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INTERVIEW/019: Megacities - Freiheit, Gleichheit, Forschung (SB)


Interview mit Prof. Dr. Hans-Georg Bohle



Prof. Dr. Hans-Georg Bohle ist seit 2004 Ordinarius für Kulturgeografie und geografische Entwicklungsforschung am Geografischen Institut der Universität Bonn. Davor war er Lehrstuhlinhaber für die Geografie Südasiens an der Universität Heidelberg (1995-2004) und Professor für Humangeografie an der Universität Freiburg (1986-1995). Er hat sich vor allem durch Beiträge zur Verwundbarkeitsforschung international ausgezeichnet. Seine grundlegenden Arbeiten zum Konzept der sozialen Verwundbarkeit im Zusammenhang mit Armut, Hunger, Wasserkrisen und Gesundheitsbelastungen in Entwicklungsländern sind fester Bestandteil der sozialwissenschaftlichen Katastrophen- und Risikoforschung geworden. Fragen von Vulnerabilität, Anpassung, Resilienz und menschlicher Sicherheit im Kontext des globalen Umweltwandels kennzeichnen seine aktuellen Forschungen. Regionaler Schwerpunkt sind die Länder Südasiens (Indien, Pakistan, Nepal, Sri Lanka, Bangladesh). [1]

Beim Abschlußkolloquium des DFG-Schwerpunktprogramms "Megacities - Megachallenge. Informal Dynamics of Global Change", das vom 14. bis 16. April im Wissenschaftszentrum Bonn stattfand, war Prof. Bohle Diskutant der Session 2 zum Thema "Resilience and Coping in Urban Contexts". Wenige Tage nach dem Kongreß beantwortete er dem Schattenblick in schriftlicher Form einige Fragen.


Schattenblick: Sie haben in Ihrem Diskussionsbeitrag in der Session 2 - "Resilience and Coping in Urban Contexts" eine präzise Fassung des Begriffs "Resilience" angemahnt, da dieses Konzept andernfalls bedeutungslos werde. Wie müßte man diesen Begriff Ihres Erachtens definieren, um ihn griffig zu machen und auf reale Lebenswirklichkeiten anwenden zu können?

Prof. Dr. Hans-Georg Bohle: Wie in meinem Vortrag bei der DFG-Abschlusskonferenz "Megacities-Megachallenge" am 15.4.2013 ausgeführt, halte ich die offizielle Definition des "Stockholm Resilience Centre", der weltweit führenden Denkfabrik zu dem Thema, für problematisch. Wenn Resilience definiert wird als "the capacity to deal with change and continue to develop", so handelt es sich meines Erachtens hier eher um eine Worthülse als um eine präzise Fassung des Begriffes. Allerdings erscheint mir eine sehr kurze und prägnante Definition wegen der Vielschichtigkeit des Konzeptes bislang nicht möglich. Ich möchte mich daher auf einen wissenschaftlichen Aufsatz meiner Mitarbeiter Markus Keck und Patrick Sakdapolrak in der Zeitschrift "Erdkunde" beziehen (Nr. 1, 2013), die soziale Resilience in drei Dimensionen fassen:

1. Die Fähigkeit sozialer Akteure zur Bewältigung von Krisen. 2. Das Vermögen, aus vergangenen Erfahrungen zu lernen und sich an zukünftige Entwicklungen anzupassen, und 3. die Befähigung zur sozialen und ökologischen Transformation, welche das individuelle Wohlergehen fördert und einer nachhaltigen gesellschaftlichen Stärkung im Umgang mit zukünftigen Krisen dienlich ist.

In dieser Betrachtungsweise erscheint die Suche nach Resilience nicht bloß als technische, sondern primär als politische Aufgabe. Daher halte ich Resilience für ein Konzept, das dazu auffordert, die Handlungsfreiheiten und Entscheidungsmöglichkeiten von gesellschaftlichen Akteuren im Sinne von "agency" zu stärken. Das habe ich zusammen mit meinen Mitarbeitern Benjamin Etzold und Markus Keck vor einigen Jahren unter dem Titel "Resilience as Agency" auf den Punkt zu bringen versucht (IHDP-Update, Heft 2, 2009).

SB: Sie hatten zudem die Frage aufgeworfen, wie man "social resilience" so wenden könne, daß dieser Ansatz die Menschen stärkt. Würden Sie die Auffassung teilen, daß dieses Konzept ohne eine solche Klärung allzu leicht auf eine bloße Anpassung an als unveränderbar empfundene Zwänge und Mangelsituationen hinausliefe?

HGB: Die große Attraktion des Konzeptes von Resilience liegt meines Erachtens darin, dass von Anfang an über "resilience-building" nachgedacht wurde. Es geht also darum, besonders benachteiligte Menschen und gesellschaftliche Gruppen zu stärken und ihnen die Chance zu eröffnen, ihre Lebenssicherung auch in Zeiten von Krisen und gesellschaftlichen Transformationen zu stärken. Eine bloße Anpassung an Zwänge und Mangelsituationen, die als unveränderbar empfunden werden, kann und darf das Konzept der sozialen Resilience nicht beinhalten.

SB: Viele in diesem fachwissenschaftlichen Kontext verwendeten Begriffe und Konzepte scheinen offenzulassen, ob damit emanzipatorische Entwicklungen oder im Gegenteil Arrangements mit den herrschenden Verhältnissen gemeint sind. Ist diese Unschärfe aus Ihrer Sicht womöglich symptomatisch für das allgemeine Wissenschaftsverständnis in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart?

HGB: Damit einher geht meines Erachtens die Forderung, dass im Konzept von Resilience ganz klar auch emanzipatorische Entwicklungen begründet sein sollten. Allerdings werden auch attraktive soziale und politische Konzepte oft dazu gebraucht (missbraucht), herrschende Verhältnisse unkritisch zu stützen. Der Gefahr, dass etwa Resilience als ideologisches Konzept verwendet wird, muss unbedingt entgegengewirkt werden. Das gilt auch für das allgemeine Wissenschaftsverständnis in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart, zum Beispiel in Hinsicht auf die Diskussionen über Nachhaltigkeit. Es ist immer deutlicher geworden, dass das Nachhaltigkeits-Konzept dazu verwendet wird, ungerechte wirtschaftliche Ideologien und politische Agenden zu rechtfertigen. Und das, obwohl Nachhaltigkeit von Anfang an mit dem Ziel entwickelt wurde, Gerechtigkeit innerhalb der Generationen und zwischen den Generationen einzufordern.

SB: Wenngleich Englisch als internationale Wissenschaftssprache der raschen Verständigung dient, werden doch damit einhergehende Veränderungen im Sprachgebrauch und Grenzen der präzisen Übertragbarkeit offenbar häufig ausgeblendet. Sehen Sie die Gefahr, daß im Zuge dieser Anglifizierung der wissenschaftliche Diskurs Gefahr läuft, eigensprachliche Genauigkeit und Vielfalt einzubüßen und sich auf einem zwar konsensfähigen, aber inhaltlich oftmals niedrigerem Niveau des sprachlichen Auslotens und Fassens einzupendeln?

HGB: Die Tendenz, dass Englisch als internationale Wissenschaftssprache sich etabliert, hat meines Erachtens Vor- und Nachteile. Auf der einen Seite gibt es zahlreiche Begriffe aus dem Englischen, die sich nur mit Bedeutungsverlust oder Unschärfe ins Deutsche übersetzen lassen. Ein solcher Begriff ist zum Beispiel der Terminus "governance", der bestenfalls als "Steuerungsfähigkeit" übersetzt werden kann. Gleiches gilt für den Begriff von "security", der mit der deutschen Übersetzung "Sicherheit" die beiden sehr differenzierten Wortbedeutungen von "safety" auf der einen und "security" auf der anderen Seite verschleiert. Was den Begriff von "resilience" angeht, so gibt es meines Erachtens hier praktisch keine einfacheren Übersetzungsmöglichkeiten als lediglich den englischen Begriff mit "Resilienz" einzudeutschen. Umgekehrt ermöglicht aber die Verwendung von englischsprachigen Begriffen auch innerhalb der deutschen Wissenschaftssprache, entweder kursiv oder in Anführungszeichen gesetzt, eine internationale Verständigung innerhalb der Wissenschaftsgemeinde. Allerdings müssen z.B. deutsche Wissenschaftler lernen, die englische Begrifflichkeit in ihrer Vielschichtigkeit und Tiefe zu verstehen.

SB: Da sprachliche Begriffsbildungen und Ausdrucksformen mit inhaltlichen Bestimmungen und letztlich Denkweisen einhergehen, stünde zu befürchten, daß der Gebrauch inhaltsleerer Konzepte mit dem Verlust der Fähigkeit oder Bereitschaft zur dezidierten Stellungnahme korrespondiert. Wäre dies nach Ihrer Erfahrung und Einschätzung eine Tendenz, die im Wissenschaftsbetrieb zu beobachten ist?

HGB: Ich glaube nicht, dass der Gebrauch von inhaltsleeren Konzepten mit dem Verlust der Bereitschaft zur dezidierten Stellungnahme korrespondiert. Im Gegenteil denke ich, dass gerade mit den o.a. Begrifflichkeiten zahlreiche Vertreter von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit dezidierte Stellungnahmen übermitteln. Das Problem: solche Worthülsen werden ja gern genutzt, um unverbindlich, wenn auch anscheinend dezidiert, Stellung zu beziehen. Hier müssen Wissenschaftler, die sich um präzise Begriffsbildungen sorgen, Stellung beziehen und immer wieder mahnend einschreiten.

SB: Eine weitere von Ihnen aufgeworfene Frage bezog sich darauf, bestimmte Forschungsansätze auch gegen den Druck von Regierungen zu stärken. Welche Kriterien müßte Forschung Ihres Erachtens erfüllen, will sie nicht bloße Befriedungsstrategien im Dienst gesellschaftlicher Eliten reproduzieren?

HGB: Die Frage, wie Forschungsansätze auch gegen den Druck von etablierten Interessen gestärkt werden können, berührt ein Fach wie die Geographische Entwicklungsforschung in hohem Maße. Ich sehe hier eine mögliche Antwort im Prozess von "advocacy", wieder einem der kaum zu übersetzenden englischen Begriffe, der vielleicht als "Anwaltschaft" beschrieben werden könnte. In der Geographischen Entwicklungsforschung geht es dabei um den Versuch, die Interessen von marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen auch gegen den Widerstand etablierter Interessensvertreter zu stärken. Hierzu möchte ich ein Beispiel geben. Während einer längeren Feldforschung im Hochgebirge von Nepal habe ich zusammen mit der einheimischen Nichtregierungsorganisation "Action Aid Nepal" versucht, die Verwundbarkeit von Bergbauern in Hinsicht auf Ernährungssicherung, Gesundheitsförderung und Schulbildung zu analysieren und nach Möglichkeiten zu suchen, die Lebensverhältnisse dieser besonders benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen zu stärken. Die Regierung aber hat die Bergbauern systematisch aus ihrer Agenda gestrichen. Action Aid Nepal gelang es, in einem besonders abgelegenen Bergland in einem Pilotprojekt mit relativ geringem Aufwand die o.a. Ziele in Angriff zu nehmen und die Lebensverhältnisse der betroffenen Bergbauern deutlich zu verbessern. Diese Erfolge wurden über Pressekampagnen und öffentliche Vorträge herausgestellt. Es wurde gezeigt, dass es ohne übermäßigen Aufwand möglich ist, solche Prozesse zu fördern, wenn es nur nicht an dem erforderlichen politischen Willen fehlt. Auf diese Weise wurden die politischen Entscheidungsträger unter Druck gesetzt, um zu erreichen, dass die Interessen der benachteiligsten gesellschaftlichen Gruppen von den nationalen Eliten nicht völlig außer Acht gelassen werden.

Bonn, 6. Mai 2013


Fußnote:

[1] http://www.leopoldina.org/de/mitglieder/mitgliederverzeichnis/member/1205/


Bisherige Beiträge zum Kolloquium "Megacities - Megachallenge" im Schattenblick unter INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT

BERICHT/015: Megacities - Rauburbane Sammelpunkte (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0015.html

BERICHT/016: Megacities - Evolution der Umlast (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0016.html

INTERVIEW/015: Megacities - Über den Tellerrand - Prof. Dr. Frauke Kraas im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0015.html

INTERVIEW/016: Megacities - Forschungsselbstzweck Überleben - Dr. Johannes Karte im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0016.html

21. Mai 2013