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BERICHT/098: Mahlzeit kalt - ein sicherer Platz und ein Bett für jeden ... (SB)


Es ist beschämend, daß es in Hamburg immer noch nötig ist, Notschlafplätze vorzuhalten. Erschreckend ist, daß die angebotenen Plätze selbst im Sommer kaum ausreichen. Und völlig inakzeptabel ist es, daß der Hamburger Senat den dringend notwendigen sozialen Wohnungsbau nicht schneller voranbringt.
Bettina Reuter [1] vom Hamburger Aktionsbündnis gegen Wohnungsnot [2]


In Hamburg herrscht keine Wohnungsnot! Das jedenfalls behaupten die Verbände der ortsansässigen Immobilienwirtschaft und warnen vor weiteren Eingriffen in den Wohnungsmarkt und politischem Aktionismus. "Mieter können in der Elbmetropole nach wie vor ausreichend Angebote zu marktrealistischen Konditionen finden." Hamburg sei als Metropole mit wachsender Bevölkerung seit langem ein begehrter Wohnstandort. Sowohl die Miethöhe als auch die Fluktuationsrate spräche aber für einen zwar angespannten, aber funktionierenden Mietwohnungsmarkt. Von Wohnungsnot und explodierenden Mieten könne generell nicht die Rede sein. [3]

In Hamburg herrscht Wohnungsnot! Der Mieterverein bilanziert in der ganzen Stadt eine "einkommensabhängige Wohnungsnot". Auch die sozialen Träger wie das Diakonische Werk weisen darauf hin, daß die Hälfte der Hamburger Bevölkerung Anspruch auf eine Sozialwohnung hat, der Bestand an günstigem Wohnraum jedoch rückläufig ist. Die Folge sei ein Verdrängungsprozeß, da immer mehr Haushalte auch im Mittelstand keine angemessenen Wohnungen mehr finden. Die Wohnungen sind zu klein, liegen in ungünstigen Lagen oder sind zu teuer und bringen die Haushalte in Armut: Im unteren Einkommensfünftel zahlen die Mieterhaushalte im Durchschnitt um die 40 Prozent ihres Haushaltseinkommens für Miete und kalte Nebenkosten, hinzu kommen noch die Kosten für Heizung und Warmwasser. Selbst Arbeitnehmer, die zu Tariflohn in Vollzeit arbeiten und nur für sich selber sorgen müssen, werden durch die Mietkosten oft unter die Armutsschwelle gedrückt. [4]


Transparent an Brücke 'Eine Brücke ist kein Zuhause - Wohnungen für Obdachlose!' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Nicht unter Brücken schlafen zu müssen ist das Privileg der Reichen
Foto: © 2017 by Schattenblick

Besonders benachteiligt auf dem Wohnungsmarkt sind jedoch arme und große Familien, Jungerwachsene, Menschen mit Behinderungen, Migrantinnen, Menschen mit negativem Schufa-Eintrag, Wohnungslose und einige weitere Gruppen. Finden diese einmal ein Wohnungsangebot, das sie bezahlen können, werden ihnen meist solventere Interessenten vorgezogen. Erforderlich wären ausreichend Sozialwohnungen und insbesondere Wohnungen für anerkannt vordringlich Wohnungssuchende, doch unterläßt es der Hamburger Senat, dem gravierenden Mangel in ausreichendem Maß entgegenzusteuern. Das wichtigste wohnungspolitische Instrument, um benachteiligte Menschen in Wohnungen zu bringen, ist die SAGA GWG, Hamburgs größtes Wohnungsunternehmen, das der Stadt gehört. Doch statt vor allem für sozialen Ausgleich zu sorgen, handelt die SAGA GWG zunehmend wie ein profitorientiertes Unternehmen: Der jährliche Gewinn in dreistelliger Millionenhöhe fließt in den Hamburger Haushalt. [5]

Seit vielen Jahren wird in Hamburg der Neubau von erschwinglichen Wohnungen vernachlässigt, die Zahl der Sozialwohnungen schrumpft, weil alte Sozialbindungen auslaufen und nur wenige neue geschaffen wurden. Gleichzeitig steigt die Einwohnerzahl und die Haushaltsstruktur verändert sich hin zu mehr Singlehaushalten, für die preisgünstige, kleine Wohnungen fehlen. Der Mangel an Wohnraum und die Spekulation mit Immobilien im Gefolge der Finanzmarktkrise haben zu stark steigenden Mieten insbesondere bei Neuvermietungen geführt. Allein um den Abbau von Sozialwohnungen zu stoppen, bräuchte Hamburg wesentlich mehr neue Sozialwohnungen als bislang geplant.

Während es Mitte der 1970er Jahre in Hamburg noch ca. 400.000 Sozialwohnungen gab, ging die Zahl auf 167.000 im Jahr 2000 zurück. Daß es heute nur noch rund 80.000 sind, geht vor allem auf wohnungspolitische Grundsatzentscheidungen zurück. Nachdem es in den 1980er Jahren in Teilen Deutschlands zu Leerstand in Sozialwohnungen gekommen war, verkündete der Bundesbauminister 1986 das Ende des sozialen Wohnungsbaus. 1989 wurde die Gemeinnützigkeit bei Wohnungsunternehmen aufgehoben. Durch Binnen- und Zuwanderung vor allem nach dem Fall der Mauer veränderten sich in den 1990er Jahren die Wohnungsmärkte. In den Ballungsräumen im Westen entstand eine neue Wohnungsknappheit, auf die man mit Wiederaufnahme des sozialen Mietwohnungsbaus reagierte, jedoch in viel zu geringem Umfang. Die Zahl der Sozialwohnungen sank bundesweit seit den 1990er Jahren rapide, weil die Bindungen der starken Baujahrgänge ausliefen. In Hamburg errichtete man in der zweiten Hälfte der 90er Jahre jährlich zwischen 2.000 und über 4.000 (1997) Sozialwohnungen, bevor die Fertigstellungen ab 2006 auf rund 1.000 sanken. Im Jahr 2020 wird es in der Hansestadt voraussichtlich nur noch knapp 60.000 Sozialwohnungen geben.


Blick auf das Essen unter der Brücke von zwei Seiten - Fotos: © 2017 by Schattenblick Blick auf das Essen unter der Brücke von zwei Seiten - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Cold Dinner auf dem Hamburger Fischmarkt
Fotos: © 2017 by Schattenblick

"Cold Dinner" auf dem Hamburger Fischmarkt

Das Hamburger Aktionsbündnis gegen Wohnungsnot, ein Zusammenschluß von Trägern und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, hatte für den 20. Oktober zu einem "Cold Dinner" auf dem Hamburger Fischmarkt eingeladen. Mehr als 16.000 Menschen in Hamburg seien wohnungslos und dringend auf eine Wohnung angewiesen. Sie lebten in notdürftigen Unterkünften und Einrichtungen. Über 2.000 wohnungslose Menschen lebten ohne jedes Obdach auf der Straße. Der Hamburger Senat fördere zwar Neubauprogramme, tue aber viel zu wenig für Wohnungslose und arme Menschen in Wohnungsnot. Deshalb nähmen Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit in Hamburg dramatisch zu. Und jetzt stehe der Winter vor der Tür. Angesichts dieser Situation lade das Aktionsbündnis Menschen mit oder ohne Wohnung ein, über die Beendigung der Wohnungsnot in Hamburg zu diskutieren und diese Ideen dann an den Hamburger Senat weiterzuleiten. Keiner müsse beim "Cold Dinner" stehen, aber wer kann, bringe Tisch und Stuhl selber mit. Keiner müsse hungern, aber wer kann, bringe etwas zu essen mit, hieß es in der Einladung. Wir waren gespannt.

Als auf dem Weg zum Hamburger Fischmarkt kalte Regenschauer einsetzten, stand zu befürchten, daß das "Cold Dinner" buchstäblich ins Wasser gefallen sein könnte. Auf den ersten Blick war denn auch vor Ort außer vorbeieilenden Passanten oder kleinen Grüppchen vor Restaurants weit und breit nichts zu sehen, was der angekündigten Zusammenkunft bei Essen, Trinken und Gesprächen entsprochen hätte. In einen überdachten Eingang geflüchtet, verschaffte ein Telefonanruf bei den Organisatorinnen jedoch rasch Aufklärung: Wenige Schritte die Anhöhe hinauf, dann sei die Veranstaltung nicht zu verfehlen. Und in der Tat: In Sicht kam die Unterführung der Breiten Straße, wo ein großes Transparent hing: "Eine Brücke ist kein Zuhause - Wohnungen für Obdachlose!" Darunter im Trockenen an Tischen und Bänken zahlreiche Menschen, für Essen und Trinken war reichlich gesorgt, Helferinnen und Helfer des Aktionsbündnisses erkenntlich an ihren orangenen Westen. Links ein Lastwagen, an dem Getränke ausgeschenkt und dies oder jenes Notwendige bereitgestellt wurde, rechts im Kreis aufgestellte Stellwände mit Informationen zum Thema Wohnungsnot.


Fotostellwände beim Cold Dinner - Fotos: 2017 by Schattenblick Fotostellwände beim Cold Dinner - Fotos: 2017 by Schattenblick Fotostellwände beim Cold Dinner - Fotos: 2017 by Schattenblick

Stationen wohnungsloser Existenz
Fotos: 2017 by Schattenblick

Inzwischen hatte der Regen aufgehört, und wir kamen gerade rechtzeitig, um Bettina Reuter von der Ambulanten Hilfe [6] zuzuhören, die als Sprecherin des Aktionsbündnisses per Megaphon die Anwesenden begrüßte und eine Einführung in die Problemlage samt daraus resultierenden Forderungen an den Senat der Hansestadt gab. Sie erinnerte eingangs daran, daß am 1. November erneut das Winternotprogramm der Stadt Hamburg beginne. Als Erfrierungsschutz stelle die Stadt circa 800 obdachlosen Menschen Notschlafplätze zur Verfügung. Das Aktionsbündnis gehe jedoch davon aus, daß mehr als 2000 Menschen Tag und Nacht auf Hamburgs Straßen sind, die nicht wissen, wo sie schlafen sollen. Inzwischen sei selbst die Notversorgung aller betroffenen obdachlosen Menschen in Hamburg im Rahmen des Winternotprogramms keine Selbstverständlichkeit mehr, da es seit dem letzten Winter ein Zweiklassenprinzip gebe: So sollen auch in diesem Winter einige Menschen aus Osteuropa von der Nutzung des Winternotprogramms ausgeschlossen werden, weil man ihnen unterstellt, sie seien freiwillig obdachlos. Dem halten die im Aktionsbündnis zusammengeschlossenen freien Träger und Einrichtungen der Hamburger Wohnungslosenhilfe entgegen: Alle Menschen in Not, die sonst auf der Straße übernachten würden, sollen Schutz im Winternotprogramm erhalten!

Kritisiert wird seitens des Aktionsbündnisses zudem, daß in den letzten Wochen viele Obdachlose von ihren Platten vertrieben worden seien und damit ihre Schlafstätte verloren hätten. Die Vertreibung obdachloser Menschen sei entschieden zurückzuweisen, das Schlafen in Zelten und unter Brücken Ausdruck einer existenziellen Notsituation und keine freigewählte Romantik. Die Verweisung von ihren Schlafplätzen durch Ordnungsbehörden oder Polizei könne obdachlose Menschen nur hin und her treiben, die Obdachlosigkeit selbst aber nicht beseitigen. Obdachlose Menschen bräuchten ein Dach über dem Kopf, eine Wohnung oder wenigstens eine Notunterkunft. An beiden herrsche in Hamburg seit geraumer Zeit ein großer Mangel, und durch die Vertreibung werde die Notlage der Betroffenen noch verschärft.


Tische mit Lebensmitteln von Menschen umlagert - Foto: © 2017 by Schattenblick

Reichhaltiges Büffet dank "Der Hafen Hilft!" [7]
Foto: © 2017 by Schattenblick

Das Hamburger Aktionsbündnis gegen Wohnungsnot fordere seit langem die Verbesserung der Unterbringungssituation für obdachlose Menschen. Es müßten ganzjährig mehr und akzeptable Unterbringungsmöglichkeiten bereitgestellt werden. Es sei beschämend, daß es in Hamburg immer noch nötig ist, Notschlafplätze vorzuhalten. Erschreckend sei, daß die angebotenen Plätze selbst im Sommer kaum ausreichen. Und völlig inakzeptabel sei es, daß der Hamburger Senat den dringend notwendigen sozialen Wohnungsbau nicht schneller voranbringt. Der Senat müsse den Kampf gegen Wohnungslosigkeit unter die absoluten Prioritäten seiner Politik einreihen. Ziel müsse es sein, binnen fünf Jahren die Anzahl der Obdachlosen um die Hälfte zu reduzieren. Erforderlich sei ein spezielles Wohnungsbauprogramm für besonders benachteiligte Gruppen. Die Grundstücksvergabe müsse an die Verpflichtung zur Erstellung von preisgünstigem Wohnraum gebunden werden.

Der laute Zwischenruf "Obdachlose, besetzt die Elbphilharmonie!" wurde mit Gelächter quittiert, was nicht ganz ausschließt, daß er auf längere Sicht unter Vorschlägen zur Sache firmieren könnte.

Bettina Reuter fuhr fort: Im Neubauprogramm solle der Sozialwohnungsbau deutlich erhöht werden. Gefordert werde weiterhin die konsequente Nutzung des kommunalen Wohnungsunternehmens SAGA für eine soziale Wohnungspolitik in Hamburg, das jede zweite Wohnung für vordringlich wohnungssuchende Haushalte zur Verfügung stellen müsse. Unabdingbar sei die sofortige Aufhebung der Freistellungsgebiete, in denen wegen der beabsichtigten Verbesserung der Sozialstruktur Sozialwohnungen an besserverdienende Bürger vergeben werden. Freiwerdende öffentlich geförderte Wohnungen sollten ausschließlich wieder an den gesetzlich vorgesehenen Personenkreis, also an Menschen mit geringem Einkommen, vergeben werden. Der Hamburger Senat verspreche jedes Jahr 10.000 Wohnungen neu zu bauen, wovon ein Drittel Sozialwohnungen werden sollen. Der Verlust vorhandenen Wohnraums durch Abriß, um an gleicher Stelle neu zu bauen, bleibe dabei jedoch völlig unberücksichtigt.

Ihrem Wunsch nach gutem Appetit und anregenden Gesprächen beim "Cold Dinner" schloß sich auch ein Sprecher des Diakonischen Werks Hamburg an. Er wies zudem auf die auf den Tischen ausliegenden Folien und Schreiber hin, mit denen Ideen und Forderungen zur Behebung der Wohnungsnot festgehalten werden konnten. Diese wurden später eingesammelt und sollen dem Senat vorgelegt werden. So diente das "Cold Dinner" dem zweifachen Zweck, einer Begegnung von etwa 250 Menschen mit und ohne Wohnung unmittelbar Platz zu schaffen und zugleich jenen eine Stimme zu geben, die in der Hamburger Wohnungspolitik am allerwenigsten Gehör und Berücksichtigung finden.


Weste mit Aufdruck des Aktionsbündnisses und ausgelegte Flyer - Fotos: © 2017 by Schattenblick Weste mit Aufdruck des Aktionsbündnisses und ausgelegte Flyer - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Fotos: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] http://www.wohnungslose.de

[2] https://www.diakonie-hamburg.de/de/presse/pressemitteilungen/COLD-DINNER-Hamburger-Aktionsbuendnis-gegen-Wohnungsnot-protestiert-gegen-fehlende-Wohnungen-und-Unterkuenfte-fuer-Obdachlose

[3] https://www.welt.de/regionales/hamburg/article162493567/Von-Wohnungsnot-kann-in-Hamburg-nicht-die-Rede-sein.html

[4] https://www.diakonie-hamburg.de/de/wohnungsnot/FAQ-haeufige-Fragen#f1

[5] https://www.diakonie-hamburg.de/de/wohnungsnot/Wohnungslosigkeit-die-Politik-muss-handeln

[6] Siehe dazu:
INTERVIEW/137: Mahlzeit kalt - Wohnflächenschwund ...    Bettina Reuter im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0137.html
INTERVIEW/138: Mahlzeit kalt - unter Obdachlosen allein ...    Udo im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0138.html

[7] http://www.der-hafen-hilft.de


13. November 2017


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