Wegen der katastrophalen Situation der Eisbären beispielsweise im kanadischen Churchill in der westlichen Hudson Bay hatte der WWF schon 2010 Alarm geschlagen.

Schnee- und Eislandschaft bis zum Horizont - Foto: By Ansgar Walk [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html), CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/) or CC BY 2.5 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.5)], via Wikimedia Commons

Kein Flecken Natur bleibt unberührt - Cape Churchill im Wapusk-Nationalpark, Manitoba, Kanada, 22. November 2000
Foto: By Ansgar Walk [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html), CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/) or CC BY 2.5 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.5)], via Wikimedia Commons


Absichtserklärungen diskreditieren sich selbst

Auf der Degrowth-Konferenz in Leipzig herrschte gegenüber Bekundungen bester Absichten und optimistisch anmutenden Prognosen eine skeptische bis desillusionierte Haltung vor, so daß es hier schwierig geworden wäre, die immer gleichen und stetig wiederkehrenden Behauptungen etwa dergestalt, es werde alles getan, um die katastrophalen Folgen des Klimawandels abzuwenden, glaubwürdig zu vertreten. Eisbären befinden sich in einer katastrophalen Lage, die nicht irgendwann in einer fernen oder auch näheren Zukunft lebensbedrohlich werden könnte, sondern dies, wie sich belegen läßt, längst ist. An ihr Schicksal zu erinnern und schnellste Abhilfe zu fordern, ließe sich mit Aspekten des Tierschutzes oder des Mitempfindens mit existentiell bedrohten Lebewesen begründen. Ein solcher Ansatz würde allerdings, was die gesamte Problematik betrifft, möglicherweise noch zu kurz greifen, wenn er nämlich mit der Annahme verknüpft würde, nur die Eisbären wären von den fundamentalen und in ihren Folgen wie Wechselwirkungen kaum abzusehenden Veränderungen in Natur, Klima und Umwelt betroffen.

Auf der Leipziger Konferenz, die sich nicht nur dem Klimaproblem, sondern seinen gesellschaftlichen Ursachen widmete und die Frage nach der Überwindung des Kapitalismus aufwarf, waren erklärtermaßen aktivistische Ausdrucksformen hochwillkommen, um der "Kopflastigkeit" andere Kommunikations-, Vermittlungs- und Diskussionswege gegenüberzustellen. Keno Düvel, Mitglied der ehrenamtlich in Umweltfragen aktiven Gruppe Greenpeace Hannover, hat die Gelegenheit zu einer unkonventionellen Aktion ergriffen und ist in Gestalt - oder besser gesagt im Kostüm - eines Eisbären erschienen. Er bewegte sich mit großer Selbstverständlichkeit durch die Veranstaltungsräume, wurde im Foyer der Universität ebenso gesichtet wie bei den - noch bei spätsommerlicher Hitze - draußen aufgestellten langen Tischreihen, an denen die Konferenzteilnehmenden ihr Mittagessen einnahmen und über das Gehörte und Erlebte weiter palaverten.

Aktivist in Eisbär-Kostüm sitzt inmitten der Konferenzteilnehmer unter Sonnenschirmen - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ins Gespräch vertieft
Foto: © 2014 by Schattenblick

Unter jüngeren Greenpeace-Aktivisten weisen solche Aktionsformen eine lange Tradition auf. Verkleidet als Tiger, Orang Utans oder eben auch Eisbären hatten über einhundert von ihnen beispielsweise im Juni 2009 zu Beginn der UN-Klimaverhandlungen in Bonn vor dem Konferenzgebäude für mehr Klimaschutz demonstriert. Was Karsten Smid, Klima-Experte bei Greenpeace, damals feststellte, hat in den seitdem vergangenen Jahren nichts an Aktualität verloren. Die Verhandlungen, so befand Smid damals, steckten in einer Sackgasse, es fehle der politische Wille, den Klimaschutz in Gang zu bringen. Als zentrales Problem hatte er benannt, daß die Industrienationen kein Geld für den globalen Klimaschutz zu zahlen bereit seien. Finanzhilfen würden jedoch von den sogenannten Entwicklungsländern als Voraussetzung angesehen, um überhaupt weiter zu verhandeln; schließlich sind sie am stärksten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen.

Greenpeace forderte 2009, daß die Industrieländer bis 2020 ihre Treibhausgase um 40 Prozent verringern sollten, um den drohenden katastrophalen Klimawandel zu verhindern. Genau dies behauptet die Bundesregierung noch erreichen zu wollen und zu können, beschloß doch das Bundeskabinett Anfang Dezember Dutzende Einzelmaßnahmen eines Umwelt-Aktionsprogramms sowie eines Energieeffizienzplans, um zwischen 62 und 82 Mio. Tonnen Kohlendioxid zusätzlich einzusparen. Das war vor dem UN-Klimagipfel in Lima, der bekanntlich mit Absichtsbekundungen für unverbindliche, zu einem späteren Zeitpunkt zu beschließende Maßnahmen geendet und die Gräben zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern weiter vertieft hat.

Eisbär-Aktivist mit SB-Redakteurin - Foto: © 2014 by Schattenblick

Keine Scheu vor Pressefragen
Foto: © 2014 by Schattenblick


Rettet die Arktis!

Im Herzen seien wir alle Eisbären, erklärte Keno Düvel, Greenpeace-Aktivist in Eisbärengestalt, auf der Leipziger Degrowth-Konferenz gegenüber dem Schattenblick. Im Foyer der Universität fand er sich zu einem kurzen Gespräch bereit.

Schattenblick: Ich nehme an, Sie haben einen weiten Weg hinter sich gebracht, um hierher zu gelangen. Wie ist es dazu gekommen, daß Sie an der Degrowth-Konferenz teilnehmen?

Eisbär-Aktivist: Ich bin von der Organisation Greenpeace und komme aus der Arktis...

SB: Ganz aus der Arktis?

EA: Ja. Eisbären leben in der Arktis. Und da durch ständiges Wachstum die Umwelt zerstört wird und bei der Verbrennung von Naturressourcen wie zum Beispiel Erdöl CO2-Emissionen erzeugt werden, schrumpft die Arktis. Infolge der Klimaerwärmung wird die arktische Eisfläche immer kleiner.

SB: Eine für Sie sehr gefährliche Entwicklung?

EA: Ja, denn das ist mein Lebensraum. Deswegen bin ich bei Greenpeace. Wir wollen die Arktis schützen, damit sie nicht noch komplett schmilzt und ich überhaupt keinen Lebensraum mehr habe.

SB: Haben Sie in der Verwandtschaft oder Bekanntschaft schon Todesfälle zu beklagen?

EA: Ja, aber darüber möchte ich jetzt nicht sprechen.

SB: Gab es schon eine Resonanz der Teilnehmenden auf Ihr Erscheinen hier auf der Konferenz?

EA: Ja. Hier wird anerkannt, daß die Naturzerstörung durch den generellen Wachstumszwang hervorgerufen wird. Deswegen denke ich, daß dies ein guter Ort für mich ist, um die Leute darauf aufmerksam zu machen, daß die Arktis schmilzt.

SB: Wollen Sie noch eine direkte Botschaft an die Menschen formulieren?

EA: Ja. Save the Arktis!

SB: Danke schön.

'Eisbär'-Aktivist mit SB-Redakteurin neben Transparent mit der Aufschrift 'Gutes Leben für alle' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Gilt das "gute Leben" auch für Eisbären?
Foto: © 2014 by Schattenblick


Und was sagt die Forschung zur arktischen Eisschmelze?

Für die sprichwörtlich zuletzt sterbende Hoffnung gibt es kaum Anhaltspunkte. Die mit dem Schlagwort Klimawandel bezeichneten Veränderungsprozesse lassen sich ganz offenbar von Konferenzen, Beschlüssen, Absichtserklärungen, Bekundungen des eigenen guten Willens und Kritiken am schädlichen Verhalten anderer nicht aufhalten. Aktuelle Forschungsergebnisse zur Eisschmelze in der Nord- wie auch der Südpolregion lassen sogar eher vermuten, daß die in der Vergangenheit erstellten Prognosen in negativer Hinsicht von der tatsächlichen Entwicklung noch übertroffen werden.

Die Irvin-Universität in Kalifornien kam in einer aktuellen Untersuchung zum Zustand der Antarktis zu dem Ergebnis, daß sich das Abschmelzen des Gletschereises an den Küsten der Amundsen-See am (ohnehin eisbärfreien) Südpol in den zurückliegenden zehn Jahren nahezu verdreifacht hat. Im Mai 2014 hatte die Forschergruppe um Ian Joughin an der Universität des Bundesstaats Washington in Seattle als Ergebnis ihrer Untersuchungen bekanntgegeben, daß die antarktische Eisschmelze wohl nicht mehr zu stoppen sei. Auf der Grundlage von in vier Jahrzehnten gesammelten Daten waren auch andere US-Forscher zu der Auffassung gelangt, daß die sechs in die Amundsen-See mündenden Gletscher den "Point of no return" bereits überschritten hätten.

Für die Nordpolregion sehen die Prognosen nicht besser aus. Dem arktischen Ökosystem drohe die Zerstörung, so die Prognose einer US-Studie vom Oktober, die auf Hochrechnungen der US-Klimabehörde NOAA und der Universität des Bundesstaats Washington beruht. Die Forscher nehmen allerdings an, daß das Sommereis in Alaska, Nordkanada und Grönland nicht vollständig verschwinden werde, weil starke Winde über dem Arktischen Meer die Eisschollen in mehreren Schichten an Land drückten, wodurch sich eine starke Eisdecke gebildet hätte, die der Erwärmung noch eine Weile trotzen könne.

Dem hochempfindlichen Ökosystem Grönlands sagen britische Wissenschaftler der Universität Bristol die Vernichtung voraus. Mit einem Computermodell kombinierte Satellitenmessungen hätten ergeben, daß die grönländische Eisdecke immer schneller schmelze, seit 2000 seien bereits 1500 Kubikkilometer Eis verlorengegangen. Würde das Grönland-Eis vollständig abschmelzen, stiege der Meeresspiegel den Berechnungen zufolge um für weite Küsten- und Inselregionen katastrophale sieben Meter.

Betroffen sind von den immer tiefer greifenden Veränderungen in der Arktis beileibe nicht nur Eisbären und Seehunde. Norwegische Klimaforscher hatten in Spitzbergen, der im Nordpolarmeer gelegenen Inselgruppe, zwischen 1995 und 2011 eine dort heimische Rentierart beobachtet und festgestellt, daß die Rentiere zu den Opfern des Klimawandels gehören. In ihrer Studie hatten sie nachgewiesen, daß die Zahl neugeborener Kälber massiv zurückgeht, wenn es zwischen November und April häufig regnet anstatt zu schneien.

Die Eisschmelze an beiden Polen beeinträchtigt auch den Lebensraum von Walrossen. In Alaska bevölkern die Tiere, die normalerweise auf dem Packeis leben, immer mehr die Strände. Da es keine Anzeichen für eine Erholung des Eises gäbe, rechnet Mark Serreze, Direktor des nationalen Datenzentrums für Schnee und Eis in Boulder, damit, daß die Walrosse in Zukunft im Sommer immer häufiger das Festland aufsuchen.

Die Liste der bereits eingetretenen Folgen dessen, was als Klimawandel die Gemüter so sehr zu beschäftigen scheint und immer wieder auf internationalen Konferenzen zum Gegenstand Entschlossenheit suggerierender Debatten gemacht wird, ließe sich noch beliebig fortsetzen. Die Frage allerdings, wie einer für Mensch, Tier und Natur gleichermaßen schädlichen Zuspitzung ohnehin kritikwürdiger Lebens- und Ausbeutungsverhältnisse wirksam entgegenzutreten sei, wäre damit noch nicht berührt.

Wie ein solches Anliegen gegenüber den Interessen derer, die von der internationalen Raubstruktur profitieren und ihre Vernutzungsprivilegien ganz gewiß nicht preiszugeben bereit sind, durchgesetzt werden könnte, ist eine der vielen auf der Degrowth-Konferenz aufgeworfenen Fragen. Das große Plus dieser internationalen Zusammenkunft sozial wie ökologisch engagierter Menschen, nämlich die global dominierende Verwertungsordnung, genannt "Kapitalismus", in den Zenit der Analysen und Überlegungen zu rücken, könnte auch all jene beflügeln, die ihre Sorgen um Menschen wie Eisbären in widerständiges Handeln überzuführen entschlossen sind.

'Eisbär'-Aktivist von hinten im Foyer der Uni - Foto: © 2014 by Schattenblick

Kampf dem Klimawandel
Foto: © 2014 by Schattenblick


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

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2. Januar 2015


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