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BERICHT/060: Klimacamp trifft Degrowth - Umbauvisionen auf nüchternem Grund ... (SB)


Campaign against Climate Change und die britische Arbeitsgesellschaft

Klimacamp und Degrowth-Sommerschule im Rheinischen Braunkohlerevier 2015


Als Karl Marx und Friedrich Engels im Dezember 1847 und Januar 1848 in Manchester das Kommunistische Manifest verfaßten und damit in der Geburtsstätte der industriellen Revolution jenen Funken losschlugen, der Jahrzehnte später im russischen Zarenreich zur Oktoberrevolution führen sollte, tobten in Großbritannien bereits heftige Arbeiterkämpfe. Doch die Hoffnung, aus dem Manchesterkapitalismus, jenem Urgestein der Ausbeutung des Proletariats, eine sozialistische Vision zu erwecken, schlug fehl. Die britischen Kapitaleliten und Kolonialherren fanden sowohl im Königshaus als auch im bürgerlichen Parlament eherne Stützen einer auf Privateigentum basierenden Ideologie der Arbeitskraftverwertung. Das Manifest blieb im britischen Empire aus einer Fülle von Gründen Makulatur.

Wo der Marxismus damit scheiterte, die Produktionsverhältnisse im Sinne der radikalen Arbeiterbewegung umzuwälzen, scheinen die Vorzeichen für einschneidende Veränderungen in der britischen Gesellschaft hin zu einer ökologisch fundierten Produktionsweise nunmehr günstiger denn je zu stehen. Triebfeder der sich ankündigenden Transformationsprozesse ist die drohende Klimakatastrophe, die dem Umgang mit Ressourcen aller Art eine neue Perspektive aufzwingt, will die Menschheit über das 21. Jahrhundert hinaus noch eine Zukunft haben. Um Klima und Konsum auf einen sozialökologischen Nenner zu bringen, hat die Gewerkschaftsgruppe der Campaign against Climate Change in Großbritannien einen innovativen Gesellschaftsplan ausgearbeitet, der den Ausstieg aus den fossilen Energien ebenso engagiert angeht wie die sozialen Probleme und Folgeentwicklungen mitdenkt.

Auf dem Klimacamp in Lützerath stellte Steven Hall, Leiter des Gewerkschaftsdachverbands TUC von Greater Manchester, der als Umweltaktivist seit Jahren an vorderster Front gegen ein Frackingvorhaben in Lancashire kämpft, das Konzept erstmals in Deutschland vor. Das proklamierte Ziel, die CO2-Emissionen in der britischen Wirtschaft in den nächsten 20 Jahren um 80 Prozent zu senken und im gleichen Zuge netto eine Million Arbeitsplätze zu schaffen, klingt nach einer beispiellosen Herkulesaufgabe. Ein Arbeitsminister müßte in der heutigen Zeit schon viel Chuzpe aufbringen, wagte er eine Prognose in dieser Größenordnung abzugeben.

Gemeinhin ist der Lohnkampf die Prämisse und althergebrachte Aufgabe der Gewerkschaften, Gesellschaftsutopien gehören dagegen weniger zu ihrem Metier. Als Verhandlungspartner der Arbeitgeberseite gilt ihr Hauptaugenmerk dem Aushandeln von Kompromissen im Grundwiderspruch zwischen Arbeit und Kapital. Daß eine Gewerkschaftsbewegung ihr angestammtes Terrain verläßt und statt mit Streik zu drohen und Druck auf die Konzerne auszuüben die Dringlichkeit einer sozialökologischen Gesellschaftsveränderung auf ihre Fahne schreibt, stellt für sich genommen bereits ein bahnbrechendes Novum dar. Doch wie weit wird sie gehen, welche Grenzen anerkennen und andere niederreißen? Verfolgt sie allen Ernstes eine antikapitalistische Wachstumskritik oder mischt sie den vielen Spielarten reformistischer Teilhaberschaft nur eine weitere Karte bei? Angesichts der unüberschaubar gewordenen Realität kapitalistischer Krisen in den westlichen Industriestaaten könnten Gewerkschaften durchaus Massen mobilisieren, was um so dringlicher erscheint, als sie in Großbritannien als gesellschaftliche Kraft schon seit langem am Boden liegen.

Hall hat seine Reise nach Deutschland mit der hoffnungsvollen Botschaft angetreten, daß die Gefahren des Klimawandels noch abwendbar seien, wenn konkrete Vorschläge vorgelegt und entschiedene Maßnahmen ergriffen würden. Zwar räumte der Referent ein, daß er keine vollständige Antwort auf den Klimawandel habe, wohl aber Teilaspekte zur Lösung präsentieren könne. Es gehe darum, die Nutzung fossiler Rohstoffe drastisch herunter- und den Anteil von erneuerbaren Energien entsprechend hochzufahren. Wälder, die zur Asche niederbrennen, oder zu Wüsten verödende Landstriche, weil seit Jahren kein Regen mehr gefallen ist, während andernorts sintflutartige Regengüsse in wenigen Stunden Städte und Siedlungen in ein apokalyptisches Szenario tauchen, haushohe Flutwellen Schiffe auf den Meeresgrund ziehen und Deiche brechen lassen, künden in jeder Nachrichtensendung von den Auswirkungen der Erderwärmung. Daß das kapitalistische Weltsystem derweil unbeeindruckt fortfährt, mit der Agroindustrialisierung der Landwirtschaft das Artensterben zu befeuern, den anbaufähigen Boden durch Überdüngung auf Jahrzehnte hinaus unbrauchbar zu machen, Wasser zu privatisieren und infolge toxischer Produktionsverfahren in Kloaken zu verwandeln und durch Ressourcenkriege millionenfache Migration und Verelendung heraufzubeschwören, ist die andere Seite dieser Medaille.

Angesichts der Herausforderungen und drohenden Umwälzungen für die modernen Gesellschaften könnte der Vorstoß der britischen Gewerkschaft nicht zeitgemäßer und von keiner größeren Wichtigkeit für das Überleben von Mensch und Natur sein. Weitermachen wie gehabt oder radikaler Schnitt, das ist hier die Frage, die Wurzeln und Voraussetzungen des Übels beim Namen nennen oder die Mahnrufe ökologischer Experten unter dem Mäntelchen eines grünen Kapitalismus ersticken? In erster Linie will Hall die Energiebasis der kapitalistischen Produktion umstellen, weitergehende Forderungen scheinen aus seiner Sicht gegenwärtig nicht durchsetzbar zu sein. Um Akzeptanz für seine Gewerkschaftsinitiative zu erlangen, muß er die herrschenden gesellschaftlichen Kräfte und Akteure, die an den Hebeln der Macht sitzen und in der Lage sind, Verluste und Schädigungen ihrer Art der Ökonomie jederzeit auf die Gesellschaft zurückzuführen, davon überzeugen, daß der unabdingbare Strukturwandel in der Arbeitswelt in kontrollierten Bahnen verlaufen kann.

Hall rechnet alles in allem mit 1,75 Millionen neuen Arbeitsplätzen, denn zur Nettoeinschätzung kämen weitere 500.000 Stellen durch die Zulieferindustrie hinzu, während die anderen 250.000 Jobs durch die Ablösung des fossilen Energiesektors entstehen würden. Dem Referenten schwebt zudem das Einrichten einer nationalen Klimabehörde vor, um sicherzustellen, daß die Löhne der Angestellten im Energiebereich nicht niedriger ausfallen als 10 Pfund oder umgerechnet etwa 13 Euro in der Stunde. Hall geht davon aus, daß es in Großbritannien bereits ausreichend Menschen mit der erforderlichen Ausbildung gibt, um schon morgen im Programm mitarbeiten zu können, im Moment jedoch, so sein ironischer Unterton, ihre Zeit damit verschwendeten, Regale in Supermärkten einzuräumen, weil sie in ihrem Ausbildungsberuf keine Arbeit finden. Hall prognostiziert für die Hälfte der momentan 2,5 Millionen Arbeitslosen in Großbritannien nützliche und gut bezahlte Arbeitsplätze, eine Senkung der Stromrechnungen im zivilen Bereich und eine drastische Reduzierung des Kraftfahrzeug- bzw. Individualverkehrs, was helfen würde, die Kosten für die Instandhaltung von Straßen zu drosseln und die für britische Großstädte nicht untypischen Staus samt den Begleiterscheinungen von Smog und Luftverschmutzung weitgehend zu beheben. Daß dies nicht ohne die Ausweitung des öffentlichen Transportsystems im städtischen Großraum zu haben ist, markiert den nächsten logischen Schritt in diesem ökologischen Gedankenkonzept.

Energieeinsparung und Bilanzierung der Schadstoffemissionen gegen den Raubbau an den Lebensgrundlagen spielen in diesem Modell eine tragende Rolle im gesamtgesellschaftlichen Umbau des britischen Zivilsektors. An den Produktionsverhältnissen als solchen rüttelt Hall indessen nicht. Er mahnt die weiten Transportwege für Lebensmittel und Verbrauchsgüter aller Art an, trügen diese doch wesentlich zum Klimakollaps bei. Auf dem Wege der Verschiffung, Spedition und des weiträumigen Netzes infrastruktureller Distribution würde nicht nur Energie unnötigerweise verbraucht, zudem wanderten Unmengen an Nahrungsmitteln schlechterdings in die Mülltonne, was wiederum den Hunger in der Welt verschärft und heimische Produktionsstätten und Anbaugebiete von Obst, Gemüse und anderen Lebensmitteln, eben weil sie mit den internationalen Importen nicht konkurrieren könnten, aus dem Markt drängt. Hall sieht daher in der Erzeugung der Nahrung im eigenen Land einen wichtigen Faktor bei der Reduzierung der Schadstoffbelastungen. Es mache keinen Sinn, beispielsweise Erdbeeren aus Chile einzufliegen, wenn man sie gleich um die Ecke anbauen könnte. Würde man statt der weltweiten Importe die Ernährungssouveränität auf die heimische Landwirtschaft verlegen, ließen sich seiner Ansicht nach überaus riskante und umweltschädigende Methoden der Ressourcengewinnung wie etwa das Fracking vollständig überflüssig machen.

Eine ökologische Reorganisation im Energiebereich mache noch aus einem anderen Grund Sinn. So besitzt Großbritannien die besten Voraussetzungen für den Aufbau hydroelektrischer Kraftwerke, weil das Land in bestimmten Küstenregionen mit dem größten Tidenhub in der ganzen Welt gesegnet ist. Eine Stadt wie Barrow, in der heute nukleare Unterseeboote gebaut werden, könnte dank des Meeresunterschieds zwischen Ebbe und Flut zum Weltzentrum für diese Art von Kraftwerken avancieren. Um sich weitgehend energieautark aufzustellen und Verluste durch Einspeisung und Transport des Stroms über lange Strecken im Netz zu vermeiden, gelte es andererseits, den Strom im Nahbereich zu produzieren. Wie sich technologische Lösungen auf der Basis zentralisierter Großprojekte, die weiträumige Areale versorgen und in den Händen der Energiekonzerne verbleiben, mit dezentraler Stromproduktion vereinbaren lassen, bleibt jedoch eine offene Frage.

Hall setzt neben der Energiegewinnung aus regenerativen Quellen auf eine Senkung des Energieverbrauchs etwa durch eine energetische Sanierung öffentlicher wie auch privater Gebäude und Geschäfte. Durch den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs könnte ein Viertel des Ausstoßes klimaschädlicher Gase eingespart werden. Einer Umfrage zufolge würden 86 Prozent aller Autofahrer in Großbritannien ihr Fahrzeug stehenlassen, wenn im Gegenzug ein kostengünstigeres oder kostenfreies öffentlichen Transportsystem vorhanden wäre. Daher gehöre die Ausweitung des Busverkehrs zu den tragenden Stützen im Gewerkschaftsprogramm zur Reduzierung der Emissionsmenge. Vorschläge, den Güterverkehr aus der Luft und von der Straße auf die Schienen und Kanäle respektive Flüsse zu bringen, flankieren das Konzept des energiepolitischen Ausstiegs aus den fossilen Brennstoffen. Ihren Beitrag dazu müßten auch die Landwirtschaft und Industrie leisten. So gelte es, industrielle Fabrikationsverfahren energieeffizienter zu machen oder ausströmendes Methangas aus alten Minen aufzufangen.

Im Bereich des Konsums stelle vor allem die Lebensmittelverschwendung ein unübersehbares Problem in Großbritannien dar. Die Wegwerfgesellschaft wieder auf den Pfad ökologischer Nachhaltigkeit zu bringen, sei eine Herausforderung von hoher Evidenz. Um dieses Ziel zu erreichen, seien Aufklärung, aber auch schulische Erziehung zum sorgsamen Umgang mit Ressourcen unerläßlich. Im gleichen Zuge müßten Haushalte deutlich weniger Energie verbrauchen, beispielsweise durch moderne Glühbirnen und eine bautechnische Sanierung, damit Eigenheime und Mietwohnungen nicht nur CO2-neutral werden, sondern auch Energie produzieren. Beklagenswert nach Ansicht des Referenten sei vor allem, daß in Großbritannien, aber insbesondere in China wertvolle Ressourcen verschwendet würden, um Konsumartikel für Eineuroläden zu produzieren, die weder lebensnotwendig noch in irgendeiner Art sinnvoll seien und letztendlich nur das Wachsen der Müllberge vorantrieben. Ohne eine Demokratisierung der Produktion und Distribution nach Maßgabe von Gebrauchswerten, die die eigentlichen Bedürfnisse der Menschen befriedigen und unnötigen Luxus minimieren, lasse sich keine Zukunft planen. Der Wohlstand einer Gesellschaft bemißt sich Hall zufolge nicht nur in materiellen Gütern. Einschnitte beim Konsum könnten durch weniger Arbeitszeit bei gleichem Einkommen aufgewogen werden, wodurch die Lebensqualität in der Freizeitgestaltung sogar steigen würde, auch wenn der Referent in diesem Zusammenhang unerwähnt ließ, daß die Ansprüche infolge der zu erwartenden Preissteigerungen heruntergeschraubt werden müßten und ein Mangelregime drohte.


Eine sozialökologische Zukunft für die britische Gesellschaft?

Der Krise des Kapitalismus und dem drohenden Kollaps der Ökosysteme müsse man, so Hall, daher auch mental begegnen durch die Schaffung eines neuen Bewußtseins für den Ernst der Lage. Mit Hilfe von Kampagnen, die von der grünen Partei Großbritanniens und den ihnen angeschlossenen Gewerkschaften unterstützt werden, werben Hall und die Campaign against Climate Change für die Realisierung ihres Programms auf breiter gesellschaftlicher Ebene. Die politischen Akteure hielten sich entweder bedeckt oder machten aus ihrer Gegnerschaft keinen Hehl. So rechnet Hall nicht mit einer Zustimmung seitens der konservativen Partei, untergräbt das Programm doch zum einen die Profiterwartungen der privaten Energiekonzerne, während es zum anderen der herrschenden neoliberalen Lehre mit massiven staatlichen Eingriffen in die Wirtschaftsstrukturen in die Quere kommt.

Ungeachtet der Unterstützung aller Gewerkschaften überwiegt bei der Mehrheit der Arbeiter in der Energieindustrie eine ablehnende Haltung gegenüber dem Programm, einesteils aus Angst vor einem Arbeitsplatzverlust und zum anderen, weil sie im Verzicht zum Beispiel auf das Fracking ein energiepolitisches Desaster sehen und ihre parteiliche Heimat im konservativen Lager haben. Dabei seien die Gasvorkommen ein endliches Gut, deren Förderung sich in absehbarer Zeit ohnehin nicht mehr rentieren wird. So gesehen seien die Arbeiter in diesem Industriezweig schon heute von Arbeitslosigkeit bedroht. Als Sozialist und Gewerkschafter kann Hall ihren Standpunkt weder teilen noch nachvollziehen. Aus seiner Sicht ist es viel sinnvoller, sie schon heute für Beschäftigungsverhältnisse in der Erneuerbaren Energie umzuschulen und davon zu überzeugen, daß ihre Zukunft und die der britischen Gesellschaft nur dann auf einen grünen Zweig kommen wird, wenn sie ökologisch definiert und getragen werde.

Hall beziffert die Nettokosten des von ihm vorgestellten Programms pro Jahr auf 19 Milliarden Pfund, was jedoch eine schöngefärbte Rechnung darstellt, denn tatsächlich würden sich die Bruttokosten auf jährlich 65 Milliarden Pfund belaufen. Nur abzüglich der Sozialleistungen, die jeder Arbeitslose in Großbritannien schon heute verursacht, die aber wegfallen würden, wenn sie nach dem Programm einen Arbeitsplatz in der ökologischen Energiewirtschaft finden, läßt sich ein Nettobetrag von jährlich 19 Milliarden Pfund herunterrechnen, vorausgesetzt, die Pläne ließen sich 1:1 umsetzen und die Übergangszeit von fossilen zu alternativen Energien wäre auf ein Minimum zu begrenzen, was sich angesichts der noch zu schaffenden Infrastruktur als Rechnung mit vielen Unbekannten erweist.

Der Referent weist das von ihm offerierte Programm als so flexibel und grundinnovativ aus, daß es auf jedes Land der Erde übertragen werden könnte. In Südafrika beispielsweise findet es bereits Anwendung, auch wenn man dort stärker auf Solarenergie und weniger auf Wind- und Wasserkraft setze und analog zur geringeren Bevölkerungsgröße nur eine Viertelmillion neuer Arbeitsplätze geschaffen werden müßten. Hall zeigt sich konsterniert, daß ihm trotz der unbestreitbaren Vorzüge des Programms in Großbritannien eine Welle der Kritik entgegenschlage. Vor allem in der gegenwärtigen Zeit der Austerität, so das Hauptgegenargument, seien die Kosten dafür staatsökonomisch nicht aufzubringen. Neben der Replik aus der Wirtschaft beklagt Hall zudem, daß viele Menschen und selbst Aktivisten aus der Anti-Fracking-Bewegung nach wie vor nicht an eine Klimakatastrophe glaubten und sie für ein Hirngespinst renommiersüchtiger Wissenschaftler oder gar für eine Verschwörung staatlicher Institutionen hielten, um den Bürgern noch mehr Öko-Steuern aus der Tasche zu ziehen, und daß Schwankungen im Klimahaushalt normal seien und sich die Großwetterlage quasi von selbst wieder regeln werde.

Auf den Einwand, das Projekt sei schlichtweg zu teuer und in der angespannten Finanzlage nicht realisierbar, kontert Hall mit der rhetorischen Frage: Wie könnten wir uns die Kosten nicht leisten? In diesem Zusammenhang verweist er auf den Ökonomen und früheren Weltbanker Lord Nicholas Stern, der im Auftrag der alten Labourregierung eine Studie darüber erstellt hatte, wie hoch sich die Kosten des Klimawandels belaufen würden, wenn man erst in zehn Jahren konkrete Maßnahmen dagegen ergreift. Nach seiner Berechnung würden sich die finanziellen Aufwände dann verzwanzigfachen. Hall unterstreicht dies mit einem plastischen Beispiel: Wenn die Renovierung für ein beschädigtes Haus heute 1000 Euro kostet, würden sich die Ausgaben für eine Instandsetzung in zehn Jahren schon deshalb nicht mehr lohnen, weil das halbe Haus verfallen wäre und die Reparaturen 20mal so teuer wären wie heute. Jeder Hausbesitzer mit ökonomischen Verstand, so Hall in einer zugespitzten Schlußfolgerung, würde heute notfalls einen Kredit aufnehmen, anstatt zehn Jahre zu warten, um dann ungleich mehr Geld investieren zu müssen.

In der britischen Politik und Gesellschaft sei jedoch die Haltung weit verbreitet, die Probleme immer wieder in die Zukunft zu verschieben, was bedeute, schlußendlich vor der Kostenexplosion zu kapitulieren. Sofort zu handeln, sei daher nicht nur ein Gebot der Vernunft, sondern spare auf Dauer sogar Geld. Hall zufolge ließe sich das Projekt auf verschiedenen Wegen finanzieren. Eine Möglichkeit bestünde in der Erhebung einer 0,05prozentigen Finanztransaktionssteuer auf Spekulationsgeschäfte, die nach historischem Vorbild in Großbritannien Robin-Hood-Steuer genannt wird, nach jenem Gesetzlosen, der von den Reichen nahm, was er an die Armen verschenkte. Allein dies würde dem Staat im Jahr Steuereinnahmen von 40 Milliarden Pfund einbringen, also doppelt soviel, wie für das Programm nötig sind. Für die Reichen im Lande wäre der Griff ins Portemonnaie leicht zu verschmerzen, sparten sie nach Angaben der Gewerkschaft der Steuerbeamten doch jedes Jahr durch fiskale Vergünstigungen 120 Milliarden Pfund ein. Staaten hätten jedoch die Neigung, öffentliche Ausgaben unter Verweis auf die Haushaltspolitik zu beschneiden und statt dessen Sparregularien zu erlassen. Doch habe sich gezeigt, daß die englische Nationalbank im Zuge der großen Krise von 2008 ein Programm über 354 Milliarden Pfund aufgelegt habe, um britische Banken vor dem Konkurs zu retten. Bei der aktuellen Griechenlandkrise habe die Europäische Zentralbank sogar 1,1 Billionen Euro in die Eurozone gepumpt. Geld könne also nicht der Grund sein, das Projekt nicht zu realisieren.


Grenzen klimaschonender Konversionskonzepte

Das Hallsche Konzept eines ökologischen Umbaus der Energiewirtschaft, mit dem über eine Million neuer Arbeitsplätze geschaffen werden sollen, hinkt der Wirklichkeit insofern hinterher, als der Anteil der Lohnarbeit am Produktionsprozeß wegen des wachsenden Automatisierungsgrades sinkt, so daß die Wirtschaftlichkeit der Branchenunternehmen nicht über die Mehrwertabschöpfung gesichert werden kann. Staatliche Subventionen und der Umstand, daß die Stromerzeugungskosten über die Stromrechnung und damit über einen Abzug von der Lohnsumme eingetrieben werden, sichern einigen wenigen Herstellern von Solar- und Windenergieanlagen eine Existenz auf einem Markt, der seit Jahren erheblichen Schwankungen unterliegt. Daß der Staat die erneuerbaren Energien mit Steuergeldern subventioniert, geschieht aus dem Eigeninteresse, eine nationale Fertigungsindustrie aufzubauen und gegen die ausländische Konkurrenz abzusichern. Doch der Entwertungswettbewerb auf den weltweiten Märkten hat zeitweise zu einem ruinösen Preisverfall geführt mit der Folge, daß in dieser Phase nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen wurden. Wenngleich man insgesamt von einer steigenden Nachfrage ausgehen kann, sind doch unter den herrschenden Konkurrenzbedingungen zwangsläufig Verwerfungen und Produktionseinbrüche in einzelnen Ländern zu erwarten.

Unberücksichtigt ließ Hall bei seinem Vortrag die Frage der Infrastruktur im Energiesektor. Die Technologie, um stark schwankende Stromeinspeisungen zu speichern, zu verteilen und eine regelbare Stromversorgung zu garantieren, existiert bis heute in dem nötigen Umfang nicht. Auch ein Stromleitungsnetz, dessen Ausbau die Installationskosten von Solar- und Windenergieanlagen um ein Vielfaches übersteigt, ist derzeit flächendeckend nicht vorhanden, um den Energiebedarf im Falle eines Ausstiegs aus der fossilen Energiegewinnung für den privaten als auch industriellen Sektor sicherzustellen. Alles in allem sind die Beschäftigungseffekte, die aus der erneuerbaren Energie resultieren, im Vergleich zu den hohen Investitionskosten in die notwendige Infrastruktur eher gering, so daß die Refinanzierung aller Kosten weiter über Steuern respektive die Stromrechnung erfolgen müßte. Ein Anstieg der Strompreise wäre nicht nur für die privaten Haushalte folgenschwer, die daraus resultierenden Einbrüche im Binnenmarkt würden die ohnehin schwächelnde Konjunktur vollends treffen und damit die Arbeitslosenzahlen im Gegenlauf zur Hallschen Prognose in die Höhe schnellen lassen. Solange die Hersteller von EE-Anlangen ihre Produktionskosten nicht erwirtschaften und die Investitionen in die regenerative Energiewirtschaft trotz des verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten suchenden Finanzkapitals weltweit schwanken, kann von einer ökologischen Kehrtwende unter kapitalistischen Vorzeichen nicht gesprochen werden.

Was bleibt also von dem Vorsatz einer ökologischen Revolution, wenn das primäre Element ihrer Verwirklichung, nämlich die soziale Frage in einer gesellschaftlichen Neuausrichtung in den Vordergrund zu rücken, am strikten Beharrungs- und Obstruktionsvermögen der Kapitaleliten und staatlichen Funktionsträger zerschellt? Von den deutschen Gewerkschaften ist bekannt, daß sie die Realität durch die Brille der Tarifautonomie sehen, weil dies der einzige Stützpfeiler ihrer sozialen Existenzberechtigung ist. Ihr Ziel ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, sofern sich diese mit dem unternehmerischen Kalkül ins Verhältnis setzen lassen. Wo dies nicht möglich ist, werden selbst Abstriche in der Lohnsumme als Verhandlungserfolg gewertet, denn Gewerkschaften sind und bleiben die rechtlichen Vertretungsorgane aller in Arbeit stehenden Beschäftigten, unabhängig davon, ob sie Betriebsverträge haben oder im Billiglohnsektor arbeiten. Die Arbeitslosen und sozial Abgehängten gehören nicht zu ihrer Klientel. Wenn sich Gewerkschaften in Deutschland auf die Seite der Braunkohleindustrie schlagen und keineswegs nur im seltenen Einzelfall ökologischen Bewegungen und Kapitalismuskritikern unsoziales Verhalten vorwerfen, weil sie angeblich gegen die Interessen der Beschäftigten im Energiesektor handeln, muß man sich allen Ernstes die Frage stellen, ob die Welt, in der wir leben, aufgrund des Klimawandels auf dem Spiel steht oder doch nur der warme Platz hinter dem Ofen eigener Partikularinteressen.

Halls Visionen, mit denen er versucht, das herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem hinsichtlich seiner ökologischen Folgewirkungen zu reparieren, müssen sich am eigenen Anspruch messen lassen. Eine kapitalistische Gesellschaft steht und fällt mit dem Wachstumsprimat, dessen produktive Basis in Gestalt der Verwertung menschlicher Arbeitskraft jedoch zusehends wegbricht. Um den Vermittlungsmechanismus im Tausch von Waren in Geld und von Geld in Waren zu gewährleisten, muß der jeweils nächste Zyklus der Produktion bei Berücksichtigung seiner gesamten Voraussetzungen einen größeren Aufwand leisten als der vorangegangene. Um über die Produktions- und laufenden Kosten für das fixe Kapital hinaus Profit zu erwirtschaften, sprengt die Rekapitalisierung des gesellschaftlichen Produkts zwangsläufig die Grenzen einer Nationalökonomie und erzwingt in einem imperialistischen Übergriff die globale Ausbeutung von Ressourcen und Menschen, was die weltweiten Konflikte und Armutsfolgen verschärft.

So unverzichtbar und diskussionsfördernd solche dezidiert ausgearbeiteten Pläne einer Umgestaltung sind, laufen sie doch Gefahr, gesellschaftliche Widersprüche auf wirtschaftliche Gewichtungen zu reduzieren und ausrechenbare Lösungen zum Königsweg zu erklären. Gerät darüber in Vergessenheit, daß es sich um Herrschaftsverhältnisse handelt, die sich innovativ fortentwickelter Ökonomien wie auch Strategien der Repression und Befriedung bedienen, unterschätzt man die Frage der Überwindung dieser Verhältnisse und damit einer kollektiven Ermächtigung oder blendet sie letztlich völlig aus.


Degrowth-Konferenz in Leipzig 2014 im Schattenblick unter dem Sammeltitel "Aufbruchtage"
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Klimacamp und Degrowth-Sommerschule 2015 im Schattenblick
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25. September 2015


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