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BERICHT/123: Klimarevolution - die Antwort gefällt der Frage nicht ... (SB)


Ist eine gewisse Schwelle des Energieverbrauchs durch den schnellen Reisenden einmal überschritten, dann entsteht eine weltweite Klassenstruktur von Geschwindigkeitskapitalisten. Der Tauschwert der Zeit gewinnt die Oberhand, und dies spiegelt sich in der Sprache wieder: Zeit wird aufgewandt, gespart, investiert, vergeudet oder genutzt. Die Gesellschaft hängt jedem sein Preisschildchen an, das den Wert seiner Stunde angibt, und je schneller es geht, um so größer werden die Preisdifferenzen. Zwischen Chancengleichheit und Geschwindigkeit besteht eine umgekehrte Korrelation.
Ivan Illich - Energie und Gerechtigkeit [1]


Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Bundesinnenminister Horst Seehofer will das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) auf "radikalisierte" Kinder unter 14 Jahren ansetzen, indem diese überwacht und die dabei erbrachten Informationen gespeichert werden, was bisher untersagt ist. Deutlicher hätte die Relevanz der jungen KlimaaktivistInnen staatlicherseits nicht unterstrichen werden können. Der CSU-Politiker weiß genau, daß diese Jugendlichen sich nicht damit begnügen werden, die kapitalistische Marktgesellschaft grün anzustreichen, sondern die Wende im Energie-, Agrar-, Industrie- und Verkehrssektor wortwörtlich im Sinne der notwendigen Wachstumsumkehr verstehen. Da dies mit einer auf Kapitalakkumulation um ihrer selbst willen konditionierten Industriegesellschaft nicht zu vereinbaren ist, wird diese "Radikalisierung" unter staatliche Aufsicht gestellt und spätestens dann mit Staatschutzmitteln kriminalisiert, wenn Massenaktionen des zivilen Ungehorsams die Handlungsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland einschränken könnten.

Davon kündet auch ein aktuelles, als Tagung unter dem Motto "Extremismus: Eine steigende Gefahr für Sicherheit und Reputation von Unternehmen" ausgerichtetes Treffen des BfV und der Allianz für Sicherheit in der Wirtschaft (ASW) im Berliner Regierungsviertel. Dort referierte etwa der Sicherheitschef von RWE über "Unternehmen als Ziel linksextremistischer Agitation", vor VerfassungsschützerInnen, mit denen man laut einem ASW-Vertreter auf "enge und partnerschaftliche" Weise zusammenarbeite [2]. Wo sich Menschen wie das Bündnis linker Gruppen, die gegen die Beratung der Wirtschaft durch den Inlandsgeheimdienst protestieren, für entschiedenere Maßnahmen zum Klimaschutz einsetzen und Koch und Kellner beim Namen nennen, wird staatlicherseits der Extremismushammer ausgepackt und das ganze Ansinnen in die Nähe staatsfeindlicher Aktivitäten gerückt. Wälder abholzen, Atemluft verpesten, Tiere ausbeuten, Pflanzen, Wasser und Ackerböden vergiften - wer sich dagegen wehrt, muß wahrscheinlich froh sein, bislang nur unter das Extremismusetikett zu fallen und noch nicht präventiv mit dem Terrorismusverdacht kriminalisiert zu werden.


Fronttransparent 'Verkehrswende statt Weltende' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Fridays For Future am weltweiten Aktionstag für Klimaschutz am 15. März in Hamburg
Foto: © 2019 by Schattenblick

Die Klimagerechtigkeitsbewegung wird ihre wohlbegründeten Forderungen nicht zurücknehmen. Angesichts der ausgewiesenen Zeithorizonte, innerhalb derer die Erwärmung des Planeten noch in halbwegs verträglichen Grenzen bleiben könnte, ist nichts vernünftiger und rationaler als Lösungen zu propagieren, die das Umsteuern beim Ressourcenverbrauch und der Freisetzung von Treibhausgasen nicht etwa Marktmechanismen wie CO2-Steuern und dem Handel mit Verschmutzungsrechten überläßt, sondern mit denen das menschenmögliche in Produktion und Reproduktion getan wird, den Verbrauch von Naturressourcen so weit wie möglich zurückzufahren. Schon daraus ergibt sich, daß eine Klimarevolution nicht möglich ist ohne eine soziale Revolution, die in Anbetracht der massiven Ungleichheit zwischen Verhungern und Verschwendung ohnehin auf der globalen Agenda steht. Die Aufhebung klassengesellschaftlicher Widersprüche durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Kollektivierung von Verbrauchs- und Reproduktionspraktiken aller Art sind Mindestvoraussetzungen einer Lebensführung, wenn nicht schwerwiegende Unterdrückungs- und Ausgrenzungsfolgen oder hochriskante technische Interventionen in natürliche Prozesse in Kauf genommen werden sollen.

Geoengineering und Emissionshandel, humangenetische Resilienzforschung und agroindustrielle Eingriffe in das Genom von Pflanzen und Tieren, die individuelle Kontrolle und Bepreisung des CO2-Fußabdruckes und andere marktwirtschaftliche Lösungen, die die soziale Ungleichheit in genozidale Dimensionen treiben könnten - all das sind Entwicklungen, die auf dem Weg in den grünen Kapitalismus darauf warten, zu gesellschaftlich hegemonialen Verfügungsformen ausgebaut zu werden. Um so mehr gilt, die Forderung "System Change, Not Climate Change" mit emanzipatorischem Inhalt zu füllen. Dafür tritt die Klimagerechtigkeitsbewegung an und das wollen in der Konsequenz auch die Jugendlichen der Fridays For Future-Bewegung. Sie als potentielle Staatsfeinde zu exponieren ist kein Skandal, sondern liegt in der Logik eines Kapitalismus, dessen untote Existenz womöglich länger anhalten könnte als die der meisten Menschen, die ihn akzeptieren, weil sie sich eine andere Vergesellschaftungsform schlicht nicht vorstellen können.


AktivistInnen halten ein Transparent im Wind 'Keine Kohle für die Kohle' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Woher er auch immer kommt ... dem Gegenwind widerstehen
Foto: © 2019 by Schattenblick

Das Privileg, abzuwarten und darauf zu hoffen, daß es so schlimm nicht wird, können gutversorgten Menschen in den westlichen Metropolengesellschaften in Anspruch nehmen, weil der Klimawandel für sie bislang nur geringe Folgen hat. Doch auch hierzulande gilt, daß die Widerlegung der kölschen Formel "Et hätt noch emmer joot jejange" logischerweise unumkehrbare Resultate zeitigt, angesichts derer auch den größten Witzbolden das Lachen im Halse steckenbleibt. Argumentiert gegen grundlegende Veränderungen in Produktion und Konsum wird auf dem Verbrauchsniveau einer imperialen Lebensweise, die die Ausbeutung von Arbeit und Naturressourcen zu ihrem Erhalt in anderen Teilen der Welt wie selbstverständlich voraussetzt.

Dementsprechend wird nicht nur von rechts mit der Vokabel "Verzicht" hantiert, als gehe es darum, den Menschen etwas wegzunehmen, was sie zum einen im Sinne einer Lebensqualität, die nicht durch industrielle Kontamination, psychophysische Verelendung und Verödung der Natur beeinträchtigt ist, niemals hatten und was sie zum anderen verstoffwechseln, ohne das Existenzrecht weniger privilegierter Menschen oder anderer Lebewesen überhaupt anzuerkennen. Weniger zu verbrauchen und dabei besser zu leben ist kein Widerspruch, sondern die diesem Einwand zugrundeliegende Gleichungsfunktion wird dialektisch in der Veränderung eines Mensch-Natur-Stoffwechsels aufgehoben, der den Menschen in der dichotomen Abspaltung des einen vom andern etwa in Form sogenannter Zivilisationskrankheiten, aus Verteilungsproblemen und Klassenwidersprüchen resultierender gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse und nicht zuletzt der Zerstörung der globalen Lebensvoraussetzungen auf die Füße fällt. Die notwendige Kritik an der imperialen Lebensweise bleibt mithin nicht auf die Konsequenz des Klimawandels beschränkt, sondern stellt die ohnehin in ihrer produktiven Weiterentwicklung überfällige soziale Frage in den Mittelpunkt.


Schild auf Rücken einer Radfahrerin 'Let's Save The Earth Together' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Mit dem Fahrrad zur Klimarevolution
Foto: © 2019 by Schattenblick


E-Mobilität, autonomes Fahren ... das Problem heißt motorisierter Individualverkehr

Wer eine Expertengruppe für mehr Klimaschutz im Verkehr einberuft und darin vor allem über Industriepolitik mit dem Ergebnis verhandelt, daß selbst minimale Zugeständnisse an das Erreichen der Klimaziele der Bundesregierung hart erkämpft werden müssen, der darf sich über die Radikalisierung des dagegen gerichteten Widerstandes nicht wundern. Die angebliche Unantastbarkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland und das partikulare Interesse von AutofahrerInnen dominieren eine Gesellschaft, in der der Wunsch zahlreicher Menschen nach einer Umgebung ohne Blechlawinen, die den öffentlichen Raum zu einem lebensfeindlichen Ort machen, ohne Schnellstraßen, die nur unter Lebensgefahr zu überqueren sind, ohne Lärmstress und eine von den energetischen Voraussetzungen der Motorisierung verbrannte und vergiftete Atemluft regelrecht überrollt wird.

Bei 130 Stundenkilometern bequem im Auto zu sitzen, während sein Verbrennungsmotor in Jahrtausenden angesammelte fossile Hinterlassenschaften in kinetische Energie verwandelt, ohne von der permanenten Gefährdung, die von dieser Beschleunigung ausgeht, beunruhigt zu sein, setzt die Ausblendung von fast allem voraus, was den Menschen als hochaktives, seine Umgebung gestaltendes Lebewesen auszeichnet. Autofahren ist an apparative und infrastrukturelle Voraussetzungen gebunden, die eine umfassende Einschränkung des persönlichen Erkenntnisvermögens voraussetzen, um das hochgradig ideologisierte Versprechen auf automobile Bewegungsfreiheit einzulösen. Die industrielle Herstellung des Fahrzeugs in hochkomplexen Anlagen mit weltweit ausgreifenden Vorstufen der Produktion, die langfristigen Planungen unterliegende Bahnung seines Weges durch den Bau asphaltierter Straßen, die Einhaltung des dazugehörigen Regelwerkes, die strukturelle Entuferung des Fahrzeuges in eine informationstechnische Umgebung von unabsehbarer Komplexität und Reichweite, die Verfügbarkeit mit großem Aufwand bis hin zu Ressourcenkriegen herbeigeschaffter Brennstoffe, die eher an ein biologisches Funktionsmodul als eine autonom handelnde Person gemahnende Situation des Autofahrers, der bei der technisch vermittelten Raumüberwindung von zahlreichen Faktoren infrastruktureller, mechanischer und apparativer Art fremdbestimmt wird - all das ist von einer Unterwerfung unter Handlungszwänge und Verbrauchsprozesse geprägt, die nicht viel übriglassen von der propagierten Freiheit des motorisierten Individualverkehrs.


Schild mit Text 'Ihr nennt es Fahrverbot. Wir nennen es Befreiung! Von Lärm, Schmutz, Verletzungen, Krankheit, Stau und Platzverschwendung' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Kampfansage an die Freiheitsrhetorik rücksichtsloser Egoisten
Foto: © 2019 by Schattenblick

Dieser steht einer sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Zukunft aus so vielen Gründen im Weg, daß er nur als historische Fehlentwicklung gigantischen Ausmaßes bezeichnet werden kann. Der stoffliche Aufwand zur Bereitstellung dieser Mobilitätsform ist so groß, daß sie sich niemals auf individuell gleichberechtigte Weise weltweit verallgemeinern ließe. Eine Million menschlicher und ein Vielfaches dessen an tierlichen Todesopfern sind im globalen Straßenverkehr pro Jahr zu beklagen, ohne daß dies auch nur als Problem thematisiert wird. Gleiches gilt für die Agrospritproduktion, bei der keineswegs nur nicht zum menschlichen Verzehr geeignete Biomasse verwendet wird, sondern ernährungstechnisch wichtige Ackerpflanzen wie Mais oder Raps vom Teller in den Tank umgeleitet werden. In der auf die energetische Basis des Antriebes konzentrierten Debatte um E-Mobilität werden wichtige Faktoren ausgeblendet [3]. Weder die Frage der mineralischen Ressourcen für den Batteriebau, um die längst blutige Konflikte in den Abbaugebieten im Globalen Süden entbrannt sind, noch die Versiegelung der Landschaft, die in der Bundesrepublik mit einer Größe von rund 100 Fußballplätzen täglich vonstattengeht, allerdings nicht nur den Bau von Straßen und Parkplätzen betrifft, oder die Fortsetzung einer Verkehrsform, bei der erhebliche Gewichte pro Person beschleunigt werden müssen, die sich mit anderen Mobilitätslösungen stark reduzieren ließen, werden auf ökologisch suffiziente Weise diskutiert.

Das trifft auch auf das Leben in urbanen Zentren zu. Sie sind bis heute nach dem Modell der "verkehrsgerechten Stadt" konzipiert, das nach dem Zweiten Weltkrieg als Inbegriff des industriellen und gesellschaftlichen Fortschrittes galt. Wer nicht an der Privatisierung des öffentlichen Raums durch auf vier Rädern fahrende Wohnzimmer teilhat, bleibt auf der Strecke einer asphaltenen und blechernen Unwirtlichkeit, die den Stadtraum weit mehr bestimmt als alles Interesse an einem Leben, das nicht durch den Zeitstress der automobilen Beschleunigung und die Fragmentierung des öffentlichen Raumes durch höchst unterschiedliche Fortbewegungsgeschwindigkeiten zerrissen wird. Der Verkehrsstau widerlegt die unterstellte Effizienz des motorisierten Individualverkehrs seit langem und überholt den teuren Bau neuer Autobahnen permanent. Die zyklische, viel Geld verschlingende und das Stauproblem verschärfende Reparatur der Fahrbahnen ist vor allem dem LKW-Verkehr geschuldet, der die Asphaltdecke der Straßen weit stärker schädigt als PKWs und teilweise zu fahrenden Warenlagern für die Just In Time-Anlieferung an Fabriken ausgebaut wurde, die dafür eigene Lagerkapazitäten wegrationalisiert haben. Anstatt in den viel sinnvolleren Ausbau des Güterverkehrs auf der Schiene zu investieren, werden Produktion und Distribution im Interesse der Autoindustrie öffentlich subventioniert.


Plakat 'Ist SUV heilbar?' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Wo bleibt der Impfstoff gegen die Epidemie fahrender Festungen?
Foto: © 2019 by Schattenblick

Spätestens in dieser von sinnlos verheizter Antriebsenergie und Nervenkraft bestimmten Situation könnte dem einen und der anderen auffallen, wie haltlos das Versprechen des motorisierten Individualverkehrs auf Zugewinn an Lebenszeit tatsächlich ist. Selbst wenn eine perfekt organisierte Verkehrsführung jeden Stau verhinderte, was mit der Zukunft des autonomen Fahrens suggeriert wird, so bleibt dieser Zugewinn in der gesamtgesellschaftlichen Rechnung ebenso fiktiv wie in der Individualbilanzs Lohnabhängigen. Unter Verweis auf Ivan Illich stellt der Informatiker und Autor Rainer Fischbach die Kalkulation an, daß die lebensökonomische Anrechnung des Zeitaufwandes zum Kauf und zum Unterhalt eines Automobils auf dessen Leistungsvermögen in einer effektiven Geschwindigkeit von 15 Stundenkilometern resultiere. Darüber hinaus spricht vieles andere gegen den Betrieb eines Autos, das zu produzieren und unterhalten so viel Lebenszeit aufzehrt, daß der unterstellte Gewinn ins Negative tendiert, und zwar in der sozialökologischen wie individuellen Bilanz:

Nicht nur, dass seine Nutzung die, eine unwirtschaftliche Vielzahl von Beschleunigungs- und Bremsvorgängen involvierende, Bewegung einer großen Masse von mit großem Aufwand gewonnenen und verarbeiteten Materialien gegen große Widerstandskräfte impliziert, sondern darüber hinaus, dass sie höchst selten und dann meist nur für eine Person erfolgt, macht das Verschwenderische des Automobils aus. Es steht meist nur herum und braucht dafür gleich mehrfach - vor der Wohnung, vor dem Arbeitsplatz, vor der Einkaufsgelegenheit und vor den Vergnügungsstätten - Parkplatz, um, meist nach einer äußerst bescheidenen Lebenslaufleistung, auf dem Schrott zu landen, von dem es, mangels Wiederverwendbarkeit der Teile bzw. Komponenten, oft nur den Weg in die, wiederum Energie fressende, Schmelze findet. [4]

Vorangetrieben wird die automobile Entwicklung von einer monopolkapitalistischen Globalkonkurrenz, bei der die deutschen Autokonzerne allen Grund zu der Befürchtung haben, nicht nur von der hohen Produktivitätssteigerung chinesischer Unternehmen auf dem Weltmarkt abgehängt, sondern von den großen IT-Konzernen auf die nachrangige Bedeutung bloßer Hardware-Lieferanten reduziert zu werden. Die Zukunft des motorisierten Individualverkehrs soll in den informationstechnischen Anwendungen liegen, mit denen das Auto gesteuert, der Verkehr organisiert und die Passagiere umsorgt werden. Die dabei entworfene Vorstellung von Fahrzeugen, in denen die Menschen sich ihrer Arbeit und ihrem Vergnügen widmen, während sie wie von selbst von einem Ort zum anderen gefahren werden, schafft nicht anders als der konventionelle Straßenverkehr eine Klasse von AutonutzerInnen, für deren Mobilitätsbedürfnisse erheblicher, weit über dem Niveau anderer Verkehrsmittel von Fahrrad bis Bahn liegender energetischer und stofflicher Aufwand betrieben wird.


Fahrraddemo auf der Kreuzung am Lübecker Tor hinter roter Fahrradampel - Foto: © 2019 by Schattenblick

Die Straßenverkehrsordnung schützt den Automobilismus
Foto: © 2019 by Schattenblick

Hier findet auch der Hype um die nächste Generation der digitalen Datenübertragung ihre wichtigste Grundlage. Nicht umsonst haben vor allem die Städte und die großen Verkehrswege Vorrang beim Ausbau des 5G-Netzes, ist autonomes Fahren doch auf eine informationstechnische Infrastruktur angewiesen, die große Datenmengen praktisch in Echtzeit überträgt. Nicht das fragwürdige Bedürfnis, auch an entlegenen Orten Filme in hochauflösender Form streamen zu können, ist das Motiv für diese Innovationsoffensive. Es geht um das Interesse des Wirtschaftsstandortes Deutschland, Industrie 4.0 zum Standard der Produktion zu machen, mit dem Internet der Dinge eine Inflation stromfressender Gadgets und Alltagsprodukte anzustoßen, die Rundumüberwachung der Bevölkerung zu gewährleisten und das Wachstum der Automobilität über die Phase der fossilen Expansion hinaus zu sichern.

Angaben wie die Zahl von 800.000 Sendemasten, derer es bedürfte, um die Bundesrepublik annähernd flächendeckend mit 5G zu versorgen, der Summe von 300 bis 500 Milliarden Euro, die ein entsprechender Ausbau in der gesamten EU verschlingen würde, oder die mögliche Vernetzung von bis zu einer Million Geräte auf einem Quadratkilometer durch 5G lassen erkennen, daß der Industriestandort mit einer weiteren Steigerung des energetischen und stofflichen Aufwandes - um von den Unwägbarkeiten der physischen Auswirkungen einer drastischen Potenzierung bislang übertragener Datenmengen nicht zu sprechen - gerettet werden soll. Eine ökologisch sinnvolle Rationalisierung des Straßenverkehrs durch Smart Mobility wird zwar versprochen, dies gilt aber nur im Rahmen des weiteren Wachstums des motorisierten Individualverkehrs und seiner informationstechnischen Durchdringung, bei der Datenmengen von täglich rund 4000 Gigabyte pro autonomem Fahrzeug erzeugt und Hunderte von stromverbrauchenden Funktionen etabliert werden, was jede notwendige Energieeinsparung in ihr Gegenteil verkehrt.


Fahrraddemo auf der Kreuzung am Lübecker Tor - Foto: © 2019 by Schattenblick

Fahrradblockade am Verkehrsknotenpunkt
Foto: © 2019 by Schattenblick


Mobilitätswende ist Hand- und Beinarbeit

Um so wichtiger für eine Gesellschaft, deren CO2-Emissionen zu 20 Prozent durch den Straßenverkehr produziert werden und in diesem Sektor kontinuierlich anwachsen, während das Leben der Menschen durch Feinstäube und Stickoxide ohne Not verkürzt wird, ist aktiver Widerstand gegen den Automobilismus. So rief anläßlich des globalen Klimaschutz-Aktionstages am 15. März in Hamburg ein Bündnis aus den Klimaschutzinitiativen Ende Gelände, Gegenstrom Hamburg und Hambi Soli Hamburg zu einer Fahrraddemo auf. Sie begann im Ortsteil Wandsbek und stieß nach zweieinhalb Stunden auf dem Gänsemarkt zu den anderen Demonstrationszügen hinzu, um mit einem großen Marsch durch die Innenstadt ein Zeichen für die Klimarevolution zu setzen.

Insbesondere zu Beginn waren die AktivistInnen, die, um niemanden zu überfordern, nur mit geringer Geschwindigkeit radelten, mit einer Verkehrsdichte konfrontiert, die die Notwendigkeit ihres Engagements deutlich unterstrich. Sich von den Autos auf den vielbefahrenen Straßen nicht auf den Radweg verdrängen zu lassen, sondern ihnen die Geschwindigkeit eines mit Körperkraft angetriebenen Zweirades aufzuzwingen, demonstriert ganz praktisch, wie einseitig die Verteilung der Gewalten im Straßenverkehr normalerweise funktioniert. Der Gegensatz zwischen einem womöglich tonnenschweren Automobil und einem Fahrrad, das einer Kollision mit einem auch nur 30 Stundenkilometer schnellen PKW nichts entgegenzusetzen hat, wird so auf ganz physische Weise erlebbar.


Fahrraddemo auf der Kreuzung am Lübecker Tor mit Transparent - Fotos: © 2019 by Schattenblick Fahrraddemo auf der Kreuzung am Lübecker Tor mit Transparent - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Wo nichts mehr geht, entsteht viel Platz für neue Gedanken
Fotos: © 2019 by Schattenblick

Der Höhepunkt der Aktion bestand zweifellos in einer Zwischenkundgebung auf einer der wohl am meisten befahrenen Kreuzungen der Hansestadt. Die lediglich eine Viertelstunde anhaltende Blockierung dieses Verkehrsknotenpunktes am Lübecker Tor provozierte einige wütende Reaktionen von AutofahrerInnen, deren Fahrzeuge sich auf mehreren Verkehrsachsen immer weiter aufstauten. Derweil verteilten die AktivistInnen Flugblätter, ließen sich nieder, um etwas zu essen, oder taten ihr Anliegen mit Transparenten kund. Die die Demonstration begleitende Polizei hielt sich zurück, es wäre aber auch schwierig gewesen, die Kreuzung innerhalb kurzer Zeit zu räumen.


Lockerungsübungen auf dem Hachmannplatz - Fotos: © 2019 by Schattenblick Lockerungsübungen auf dem Hachmannplatz - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Workout für Fahrradbewegte
Fotos: © 2019 by Schattenblick

Bei einem weiteren Zwischenstopp in der Nähe des Hauptbahnhofes wurden gemeinsam Lockerungsübungen zu rhythmischer Musik veranstaltet, während den AutofahrerInnen nichts blieb, als ihren Mißmut durch Hupen und Schimpfen kundzutun oder einfach zu warten, bis die Fahrraddemo weiterzog. Zwar waren derartige Mißfallensbekundungen eher die Ausnahme, doch die Aggressionen, die aus willkürlichen Störungen des Verkehrsflusses resultieren können, haben manche AktivistInnen sicherlich schon bei anderen Gelegenheiten kennengelernt. Die funktionale Aufteilung des Raums verträgt keine Freizügigkeit, sondern stellt eine hochgradig regulierte Ordnung dar, die bislang maßgeblich von den Ansprüchen des motorisierten Individualverkehrs bestimmt ist. Dementsprechend gehört die Unterbrechung der Verkehrslogistik, wie etwa Autobahnblockaden in Frankreich gezeigt haben, zu einer der wirksamsten Aktionsformen sozialer Bewegungen.


Verschiedene Fahrradmodelle und ein Skateboard - Fotos: © 2019 by Schattenblick Verschiedene Fahrradmodelle und ein Skateboard - Fotos: © 2019 by Schattenblick Verschiedene Fahrradmodelle und ein Skateboard - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Variationen eines altbewährten Mobilitätskonzeptes
Fotos: © 2019 by Schattenblick

Wiewohl einige exotische Gefährte dabei waren, wirkte die Demonstration weniger wie ein Labor für alternative Fortbewegungsarten denn als kollektiver Protest gegen die in vielerlei Hinsicht zerstörerische Wirkung, die der motorisierte Individualverkehr auf die natürliche Umwelt ausübt oder mit der Spaltung der Stadtgesellschaft in individuelle FahrzeughalterInnen und FußgängerInnen, RadfahrerInnen und ÖPNV-NutzerInnen vollzieht. Zweiräder und ihre verschiedenen Varianten bis hin zu mit Körperkraft betriebenen Transportmitteln, mit denen sich auch größere Lasten fortbewegen lassen, spielen zweifellos eine wichtige Rolle in der Zukunft der Mobilität. Das gilt nicht nur für die Fortbewegung von einem Ort zum andern. RadfahrerInnen geht der Kontakt zur Umgebung noch auf die Haut, sie sind Wind und Wetter ausgesetzt und können es sich erlauben, den Blick schweifen zu lassen, anstatt wie gebannt auf das vor ihnen abrollende Band der Straße zu schauen. Landschaften zu erkunden, ihre Entfernungen und Dimensionen auf körperliche Weise kennenzulernen und nicht zuletzt Kontakt zu anderen Menschen herzustellen, denen viel leichter zu begegnen ist, wenn man nicht in voneinander separierten Wohnzellen aneinander vorbeirauscht, sind Lebenspraktiken, die in der automobilen Gesellschaft weitgehend verlorengingen.

Nicht vergessen werden sollte auch die fast voraussetzungslos mögliche Fortbewegungsart zu Fuß, die dem Menschen quasi in die Wiege gelegt wurde. Sich aufzurichten kann bei vorzugsweise sitzender Lebens- und Arbeitsweise schon für sich genommen als befreiend vom Druck übereinander gestapelter Körperteile, ihres Aufpralls auf die Sitzfläche und der Eingrenzung vom Sitzmöbel und Fußboden eng umschlossener Bewegungsabläufe erlebt werden. Einen Fuß nach dem anderen aufzusetzen und dem Fall des gehenden Körpers nicht durch horizontales Rudern mit den Armen und Schwingen mit den Hüften auszuweichen, sondern die Gewichte in vertikaler Ausrichtung effizienter und verschleißärmer zu organisieren eröffnet dem gehenden Menschen ein ganzes Arsenal an Möglichkeiten, sich mit der eigenen Physis anzufreunden.


Fahrraddemo in der Mönckebergstraße - Foto: © 2019 by Schattenblick

Hamburgs Einkaufsmeile abgasfrei erschließen
Foto: © 2019 by Schattenblick

Der Erforschung des motorischen Potentials schlichten Gehens steht die ganze Fülle der evolutionären Entwicklung zum Zweibeiner zur Verfügung, und nimmt der wandernde Mensch Kontakt mit seiner Umgebung auf, dann merkt er vielleicht, wie umfassend seine Physis durch die kognitive Bindung an den durch seine materielle Gegenständlichkeit definierten Raum bestimmt wird. Die Umgebung sinnlich zu erfassen ist weit mehr als ein Akt auf optischen Bahnen verlaufender Wahrnehmung, der Identifikation vertrauter Wegmarken und der Neugier auf bislang unbekannte Landschaften. Die sie durchdringenden Geräusche und die vielfältigen Gerüche bis hin zur jeweiligen Beschaffenheit des Bodens besitzen allemal Erkenntniswert, wenn das Interesse an elementaren Lebensprozessen noch intakt und die Reduktion auf den bloßen Signalcharakter der Welt digitalisierter Zeichen noch nicht ins Stadium imaginierter Entkörperlichung getreten ist.

Um so mehr betrifft eine fundamentale Mobilitätswende die Strukturierung der gebauten und natürlichen Umwelt. Es ist kein Naturgesetz oder prinzipieller Zwang, in einer kapitalistischen Arbeitsgesellschaft zu leben, die stundenlange, vorzugsweise mit dem Auto zu überwindende Wege zwischen Wohnung und Arbeitsplatz voraussetzt. Die sozialräumliche Umgebung anders zu gestalten beschäftigt die StädteplanerInnen schon heute. Wenn sie ihre Aufgabe zukunftssicher verrichten, dann werden künftige Generationen in einer Welt ohne Autos und ihre asphaltierte Infrastruktur in wohldurchdachten urbanen Zentren oder regionalen Agglomerationen von Dorfgemeinschaften leben, in denen Industrie und Landwirtschaft, Mobilität und Energieerzeugung so sinnvoll miteinander verschränkt sind, daß ein Minimum an unnötigem Verbrauch bei einem Maximum an produktiver Effizienz und ökologischer Suffizienz möglich gemacht wird.


Fahrraddemo versammelt am Jungfernstieg - Foto: © 2019 by Schattenblick

Abschlußkundgebung an der Binnenalster
Foto: © 2019 by Schattenblick

Je weitere der Klimawandel und die dadurch verschärften sozialen Verwerfungen voranschreiten, desto begründeter ist der Ruf nach radikalen Veränderungen auch im Bereich der Mobilität. Wenn das Dach schon in Flammen und das Wasser bis zu den Knien steht, kann sich eine Gesellschaft die Behauptung kaum leisten, daß die automobile Verkehrsinfrastruktur nicht auf kurzem Wege durch alternative Fortbewegungsformen mit bestenfalls kleinen Stückzahlen an motorisierten Versorgungs-, Transport- und Rettungsvehikeln zu ersetzen sei. Den Anspruch einer Klimarevolution zu erfüllen bedarf unbescheidener Forderungen und mutiger Utopien. Ohne das könnten den Menschen Katastrophen ins von Stürmen und Fluten erschütterte Haus stehen, von deren grundstürzender Wirkung niemand geschützt ist, der sich die Hände vor Augen, Ohren und Mund hält.


Fahrrad mit CO2-Stoppschild auf gelbem Tuch - Foto: © 2019 by Schattenblick

Worum es geht ...
Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Ivan Illich: Fortschrittsmythen. Reinbek bei Hamburg, 1978, S. 89

[2] https://www.jungewelt.de/artikel/351842.sicherheitskooperation-dem-kapital-zu-diensten.html

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/meinung/umme-291.html

[4] Rainer Fischbach: Mensch-Natur-Stoffwechsel. Köln 2016, S. 120


Berichte und Interview zur Hamburger Demonstration Klimarevolution im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUERGER → REPORT

BERICHT/120: Klimarevolution - es geht um mehr ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0120.html

BERICHT/121: Klimarevolution - auch politisch und sozial ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0121.html

BERICHT/122: Klimarevolution - frühe Sorgen ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0122.html


28. März 2019


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