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INTERVIEW/031: Megacities - Wettlauf ins Ungewisse, Dr. Luigi Tomba im Gespräch (SB)


Vielschichtige Probleme der Landnutzung in China

Interview mit Dr. Luigi Tomba am 16. April 2013 in Bonn



Dr. Luigi Tomba ist in Italien geboren und aufgewachsen, er hat dort auch seine Laufbahn als Wissenschaftler begonnen. Derzeit ist er am 2010 gegründeten Australian Centre on China in the World der Australian National University in Canberra als Beigeordneter Direktor tätig und leitet dort die Forschungsstelle "China Urban". Dr. Tomba befaßt sich seit nunmehr zwanzig Jahren mit der Erforschung von Städten, Stadtpolitik und Urbanisierung in China. Sein aktueller Schwerpunkt in diesem Bereich bewegt sich um Fragen der Urbanisierung von Dörfern in Stadtrandgebieten mit besonderer Berücksichtigung des Landmanagements und dessen Folgen für lokale Governance. Er kann auf umfangreiche Auslandserfahrungen in forschender, lehrender und beratender Funktion zurückblicken, unter anderem war er drei Jahre in Beijing für das italienische Außenministerium und für einen italienischen, außenpolitisch orientierten Thinktank tätig. Neben Italienisch und Englisch spricht er fließend Mandarin. Seit 2005 ist Luigi Tomba Mitherausgeber des China Journal, eines führenden regionalwissenschaftlichen Journals über das heutige China, und beteiligt sich an dem Internetportal The China Story [1].

Vortragsfolie Dr. Luigi Tomba - Foto: 2013 by Schattenblick

Resümee des Vortrags von Dr. Luigi Tomba
Foto: 2013 by Schattenblick

Im Mittelpunkt seines Vortrags "Warum spielt das Lokale eine Rolle?", den Dr. Tomba im Rahmen des zweitägigen Abschlußkolloquiums des DFG-Schwerpunktprogramms "Megacities - Megachallenge. Informal Dynamics of Global Change" am Wissenschaftszentrum in Bonn hielt, stand die Frage des Landmanagements im Schnittfeld zwischen lokalen, staatlichen und wirtschaftlichen Interessen. Für die Bewohner der Urban Villages - im Bereich der expansiven Urbanisierung des Perlflußdeltas erhaltene Dorfstrukturen - stellt der kollektive Landbesitz die Basis ihrer Handlungsmacht [agency - Anm. d. Red.] dar, mit der sie Einfluß auf die Landerschließungspläne der Regierung nehmen können. Dr. Tomba schilderte verschiedene Praktiken, mit denen die Bewohner der Urban Villages ihre Interessen wahren und dadurch die Bedingungen der Landkonversion auf lokaler, regionaler und staatlicher Ebene definieren. So behalten die Dörfer insbesondere in Bereichen des Perlflußdeltas, in denen hohe Wachstumsraten erzielt werden, eine gewisse Autonomie, die bewirkt, daß ihre Industrialisierung nicht notwendigerweise die Kontrolle des Staates über das Land zur Folge hat.

Für Dr. Tomba läßt sich dieser multiskalare Prozeß einer "Industrialisierung ohne Urbanisierung" nicht allein durch das Paradigma von Herrschaft und Widerstand erklären. So basiert die Verhandlungsmacht der lokalen Akteure vor allem auf der in diesen Rahmen eingebetteten Akkumulation, die durch die Ausbreitung verschiedenster lokaler Sonderzonen, die nicht mit den auf nationaler Ebene initiierten Freihandelszonen zu verwechseln sind, angeheizt wird. Hinzu kommen hohe Investitionen in die Immobilienwirtschaft, die weniger von den Erfordernissen der expansiven Urbanisierung als dem Interesse der lokalen Administrationen an Budgeteinkünften angetrieben wird.

Vortragsfolie Dr. Luigi Tomba - Foto: 2013 by Schattenblick

Landnutzung zwischen Agrarwirtschaft und Industrialisierung
Foto: 2013 by Schattenblick

Die Transformation der traditionellen Landwirtschaftsregion in Industriezonen wird dadurch begünstigt, daß die Produktivität des Ackerbaus und der Viehzucht um ein Vielfaches geringer ist als die der Industriebetriebe, die an ihre Stelle treten. Der langfristige Verlust von Landwirtschaftsflächen hat die chinesische Regierung dazu veranlaßt, das Tempo der Landkonversion zu verringern. Dadurch wird das für industrielle Zwecke verfügbare Land noch intensiver genutzt.

Zwar werden die Bewohner der Dörfer, die das kollektiv verwaltete Land nutzen, im Rahmen dieses "lokalen Kapitalismus" auf verschiedenen Wegen zu Anteilseignern an den darauf errichteten Industrien. Sie müssen aber auch infrastrukturelle und andere Unternehmensdienstleistungen erbringen, was ihre Einkünfte wiederum schmälert. Laut Dr. Tomba bedeutet das in der Konsequenz, daß die Dorfkollektive für ihre eigene Industrialisierung bezahlen. Zudem steigert dieser Prozeß die Ungleichheit zwischen den Dörfern, was sich etwa auf das unterschiedliche Ausmaß öffentlicher Leistungen für ihre Bewohner auswirkt, von denen die zahlreichen Arbeitsmigranten allerdings ausgeschlossen sind.

Nach seinem Vortrag hatte der Schattenblick die Gelegenheit, die darin präsentierten Erkenntnisse in einem ausführlichen Gespräch mit Dr. Tomba zu vertiefen.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Luigi Tomba
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Dr. Tomba, Sie erwähnten in Ihrer Präsentation, daß die Dominanz von außen kommender Akteure etwa aus der Wirtschaft über die Lokalebene nicht als Einbahnstraße zu sehen ist. Dies entspricht nicht der üblichen Vorstellung, die man hierzulande von der Entwicklung der chinesischen Marktwirtschaft hat.

Dr. Luigi Tomba: Man kann durchaus Argumente dafür anführen. So gibt es eine Tendenz, globales Kapital als den einzigen oder zumindest den Hauptantrieb beispielsweise für politische Entscheidungen zu sehen. Im Falle Chinas wurde unter anderem vertreten, daß sogar die Zonierungspolitik, die die chinesische Regierung verfolgt hat, im Prinzip darauf abzielte, die Bevölkerung und geographischen Gebiete wegen ihrer Bedeutung für das globale Kapital zu klassifizieren. Zum Beispiel wird eine Einteilung der urbanen Gesellschaft in die kreative Klasse, die Mittelklasse, die Arbeiterklasse und die marginalisierten Migranten gemeinhin als absichtsvolle Strategie der Staatsregierung betrachtet, verschiedene Typen von Staatsbürgern und eine differenzierte Zusammensetzung der Bevölkerung zu erzeugen.

Da ist schon etwas dran. Aber manchmal denke ich, daß man dabei übersieht, daß es auch auf der lokalen Ebene recht viel Handlungsmacht gibt. Und diese Handlungsmöglichkeit generiert sich nicht nur aus den spezifischen Interessen der einzelnen Personen, sondern basiert auf einer sehr klaren ordnungspolitischen Situation, aus der die Menschen ihre Vorteile ziehen. In China gibt es viel mehr Möglichkeiten, individuelle, ortsgebundene Interessen zu verteidigen, als man erwartet. Denn man erwartet ja, daß die Regierung in der Lage ist, alles zu steuern, doch diese Fähigkeit hat sie gar nicht. Die Regierung versucht daher, über den Weg von Verhandlungen auf lokaler Ebene das bestmögliche Ergebnis für den wirtschaftlichen Fortschritt und ihre anderen Ziele zu erreichen.

Aus diesem Grund interessiert mich die lokale Ebene, die ein wesentlich fragmentierteres Bild der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft zeigt, als normalerweise vorausgesetzt wird. Wenn man über China spricht, fallen schnell die Worte "autoritär" und "totalitär". Ich stelle mich politisch keineswegs gegen diese Begriffe,das stimmt alles, und die chinesische Administration ist eine autoritäre und war eine totalitäre Regierung. Aber die tatsächlichen Prozesse vor Ort enthüllen eine viel größere Fragmentierung, ein viel größeres Maß an Verhandlungstätigkeit, als man erwarten würde. Und die Landfrage ist dabei von zentraler Bedeutung.

SB: Haben auch arme Menschen eine Stimme in diesen Verhandlungen oder richtet sich das mehr nach den Eigentumsverhältnissen?

LT: Nicht jeder hat die gleichen Verhandlungsmöglichkeiten, wie ich anhand der unterschiedlichen Dörfer aufgezeigt habe. So gibt es Kommunen, die wohlhabender und besser organisiert sind, die bessere Beziehungen zum Staat haben und daher über größere Verhandlungsmacht verfügen. Wenn man so will, hat jeder die Möglichkeit zu verhandeln. Wenn man jedoch nicht über strukturelle Verbindungen zur Regierung verfügt, muß man den Streit mit ihr aufnehmen. Und das passiert. Wie Sie wissen, gibt es sehr viele Dörfer, die über die Art und Weise, wie über ihr Land verfügt wurde, sehr unglücklich waren und der chinesischen Regierung wie den Lokalregierungen ziemliche Probleme bereitet haben. Diese Dinge passieren häufig.

Aber abgesehen von den Gebieten, in denen es besonders viele Konflikte gibt, existieren viele Formen der Akkumulation, der Verhandlung und Flexibilität bei der Umsetzung der politischen Pläne. Wenn man sich das entsprechende Regelwerk ansieht, hält man es für einfach: Es gibt staatliches Land und kollektives Land. Das sind die einzigen Formen, in denen die Verfügung über das Land organisiert ist. Aber die Komplexität des Verhältnisses zwischen diesen beiden Formen ist unglaublich, und die Fähigkeit des lokalen Staates, damit umzugehen, sehr hoch entwickelt. Aus dem Grund glaube ich, daß es immer Möglichkeiten zum Handeln gibt, sogar auf der Ebene der Ärmsten der Armen.

Auch einige der Fälle in Bangladesch, die hier vorgestellt wurden, zeigen, daß diese Menschen, selbst wenn sie in Slums leben oder fast kein Einkommen haben, über Handlungsmacht verfügen. Sie haben andere Ressourcen, die sie mobilisieren können. Im chinesischen Fall, den man insbesondere im Perflußdelta findet, wo es relativ reiche Bauerngemeinden gibt, bestehen noch immer Unterschiede in der Handlungsmacht. Gemeinden, die reicher oder besser organisiert sind, eine bessere Wirtschaft haben, näher an der Straße liegen oder mehr Land zur Verfügung haben oder deren Führer bessere Beziehungen zur höheren Regierungsebene unterhalten und so weiter, verfügen über eine bessere Ausgangslage für Verhandlungen und zur Sicherung ihrer Interessen. Natürlich haben andere weniger Spielraum, aber Handlungsmöglichkeiten gibt es immer.

SB: Was meinen Sie mit lokal eingebetteten Prozessen der Akkumulation?

LT: Stellen Sie sich ein Dorf vor, das die ganze sozialistische Zeit über kollektives Land besessen hat. Dieses Gemeinschaftsland war immer Agrarland in einer ländlichen Region, sie betrieben darauf Landwirtschaft. Die ländlichen Gebiete in China waren in der Regel sehr arm, das trifft auf das Perlflußdelta jedoch nur bedingt zu, war es doch eine vergleichsweise wohlhabende Agrarregion. Als die wirtschaftliche Öffnung Chinas massive Industrialisierungsprozesse in Gang setzte, verfügten Familien, die zufälligerweise die Kontrolle über das Land in einem bestimmten urbanen Dorf hatten, plötzlich über Land, dessen Wert immer weiter zunahm. Sie wußten nicht, daß so etwas passieren würde und hatten sehr wenig mit den Gründen für diese Entwicklung zu tun, aber befanden sich in einer völlig neuen Situation. So fingen diese Leute an, Kapital zu akkumulieren. Und sie konnten es allein aufgrund ihrer dortigen Existenz anhäufen, dadurch, daß sie ihre Dorfbindung geltend machten und Regeln aufstellten, die beispielsweise festlegten, wer Dorfbewohner ist und wer nicht.

Eines der großen Probleme betrifft beispielsweise die Entscheidung, was mit dem Land geschehen soll, das einer Person zugewiesen ist, die außerhalb heiratet. Die Dörfer sollten das Land dann eigentlich behalten, so ist es gesetzlich festgelegt. Aber in vielen Fällen wollen die Dorfbewohner nicht akzeptieren, daß man durch einen Umzug in ein anderes Gebiet das zugestandene Landnutzungsrecht verliert. Das stellt insbesondere für Frauen ein schwerwiegendes Problem dar. Dann gibt es noch die kollektive Besitzstruktur. Ende der 90er Jahre ging man dazu über, den Anspruch auf ein eigenes Stück Land in einen Anteil an einer Kooperative zu verwandeln, an der man Teilhaber ist. Sie verwaltet das Land, und die Teilhaber wurden auf gewisse Weise zu einer anderen Art von Dorfbewohnern. Aber dieser Anteil gehört ihnen immer noch, und das ist ihr Reichtum.

Die Migranten hingegen, die in den Fabriken arbeiten, die auf diesem Land errichtet werden, besitzen keinen Anteil. Sie haben keinen Zugang zu Reichtum, sie haben keinen Zugang zu Bildung - was sich allerdings verändert, weil die Regierung die Dörfer zwingt, für Bildung zu sorgen -, sie haben keinen Zugang zu eigenem Wohnraum und keinen Zugang zu den Leistungen, die diese Dörfer zur Verfügung stellen und mit denen sie noch mehr Reichtum produzieren. So steht eine kleine Gruppe von Menschen einer großen Zahl von Migranten gegenüber. In bestimmten Ortschaften innerhalb Dongguans beispielsweise besteht ein Verhältnis von 1 zu 100, das heißt auf einen Dorfbewohner kommen 100 Migranten; in einem bestimmten Ort sind es 1000 Dorfbewohner auf 50.000 Migranten. Und die Kontrolle über das Land bedeutet angesichts der Menge an Ressourcen und der damit verbundenen Investitionen, daß diese 1000 Menschen, auf deren Land 50.000 Migranten arbeiten, sehr wohlhabend sein müssen. Das ist bei den Urban Villages, die von der Stadt eingeholt wurden, sogar in einem noch größeren Ausmaß der Fall. Es sind Dörfer, die sich plötzlich mitten im Einzugsgebiet einer riesigen Stadt wie Guangzhou befinden. Ihr Land ist Gold wert. Ihre Bewohner wurden unversehens zu Millionären. Und das Dorf blieb erhalten, weil sie nicht enteignet werden konnten.

Hier findet wieder eine andere Art von Verhandlungprozeß statt, der es diesen Menschen erlaubt, Kapital in erheblichem Ausmaß zu akkumulieren. Das sind die wirklichen neuen Reichen in der Stadt, Menschen, die aus vollständiger Armut kommen oder den unteren Schichten der Gesellschaft entstammen. Sie haben möglicherweise nicht einmal eine Schulbildung, aber die kommenden Generationen werden eine haben. Sie sind nicht sehr gebildet, sie waren nur zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort, wenn man so will. Natürlich ist es nicht nur das. Einige von ihnen verfügen in hohem Maße über unternehmerisches Geschick. Sie haben die richtigen Entscheidungen getroffen und verhandelten hart mit der Regierung. Wenn man verstehen will, wie bestimmte Leute Wohlstand für ihr Dorf generiert oder eine bestimmte Art der Entwicklung initiiert haben, dann muß man sich diese Prozesse ansehen.

Auf der andere Seite erzeugen diese Prozesse nur für einen Teil der Gesellschaft Wohlstand und damit verschiedene Formen der Ungleichheit. Ein Dorf befindet sich am richtigen Ort, und seine Bewohner werden Millionäre. Das Dorf nebenan hat keine Straße oder nicht die richtige Lage. Dessen Bewohner werden zurechtkommen und ein paar Projekte bekommen, aber sie werden keine Millionäre. Für Migranten sieht es noch schlechter aus. Sie gehören dazu, aber sie werden nichts akkumulieren. Sie werden weiterhin Proletarier sein, wenn man ein aus der Mode gekommenes Wort bemühen will. Diese Akkumulationsprozesse, die möglicherweise ein wenig anders sind als das, was Marx vom Kapitalismus erwartete, werden durch eines der grundlegenden Prinzipien des Sozialismus unterstützt, die Kollektivierung des Landes.

SB: Da Privatbesitz an Land in China nicht erlaubt ist, hat man es also mit einer vollkommen neuen Kombination aus kollektivem Landbesitz und privater oder semiprivater Form der Akkumulation zu tun?

LT: Ja, wie ich bereits erwähnte, gibt es diese Unterscheidung zwischen Staat und Kollektiv. In der Stadt ist das Land Staatseigentum, und im Dorf gehören die Agrarflächen der Gemeinschaft. Theoretisch ist es Dörfern nicht erlaubt, das Agrarland zu verpachten, sie taten es aber trotzdem. In den 80er und 90er Jahren haben sie es beispielsweise an Fabriken verpachtet. Sie beschritten also, wenn man so will, informelle Wege, um ihr Land zu nutzen. Heute haben sie einen gewissen Spielraum, da es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, mit dem Land umzugehen. Sie können es verpachten, müssen aber dafür die Genehmigung der übergeordneten Ebene einholen. So bauen sie beispielsweise ein Fabrikgebäude und vermieten es, oder sie vermieten das Land unbebaut, oder sie machen einen Vertrag mit einem Subkontraktor, der normalerweise eine Laufzeit von 50 Jahren hat und dem Vertragspartner für diese Dauer die Nutzung des Landes zusichert. Das kann der Staat veranlassen, manchmal übernimmt es die Stadtverwaltung und manchmal, wenn es eine entsprechende Vereinbarung gibt, sind sogar die Dörfer dafür zuständig. Das daraus resultierende Einkommen wird auf die unterschiedlichen Administrationsebenen verteilt.

Das gleiche geschieht mit dem staatlichen Land in der Stadt. Im Moment gibt es keinen Privatbesitz an Land, aber an Immobilien. Man kann ein Haus besitzen, und das Land wird in der Regel für etwa 70 Jahre an Immobilienunternehmen verpachtet. Sie haben unterschiedliche Möglichkeiten, ihr Land zu nutzen, um Profit zu machen - was ursprünglich und tatsächlich auch jetzt noch im verfassungsrechtlichen Sinne nicht erlaubt ist. Es gibt also einen großen grauen Bereich, in dem viele derartige Dinge passieren, und die Lokalregierungen sind sehr mächtig. Sie erteilen Erlaubnisse oder verhängen Verbote, und sie befinden darüber, ob benachbarte Dörfer völlig verschiedene Strukturen entwickeln. Deshalb ist der Versuch, alle unterschiedlichen Forderungen unter einen Hut zu bringen, für die Staatsregierung sehr aufwendig.

SB: Könnte man sagen, daß es zwar keinen Privatbesitz gibt, aber Akkumulationsprozesse stattfinden, die sich von der Art und Weise der Kapitalverwertung in westlichen Gesellschaften nicht unterscheiden?

LT: Wenn Sie wollen, können Sie es so auslegen. Ich denke, das ist eine etwas vereinfachte Sicht. Aber so ist es. Es gibt Akkumulationsprozesse, die mit dem Transfer von Kapital verbunden sind, was im Grunde das ist, wovon Marx gesprochen hat. Das ist die ganze Idee: Diese Akkumulationsprozesse haben mit der Kontrolle über politische Ressourcen zu tun. Und ein Merkmal dieser Art von Akkumulation ist die Tatsache, daß sich das Land so zwar im öffentlichen Besitz befindet, aber nicht im Besitz der Öffentlichkeit. Es ist nicht im Besitz aller. Das Wort für öffentlichen Besitz im Chinesischen bedeutet übersetzt "Besitz aller Menschen". Aber tatsächlich sind die Entscheidungen, die getroffen werden, sehr oft die Entscheidungen der Funktionsträger.

Die Stadtverwaltung, der Distrikt, die Gemeinde kontrollieren eine bestimmte Menge Land. Und das Land ist elementar für ihr Überleben und für ihr Vorankommen. Es ist elementar für die Erzeugung von Wachstum, es ist elementar für Steuern und Gebühren, die etwa für Immobilien oder das Land selbst anfallen. Das sind die einzigen Gelder, die von den lokalen Verwaltungsebenen in vollem Umfang einbehalten werden. Sie werden nicht an die höhere Ebene weitergegeben, darin besteht ihre besondere Bedeutung. Deshalb haben sie soviel Interesse daran, und deshalb will jeder Distrikt beispielsweise Immobilienprojekte haben, nicht nur für eine Wohngegend der mittleren Einkommensklasse, sondern für Menschen mit hohem Einkommen. Denn wenn die Häuser auf dem Land für einen höheren Preis verkauft werden, dann bekommen sie auch eine höhere Gebühr.

So werden in der Immobilienwirtschaft Bündnisse geschlossen, gewöhnlich Wachstumskoalition genannt, also eine Koalition verschiedener Gruppen, die Interesse am Wachstum haben. Sie umfassen Regierungsvertreter, Bauunternehmer und manchmal weitere private Akteure. Insbesondere Bauunternehmen in staatlichem Besitz und der Staat selbst haben Interesse daran, das Land auf wertsteigernde Weise zu nutzen. Um das voranzutreiben, legen lokale Regierungen Programme zur Förderung von Wohneigentum auf. China ist eines derjenigen Länder, die weltweit die höchste Rate an Wohneigentum unter Stadtbewohnern aufweisen. Migranten können es sich nicht leisten, es zu kaufen. Aber insbesondere früher war es gang und gäbe, daß die Beschäftigten von Staatsunternehmen umfangreiche Subventionen für den Kauf einer Wohnung erhielten, anstatt sie zu mieten. Nach 1998, als das freie Wohnen für Angestellte von Staatsunternehmen im Grunde gestrichen wurde, gaben die Unternehmen diesen Leuten noch immer Geld, um Hauseigentum zu kaufen.

Menschen, die für den Staat arbeiteten, verfügten in den Anfängen des Immobilienmarktes über eine besonders gute Ausgangsposition. Jetzt besitzen sie Vermögenswerte, die einen unglaublichen Wertzuwachs erfahren haben. Wer später in den Markt einsteigt, was insbesondere die jüngere Generation betrifft, hat viel größere Schwierigkeiten, Häuser zu kaufen. Nicht nur aus diesem Grund gibt es eine Überproduktion von Wohnraum, eine Überproduktion von Immobilien und damit das permanente Risiko einer Blasenbildung. Es ist sehr schwer zu prognostizieren, ob es einen Crash geben wird, wenn man die Menge an öffentlichem Kapital bedenkt, das im Spiel ist, während der Staat immer noch irgendwie in der Lage ist, die Hebel von alledem zu bewegen.

SB: Historisch gesehen ist es merkwürdig, daß es in China eine Bauernrevolution gegeben hat und jetzt eine Art von Klassenwiderspruch zwischen den Migranten vom Land und den Menschen in den Städten entstanden ist.

LT: Ja sicher, es gibt viele Dinge, die sehr seltsam anmuten, wenn man es aus historischer Sicht betrachtet und an das denkt, wofür die chinesische Revolution gestanden hat, an die Idee der Klassen und der Führungsrolle der Partei. Die Tatsache, daß diese Worte immer noch benutzt werden, ist das Paradox. Die Paradoxie ist nicht, daß sich die Verhältnisse verändert haben, sie besteht darin, daß sie immer noch dieselben Begriffe benutzen, aber es irgendwie schaffen, die Arbeiterklasse und die Bauern zu übervorteilen.

SB: Und wie reguliert die chinesische Regierung diese Widersprüche? Welche Politik verfolgt sie, um die daraus resultierenden Spannungen unter Kontrolle zu behalten?

LT: Ungleichheit ist im Moment ein zentrales Thema im Diskurs der chinesischen Regierung. Sie hat die soziale Ungleichheit als Problem erkannt und ist sich der Tatsache bewußt, daß sie, insbesondere wenn sie durch exzessiven Reichtum oder durch Korruption entstanden ist, zu einer Gegenreaktion führen kann.

Meiner Ansicht nach sollte die chinesische Regierung an erster Stelle den Aufbau eines gerechteren sozialstaatlichen Systems in Angriff nehmen. Eines Sozialsystems, in dem man sich wirklich kümmert, und eines gerechteren Steuersystems, in dem offengelegt wird, wer viel Geld erwirtschaftet und damit steuerpflichtig ist. Mit diesen Steuern kann dann ein Wohlfahrtssystem aufgebaut werden. Nach den umfangreichen Liberalisierungen der Sozialfürsorge wird jetzt versucht, dieses System wieder aufzubauen. Aber es gewährt vorrangig Hilfsleistungen im Notfall und ist kein sozial gerechtes System. Es gibt nicht jedem die Chance und die Möglichkeit des Zugangs zu einer guten Gesundheitsversorgung. Diese sozialen Unterschiede haben eine Menge mit der Beschäftigungslage zu tun. Viele Arbeiter in Privatunternehmen sind weit weniger durch Versicherungen geschützt als Staatsangestellte oder die Angestellten teilstaatlicher Unternehmen.

Ich denke, daß die Regierung versucht, soziale Verbesserungen in Angriff zu nehmen. Aber es ist sehr schwierig, weil die Interessen sehr eingefahren sind. Das alte System, in dem man gut gestellt ist, wenn man für die Regierung ist, wird sich nicht auflösen. Es wurde in den letzten Jahren sogar gestärkt. Fast jeder Universitätsabsolvent, den man heute fragt, will für ein staatliches Unternehmen arbeiten. Das ist der einzige Platz, an dem man es recht gut haben kann. Die Gehälter der staatlichen Angestellten sind im Verhältnis zu anderen überdurchschnittlich gestiegen. Das ist ein weiteres Paradoxon, wenn man so will. Vieles wird privatisiert, aber das öffentliche Kapital fließt in die profitabelsten Unternehmen, in die profitabelsten Industriebereiche, in die profitabelsten Sektoren.

Bevorzugt werden diejenigen Leute, die die Regierung unterstützen. Sie bilden die Mittelklasse Chinas und verfügen über einen privilegierten Konsum. Es sind Städter, die begünstigt werden, wenn sie ein Haus kaufen wollen. Staatliche Angestellte können sich ein Auto leisten und ähnliches. Die Kategorien überlappen sich in vielen Fällen. Normalerweise glaubt man, daß die Wohlhabenden und die Mittelklasse aus den Angestellten des Privatsektors bestehen. Aber so ist es nicht. Die meisten Menschen, die wir als als Mittel- oder Oberschicht ansehen würden, arbeiten im öffentlichen Bereich. Ich bezeichne das als das Social Engineering der Mittelklasse in China.

SB: Sie haben in Ihrem Vortrag die Agrar- und die Industrieproduktion miteinander verglichen. Die Kapitalinvestitionen gehen hauptsächlich in die Industriegebiete, aber China hat eine lange Tradition der Hungerkrisen, und Nahrungsmittel waren immer sehr wichtig für die Bevölkerung. Welche Auswirkungen hat die Konzentration auf die Industrieentwicklung und Finanzwirtschaft Ihrer Ansicht nach?

LT: Ich denke, die Regierung ist besorgt. China hat nicht genug Land, auf jeden Fall viel weniger, als für eine Agrarproduktion nötig wäre, die die ganze Bevölkerung ernährt. China importiert bereits viele Nahrungsmittel und ist nicht autark. Die Regierung versucht, eine rote Linie zu ziehen, um stets eine gewisse Menge an landwirtschaftlich nutzbarer Fläche - ich glaube, es sind 18 Milliarden Hektar - für die Nahrungsmittelproduktion zur Verfügung zu haben. Sie ist damit konfrontiert, den Wandel zu einer wesentlich kleineren und effizienteren Landwirtschaft mit einem viel größeren Bevölkerungsanteil, der in Städte zieht und in bestimmten postindustriellen Dienstleistungs- und Industriebereichen arbeitet, in der Zukunft miteinander kombinieren zu müssen. Nach Ansicht der Regierung wird das Gros der chinesischen Bevölkerung in den modernisierten Städten leben. Die Urbanisierung hat jetzt schon 50 Prozent der Bevölkerung überschritten, und sie wird wahrscheinlich 75 Prozent erreichen, was sich immer noch im Rahmen entwickelter Länder bewegt, wofür man eben eine viel effizientere und besser organisierte Landwirtschaft benötigt.

Es gibt bereits Anzeichen dafür, daß man von dieser parzellierten Art der Landwirtschaft, in der jede Familie ein Stück Land und jedes Dorf eine Kooperative hat, wegkommen will, um den Aufbau riesiger Agrarunternehmen zu erlauben. Manchmal umfaßt ein Unternehmen ein Dorf oder sogar mehrere Dörfer. Natürlich versucht die Agrarindustrie, insbesondere in bestimmten Gegenden wie dem Westen des Landes und in bestimmten Bereichen der traditionellen Landwirtschaft wie der Produktion von Obst, Tabak und Baumwolle Fuß zu fassen. Das wird alles kommen. Und Landwirtschaft effizienter zu machen bedeutet auch, die Parzellierung des Landes als ein Merkmal des derzeitigen Systems zu zerstören.

SB: Das wird eine Menge Menschen dazu nötigen, sich neue Arbeit zu suchen.

LT: Es bewirkt, was diese Prozesse immer bewirkt haben: die Proletarisierung der Bauern. Sie verlieren ihr Land und werden zu Arbeitern. Sie werden entweder in Fabriken arbeiten oder an anderer Stelle. So laufen die Dinge, das hat sich nicht verändert.

SB: Herr Dr. Tomba, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.


Fußnoten:

[1]http://www.thechinastory.org/


Bisherige Beiträge zum Kolloquium "Megacities - Megachallenge" im Schattenblick unter INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT

BERICHT/015: Megacities - Rauburbane Sammelpunkte (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0015.html

BERICHT/016: Megacities - Evolution der Umlast (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0016.html

BERICHT/017: Megacities - Marktaufbruch der Sieger und Verlierer (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0017.html

BERICHT/018: Megacities - Besitzstandsselektive Dynamik (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0018.html

BERICHT/019: Megacities - Avantgarde der Erneuerung (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0019.html

BERICHT/020: Megacities - Armut, Smog und Emissionen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0020.html

INTERVIEW/015: Megacities - Über den Tellerrand - Prof. Dr. Frauke Kraas im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0015.html

INTERVIEW/016: Megacities - Forschungsselbstzweck Überleben - Dr. Johannes Karte im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0016.html

INTERVIEW/019: Megacities - Freiheit, Gleichheit, Forschung (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0019.html

INTERVIEW/020: Megacities - Konstruktdynamische Prozesse (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0020.html

INTERVIEW/022: Megacities - Fehlverteilung urban - Benjamin Etzold im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0022.html

INTERVIEW/023: Megacities - Elendsverteilungsvariante Dhaka (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0023.html

INTERVIEW/024: Megacities - Projekt interdisziplinär gelungen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0024.html

INTERVIEW/025: Megacities - Produktivität des Elends (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0025.html

INTERVIEW/026: Megacities - Blühende Stadt und sterbendes Land (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0026.html

INTERVIEW/028: Megacities - Guangzhou, krause Stirn und Wissenschaft - Prof. Dr. Desheng Xue im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0028.html

INTERVIEW/029: Megacities - Urban leben, streben, weben (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0029.html

INTERVIEW/030: Bruchlinien der Systeme (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0030.html


25. Juli 2013