Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT

INTERVIEW/044: Alte Tugend, neuer Schwung - Auch mit Fetzen Segel setzen, Dr. Henning Scherf im Gespräch, Teil 1 (SB)


Bürger Scherf

Interview mit Dr. Henning Scherf am 20. Mai 2014 in Bremen über Anders-Altwerden, die Ökonomisierung von Krankheit und Sterben, Transplantationsmedizin und das Recht auf den eigenen Tod, über Solidarität als Lebensmaxime, Eigeninitiative und Verantwortung, sozialistische Träume und Religion, deutsche Vergangenheit und internationale Gegenwart



Mit 67 hat Henning Scherf seine politische Karriere beendet. Mit der Frage "Wie will ich, wie wollen wir im Alter leben" beschäftigt er sich schon sein halbes Leben lang. Aus dem gemeinsamen Wohnen mit Freunden wurde, von beruflichen Zwängen befreit, ein umfassenderes Engagement für einen Wandel der Konkurrenzgesellschaft zugunsten eines Gemeinwesens, in dem Alt und Jung einander unterstützen. Gerade ältere Menschen haben heute, so der ehemalige Bremer Bürgermeister, nach ihrem Ausscheiden aus dem Berufsleben oftmals den Wunsch und auch noch die Kraft, sich für andere und, so sein Plädoyer, für die ganz Alten, die auf Hilfe angewiesen sind, einzusetzen. Gegen das fortwährend beschworene Schreckgespenst des demographischen Wandels als Zumutung für die heute Jungen setzt Scherf die Vision eines Zusammenhalts, der allen zugleich nützt und gefördert durch entsprechende politische Weichenstellungen einen sicheren Weg aus der institutionalisierten Pflegemisere ebnen kann.

Am 20. Mai hatte der Schattenblick die Gelegenheit zu einem ausführlichen Gespräch im Bremer Rathaus mit einem ehemaligen Politiker, der sich nicht scheut, über essentielle Fragen nachzudenken und zu diskutieren, die sich unter Umständen eher vertiefen als erübrigen.

Aufgrund seiner Länge erscheint das Interview in zwei Teilen.

In der Bibliothek des Bremer Rathauses - Foto: © 2014 by Schattenblick

Henning Scherf
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Scherf, Sie waren 10 Jahre lang Bürgermeister der Stadt Bremen, um nur eines Ihrer vielen öffentlichen Ämter zu nennen. 2005 haben Sie sich aus der Politik verabschiedet. Nun treffen wir Sie im Rathaus. Können Sie sich immer noch nicht trennen?

Henning Scherf (HS): Nein, ich habe nur das große Glück, daß die im Rathaus mir helfen. Ich bin jetzt der Nutznießer einer von mir im Einvernehmen mit allen eingerichteten Unterstützung für Hans Koschnik, als ich hier noch Chef war. Ich brauche zwar kein Büro, aber zwei Damen helfen mir neben ihrer Arbeit, Termine zu machen, Texte und Interviews abzustimmen und überhaupt bei der Korrespondenz. Ich habe ja 200 Vorträge im Jahr, quer durch die Republik, das ist eine wahnsinnige Arbeit. Da werde ich getragen und gestützt, und das ist ganz, ganz toll, sonst könnte ich das gar nicht. Gleich muß ich zum Beispiel nach Süddeutschland...

SB: Gibt es da einen Vortrag zu Ihrem neuen Buch?

HS: Ja, meine Bücher sind immer der Aufhänger. Es geht bei meinen Vorträgen eigentlich immer ums "Anders Altwerden". Wie können wir diese demographisch veränderte Gesellschaft mit den Immer-älter-Werdenden und den immer weniger Jungen gestalten? Und da erzähle ich vieles, was ich so mache. Wie wir zusammenleben seit 1987 in der Rembertistraße, wie ich mich fithalte, warum ich noch singe, warum ich male, warum ich schreibe. Wie das geht, was man da noch erreicht, was ich für Ehrenämter habe. Das sind alles Themen, die die anderen interessieren. Das erzähle ich gerne, weil ich andere anstiften will, sich auch zu kümmern und sich kleine Aufgaben zu suchen.

SB: In Ihren Büchern legen Sie den Finger auch auf Mißstände und Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft, besonders bezüglich der Menschen, die benachteiligt sind, und nehmen dabei kein Blatt vor den Mund. Ist der Bürger Henning Scherf radikaler als es der Politiker je war oder sein konnte oder würde auch ein Politiker Scherf heute radikaler argumentieren?

HS: Das ist eine sehr hypothetische Frage. Ich glaube schon, daß mein Blick sich verändert hat. Wenn man in der Politik ist, zumal als Regierungschef und dann in Berlin als Vermittlungsausschußvorsitzender, und Kompromisse suchen muß zwischen den Oppositions- und den Regierungsparteien in unterschiedlicher Konstellation, kriegt man eine andere Sicht auf die Dinge. Dann sind die erreichbaren politischen Alternativen wichtiger als das, was insgesamt passiert. Man muß irgendwie handlungsfähig bleiben. Jetzt, wo ich da raus bin, mich sogar ein bißchen befreit fühle, muß ich nicht mehr ständig überlegen: Stimmt das überein mit der Beschlußlage deiner Partei? Was sagen die Gewerkschaften dazu? Wie kann man das mit dem Koalitionspartner hinbekommen? Das ist mir alles nicht mehr so wichtig, sondern jetzt bin ich Bürger und nehme so wie viele andere am öffentlichen Leben teil. Und da nun das Alter mein großes Thema geworden ist, ergreife ich Partei für die Leute, die mir altersnah sind und die ich erlebe. Ich kritisiere auch meine eigene Partei, und daß die Gewerkschaft zum Beispiel so überhaupt nicht nachgeben will, wenn es um die Individualisierung und Flexibilisierung des In-die-Rente-Gehens geht. Ob ich das in der Politik genauso durchhalten würde, kann ich gar nicht sagen. Da würde ich, glaube ich, genauso wie früher darauf achten, nicht allein zu bleiben, nicht in einer hoffnungslosen Minderheit zu sein. Man muß in demokratischen Gesellschaften ja immer auch versuchen, sich zu hinterfragen: Liegst du eigentlich richtig? Warum denken die anderen anders? Wenn man das aufgibt, ist man eigentlich für die Politik in der Demokratie gar nicht mehr zu verwenden. Dann ist man ein Dickkopf, ein Querkopf (lacht), ein Rechthaber. Und Rechthaber wollen die nicht haben. Die wollen Leute haben, die handlungsfähig sind, die gestalten können, die kompromißfähig sind - ganz im guten Sinne gemeint, nicht abwertend. Ich glaube, das würde ich immer noch machen, wenn ich wirklich noch politisch tätig wäre.

Henning Scherf beim Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Sie sprechen, schreiben und werben für eine neue Chance der älteren Generation, sich - finanziell abgesichert, mit viel Zeit und gesünder und aktiver noch als vor Jahrzehnten die Menschen im Rentenalter - ehrenamtlich zu engagieren, ohne immer zu fragen: Kriege ich das richtige Gehalt dafür? Nun wächst in Deutschland die Zahl der Senioren, die mit ihrer Rente nicht über die Runden kommen, die Sozialhilfeempfänger werden. Betrifft Ihr Vorschlag nicht nur eine kleine und zunehmend kleiner werdende Gruppe von Menschen jenseits der 65?

HS: Nee, genau anders herum. Die Zahl derjenigen, die gut ausgestattet ins Rentenalter kommen, wächst und wächst. Ich schätze, das sind jetzt schon gegen Dreiviertel bis zu 80 Prozent. Trotzdem gibt es Altersarmut, das stimmt. Aber Altersarmut ist ein Minderheitsproblem, kein Mehrheitsproblem. Wir haben eine sozialstaatliche Sicherung unserer Lebensrisiken, die ist weltweit vorbildlich. Sie ist immer noch nicht fertig, also immer noch verbesserungsbedürftig, das weiß ich. Aber es gibt eigentlich keinen Grund zu sagen: Wir sind am Ende und es wird immer schlechter - sondern es wird immer besser! Die große Mehrheit verfügt heute in Deutschland im Rentenalter real über mehr Geld, als sie ihr ganzes Leben gehabt hat. Die haben ja früher mit ihrem Geld Steuern zahlen müssen, Sozialversicherungsbeiträge, ihre Kinder großziehen, ihr Haus abzahlen, ihr Auto vielleicht. Das ist jetzt alles nicht mehr da. Das Haus ist abbezahlt, die Kinder sind längst selbständig, Steuern müssen sie, wenn überhaupt, nur noch viel geringere zahlen. Die sind real besser gestellt, als sie das früher waren.

SB: Aber die Rentenbesteuerung wird ja wieder anwachsen.

HS: Ja, aber ganz behutsam, weniger als bei den anderen. Bei denen, die noch in der Arbeit sind, gibt es durch die Inflationsveränderung eine kalte Steuererhöhung. Das ist ein Problem. Die Rentner sind eigentlich begünstigt. Wenn überhaupt Kritik an unserem Rentensystem geübt wird, kommt die immer von den Jungen. Die sagen: Wir hätten es gerne genauso gut wie ihr. Denkt ihr eigentlich auch an unsere Perspektive, wenn wir Zwanzig-, Dreißigjährigen mal 70, 80 sind? Da kommt die Hauptkritik her, so daß wir uns hüten müssen, daß das nicht immer schwieriger wird, sondern daß wir auf lange Sicht unsere Renten stabilisieren. Gegenwärtig und in den nächsten fünf, zehn Jahren haben wir eine ungewöhnlich solide Rentenfinanzierung, wir haben ja Milliarden Überschüsse. Wir haben wirtschaftliche und sozialstaatliche Bedingungen, wie sie kaum ein anderes Land in der Welt hat, und darum sag ich mal: Wir klagen auf hohem Niveau.

SB: Meine Frage richtete sich durchaus auch in die Zukunft. Wenn wir davon ausgehen, daß die prekären Arbeitsverhältnisse zunehmen, dann wird natürlich auch die Altersarmut perspektivisch schon ein Problem.

HS: Ja, das stimmt, da bin ich bei Ihnen.

SB: Welche Möglichkeiten gibt es dann noch, sich ehrenamtlich zu engagieren? Wenn jemand über 65 ist und muß sich noch was dazuverdienen und muß sich jede Fahrt mit der Straßenbahn und jedes Treffen überlegen...

HS: Also immer schön nacheinander. Sie haben recht, daß es für die Perspektive in 20, 30 Jahren dramatische Probleme gibt mit denen, die sogenannte gebrochene Erwerbsbiographien mit langen Arbeitslosenzeiten haben. Das stimmt und daran müssen wir unbedingt arbeiten. Das ist ein großes sozialpolitisches Problem, das darf man nicht kleinreden.

Henning Scherf im Porträt - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

Aber jetzt kommt etwas anderes: Die Bereitschaft, freiwillig was zu machen, ist so hoch in der Republik, wie das kaum einer glaubt. Die Meinungsumfragen gehen dahin, daß die 60- bis 75jährigen zu 50 Prozent freiwillig was tun wollen - das sagen sie selber. Wir kommen gar nicht nach mit den Angeboten, um diese Nachfragen zu bedienen. Es gibt viele, die würden gerne was tun, kriegen aber keine Gelegenheit dazu. Ganz klassisch ist der Bundesfreiwilligendienst, der ja nach Aussetzen der Wehrpflicht und des Zivildienstes als Hilfskonstruktion erfunden worden ist, der ist völlig überbucht. Da sind so viele Leute, die sagen: Wir würden gerne, die kommen gar nicht mit. Ich spüre, daß die Bereitschaft ganz hoch ist, was zu tun und daß wir das, wenn wir klug sind, nutzen und sagen: Nun bieten wir mal richtig vernünftige, geschützte, auch vernünftig versicherte Möglichkeiten an, daß da An- und Abfahrt zum Beispiel bezahlt werden, daß also niemand gehindert wird, weil er die Straßenbahn nicht mehr zahlen kann. Solche Angebote werden im Augenblick entwickelt, die sind dringend gewünscht und gefordert. Das ist eigentlich eine ganz tolle Perspektive.

Ich beobachte, daß gerade Leute, die ihr Geld sehr umdrehen und sehr sorgfältig wirtschaften müssen, darauf zugehen, daß die sagen: Wir wollen unter Leuten bleiben. Daß die sich aus ihrer Bedrohung, daß sie über ihre Armut isoliert sind, überlegen, wie kommen wir da raus, wie erreichen wir andere, wie kommen wir noch zwischen Menschen, wo können wir auch nochmal ein bißchen zuverdienen? Das bewegt sich im Augenblick. Ich empfinde das als eine Chance, nicht als eine Bedrohung und ich plädiere dafür, daß die Gewerkschaften das zu ihrem Thema machen, sich auch um die Leute kümmern, die nun in die Jahre gekommen sind und für die faire Bedingungen aushandeln. Ich spüre, das ist im Kommen, das ist ein großes Thema.

Gestern haben sie sich in der Koalition geeinigt über die Flexirente, das ist ein Schritt in die richtige Richtung, daß das gestaltbar wird. Wie kann ich jemanden unterstützen, der sagt: Ich könnte noch. Ich will nicht mehr als Dachdecker aufs Dach kriechen, das kann ich schon lange nicht mehr, aber warum soll ich nicht im Büro mit aushelfen? Warum soll ich nicht Kundenbesuche machen, Buchhaltung, Korrespondenz? Warum soll ich nicht den Telefondienst machen? Wenn der junge Chef ständig auf Baustellen 'rumturnt, ist das doch wichtig, daß einer zuhause das Telefon annimmt, wenn da einer einen neuen Auftrag ankündigt oder eine Beschwerde. Da muß man doch nicht fit sein und auf Dächer klettern können, sondern da muß man noch gut Auskunft geben und aufschreiben können, was die wollen, und dann ist es ein Segen.

Solche Aufgaben, das spüre ich, entwickeln sich jetzt in dieser altersveränderten Gesellschaft. Ich hoffe, daß sie dadurch auch bewirken, daß die Generationen enger beieinander bleiben, daß wir uns nicht so abgrenzen voneinander: Das sind die Jungen, die machen nur Krach und nur Streß. Und wir sind die Alten, wir wollen nur in Ruhe gelassen werden und nichts mit denen zu tun haben. Ich möchte gerne, daß wir beieinander bleiben.

Foto: © 2014 by Schattenblick

Dicht beieinander bleiben - Alte Handwerkerhäuser in Bremens Schnoorviertel
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: "Hilfsbedürftig zu sein, paßt nicht in unsere Gesellschaft", heißt es in Ihrem Buch Altersreise. "Das verzerrte Bild vom perfekten Menschen in der Öffentlichkeit, der ständig verfügbar ist, permanent fit und leistungsfähig, verstärkt das Alterstabu", und: "Bewahr dich davor, irgendwohin gebracht zu werden, wo du fremd, orientierungslos und perspektivlos bist". Sie schreiben aber auch, es gebe keinen Grund, vor dem Älterwerden Angst zu haben. Wie paßt das zusammen?

HS: Ich glaube, unsere Altersbilder stimmen nicht mehr. Viele haben noch im Kopf, was sie mit ihren Großeltern erlebt haben und die waren eben viel früher alt, starben übrigens im Schnitt auch viel früher. Diese Altersbilder von den schwarz gekleideten, gebrechlichen, still gewordenen Alten, die sind noch in den Köpfen. Ich beobachte immer häufiger, daß sich das verändert, daß zum Beispiel die 70jährigen - habe ich in einer Meinungsumfrage gelesen - sich 13 Jahre jünger fühlen, als sie sind. Andreas Kruse, der große Gerontologe in Heidelberg, hat jetzt gesagt: Die 85jährigen fühlen sich wie 65jährige. Das sehen Sie daran, wie die sich anziehen, wir laufen doch alle ganz anders rum als unsere Großeltern. Sie sehen auch, was die noch unternehmen, wie die auf Sachen zugehen. Ich beobachte das in Kindergärten, in Grundschulen, wenn die alten Leute da kommen und sagen, wir machen noch mit, wir würden uns gerne noch eine kleine Aufgabe suchen. Das hätten wir doch früher nie gewagt zu sagen.

Ich beobachte das, wenn ich unterwegs bin, wie Großeltern mit ihren Enkelkindern auf Reisen gehen. Dann ahne ich, daß die berufstätigen Eltern entlastet werden. Die machen dann ihren Job weiter, und die Großeltern strahlen, wenn sie mit so zwei, drei Kleinen in Urlaub fahren oder mal was anderes machen. Unser Altersbild ändert sich. Es wird nicht mehr ausschlaggebend sein, daß wir immer weniger können, sondern es ist attraktiver zu sagen, was können wir denn noch?

SB: Aber ist das nicht eine Perspektive nur für diejenigen, die noch jenseits der Hilfsbedürftigkeit sind?

HS: Ja, aber Hilfsbedürftigkeit ist auch nicht gleich 'ich kann gar nichts mehr'. Ich kenne viele Rollstuhlfahrer und noch viel mehr Rollatornutzer, die noch erstaunlich teilnehmen. Die Psychologen nennen das Resilienz. Resilienz ist die seelisch-psychische Kraft, die Alte mobilisieren können, um ihre körperlichen Gebrechen zu kompensieren. Wenn sie nicht mehr gut laufen können und mit dem Rollator gehen oder sich im Rollstuhl bewegen, hat offenbar - so sagen die Psychologen - der Kopf der alten Leute etwas entwickelt, was die verbleibenden Möglichkeiten attraktiver und nutzbarer macht.

SB: Wahrscheinlich nicht anders als früher, wenn ich jetzt mal an Ihre Großmutter denke, die Sie in Ihren Büchern beschreiben.

HS: Ja, die hatte das Glück, zwischen uns zu sein, das hat sie auch gesagt. Sie hatte ein schweres Leben, war früh Waise und wurde zweimal Witwe, ganz jung, und hat es ganz schlecht gehabt. Und im Alter hatte sie durch diese Familie und durch die sechs Kinder - so hat sie uns immer erzählt - die schönste Zeit ihres Lebens. Die hatte 54 D-Mark Rente, also eigentlich gar nichts. Und sie hat das bißchen Geld, was sie hatte, für die Enkel ausgegeben. Bei der Oma kriegten wir immer was.

SB: Da gab es das Wort Resilienz noch nicht, sondern das war ihr Selbstverständnis.

HS: Ja, ja, ja! Ganz genau! Die hat mit uns gelebt und die hat sich über jede Schularbeit gefreut und hat gelitten, wenn wir in der Schule plötzlich Probleme kriegten. Die wollte ganz nah an uns sein, war auch ganz nah an uns, und wir haben sie geliebt. Die hat uns durch den Krieg gebracht, als meine Eltern wirklich in großen Nöten waren. Mein Vater saß im Gefängnis, meine Mutter hatte Typhus, war also in Quarantäne. Unsere Großmutter, so eine kleine Frau, die hat uns sechs Kinder durchgebracht. Wenn ich die Fotos sehe aus der Zeit, ist sie immer abgehärmt, mit ganz eingefallenen Backen und ganz tiefen Rändern unter den Augen, und wir sehen alle wie propere kleine Kinder aus. Wir strahlen, als wenn Friedenszeiten wären. Das war sie, sie hat das geschafft!

Sowas wünsche ich vielen, daß sie im Alter Leute um sich herum versammeln können. Ich habe jetzt eine Untersuchung gelesen von der Max-Planck-Gesellschaft in Rostock über demographische Forschung, da sitze ich im Beirat, die haben weltweit 841 110jährige und Ältere getroffen und analysiert. Der rote Faden bei all diesen hochaltrigen Menschen, egal, wo die leben, ist, daß sie immer mittendrin gewesen sind. Sie waren nie einsam, nie abgeschoben, die hatten immer Aufgaben und sind auch jetzt noch interessiert. Die sagen: Wir wissen, daß wir sterben, aber bitte nicht heute und bitte nicht morgen. Alle haben noch Ideen für heute und morgen, das hält sie. Eine 122jährige Französin - das ist die Älteste von denen -, hatte mit 90 Jahren ihr Haus auf Rentenbasis an einen Rechtsanwalt verkauft. Nach 30 Jahren war der Rechtsanwalt tot und sie lebte immer noch. Und das erzählt sie wie einen Sieg über einen Spekulanten und ist stolz darauf! Solche Geschichten, die gefallen mir. Da denke ich immer, das ist das Leben.

Henning Scherf mit Schattenblick-Redakteurin im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Im Gespräch mit dem Schattenblick
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Früher hieß es, wenn jemand alt war und etwas durcheinander: Er ist tüddelig geworden, heute heißt es, er ist dement. Sie zitieren in Ihrem neuen Buch Altersreise die Neuropsychologin Elisabeth Stechl mit den Worten, daß "viele Menschen ohne den 'Stempel Demenz' glücklicher wären." Wäre es nicht sinnvoll, auf ein Label 'Demenz' gänzlich zu verzichten?

HS: Also, das heißt international 'Dementia', überall.

SB: Das macht es nicht besser!

HS: Das Wort kriegen wir nicht einfach weg. Ich möchte aber gerne die Angst davor wegräumen, so gut ich kann. Ich möchte gerne ein Beispiel dafür setzen, und ich beobachte, daß das auch an vielen anderen Ecken passiert, daß man mit demenzerkrankten Menschen noch zusammenleben kann, daß es eben nur ganz wenige sind - die Ärzte sagen 20 Prozent -, bei denen klappt das schlecht, aber bei der großen Mehrzahl der dementen Leute kann man das wirklich schaffen, daß man mit ihnen zusammen lebt, daß man zusammen sich freut, daß man zusammen kocht, daß man zusammen singt, daß man zusammen malt. Ich habe mich angefreundet mit demenzerkrankten Leuten in Borgfeld, mit Beate Lenders und mit Gertrud Schröder. Wir sind richtige Freunde geworden.

SB: Aber diese Beispiele zeigen doch auch, daß die Auswirkungen der Krankheit - wenn man es denn überhaupt eine Krankheit nennen muß - und die Einschränkungen, die damit einhergehen, in den Gemeinschaften, die Sie beschreiben und die Sie auf Ihren Reisen besucht haben, weitaus geringer sind, als wenn jemand im Alten- oder Pflegeheim lebt, oder auch zuhause und die Angehörigen den Umgang damit nicht kennen. Die Frage also noch einmal: Muß man wirklich eine Krankheit `Demenz‹ konstruieren, um mit einem Problem von Älterwerden in jeglicher Beziehung Umgang zu haben oder ist nicht ganz anderes nötig?

HS: Ich glaube, man kriegt das nicht wegdiskutiert. Und es passiert, weil wir älter werden, auch relativ häufig, daß der Kopf sich verändert und das Gedächtnis, das Kurzzeitgedächtnis allemal, immer weniger wird. Aber darauf eine Antwort zu finden, das finde ich spannend. Und ich glaube, es ist keine traditionelle Krankheit, mit der wir es zu tun haben. Die Ärzte wissen ja auch gar nicht, woher das kommt, die haben kein Medikament dagegen, auch mit Operieren ist nichts zu machen. Ich glaube, es ist eine ungewöhnliche Form von Alterung, der Kopf altert schneller als der Körper, und es ist eine große Hilfe, wenn man die verbleibenden Kompetenzen nutzt und die Menschen einbezieht und das Miteinander-Leben mit demenzerkrankten Menschen möglich macht.

Wissen Sie, woher ich meine Zuversicht hole? Ich habe Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre mitgemacht, als die Psychiatriereformer die großen Landeskrankenanstalten angegriffen haben, die ja wie Burgen eingerichtet waren, wo man dann geschützt war, aber eigentlich auch ein bißchen ausgegrenzt und weggesperrt. Da haben die jungen Ärzte - mit einigen bin ich bis heute befreundet - gesagt: Das geht nicht. Wir müssen die in die Gesellschaft zurückholen. Haben wir in Bremen auch gemacht. Wir haben das Kloster Blankenburg aufgelöst, das ist in der Nähe von Oldenburg, weit weg, und haben die alle wieder in die Stadt zurückgeholt. Wir haben hier in Bremen über hundert Wohngemeinschaften. Ich wohne direkt neben Leuten, die in so einer Wohngemeinschaft leben. Wenn ich Brötchen kaufe für unser Haus bei Otten in der Wachmannstraße, treffe ich meinen Freund Hermann, der wohnt in so einer Wohngemeinschaft. Hermann und ich sind alte Freunde. Hermann kauft für seinen Verein ein, ich für meinen. Früher war der in Blankenburg. Oder ein Bruder eines Klassenkameraden von mir, Alfi, der ist im Martinshof. Alfi ist ein wunderbarer Bürger Bremens, der ist stolz auf Bremen! Der macht auch was, und der lebt alleine. Und so kenne ich inzwischen ganz viele aus der Psychiatrieszene über die Blaumeiers, die Blaue Karawane. Wir haben ja eine richtige Szene hier, die schön ist, die spannend ist. Ich war gerade wieder im Theater bei denen und habe mich gefreut, was die für ein Theater haben. Das war früher alles undenkbar, das galt als völlig unmöglich. Die wurden weggesperrt, ausgeschlossen, ausgegrenzt, und nun lernen wir alle: Das geht doch! Und sie können leben und sie haben sogar kreative Chancen. Sie bringen uns auch richtig was bei. Die Blaumeiers machen richtig gute Kunst! Ich fühle mich da gut aufgehoben. Ich geh da nicht aus Barmherzigkeit hin, sondern, weil ich mich freue mit denen, weil das direkt ist, weil das eine eigene Art von Ausdruck ist.

Bunte Skulptur der Bremer Stadtmusikanten mit Büchern - Foto: © 2014 by Schattenblick

Verbündete gesucht und gefunden - Die Bremer Stadtmusikanten, hier als Einladung zum freien Vorlesen am Skulpturengarten der Bremischen Bürgerschaft
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Der Mediziner und Sozialpsychiater Prof. Dr. Klaus Dörner berichtete kürzlich in einem Gespräch mit dem Schattenblick [1] von seinem Freund und Schüler Matthias Heißler, der in Geesthacht die drei Stationen der von ihm geleiteteten psychiatrischen Abteilung in Haushalte umdefinierte. "Kam jemand mit seiner Wahnpsychose", zitiert ihn Dörner, "einem Alkoholdelir oder einer Pflegedemenz, fragte man ihn zuallererst: Was willst du tun, damit wir morgen zu essen haben? Das hält keine Schizophrenie, keine Depression und kaum eine Demenz lange aus, man kommt in Bewegung und dann gewöhnt man sich daran." Nach Ansicht von Dörner - und jetzt kommen wir auf den Begriff und auf seine mögliche Unauslöschbarkeit von einer anderen Seite zurück - muß man davon ausgehen, daß in "keinem Bereich der Gesellschaft die berufsständischen Interessen so massiv und so rücksichtslos über den eigentlichen Betriebszweck gestellt werden wie im Bereich der helfenden Berufe." Das heißt: Die Diagnose Demenz, die in der Bundesrepublik heute mehr als 1,4 Millionen Menschen betrifft, ist nicht nur zum Horrorszenario aufgestiegen, sondern zu einem enormen Wirtschaftszweig für Ärzte, für Pflegeeinrichtungen, für Krankenhäuser und für die Pharmazie. Muß man die Pflege nicht gänzlich vom Markt und vom Renditegedanken befreien?

HS: Also, Klaus Dörner ist ein wunderbarer, lieber Freund. Ich kenne ihn seit den 60er Jahren, und wir mögen und schätzen uns sehr. Klaus hat allerdings immer einen Schlag drauf, zu radikal zu sein, spitzt gerne zu. Wenn er sagt: Wir wollen pflegeheimfreie Kreise haben, will also alle Pflegeeinrichtungen dichtmachen, denke ich immer: Oh Klaus, du bist zu radikal. Es gibt welche, die müssen sofort dichtgemacht werden, da bin ich mit ihm einer Meinung. Aber es gibt auch wunderbare, kleine, in die Nachbarschaft, in die Pfarrgemeinde integrierte Angebote, die kostbar und wichtig, die eine Hilfe sind für alle. Und so ähnlich ist es auch mit den helfenden Berufen. Er hat recht, es ist furchtbar, daß überall Geld verdient wird und überall spekuliert wird. Sogar Immobilienhändler stürzen sich auf diesen Markt und machen da ihre Geschäfte. Er hat ja recht, und seinen Zorn verstehe ich.

SB: Dörner ist so weit gegangen zu sagen, daß die psychischen Krankheiten erst durch den Berufsstand entstehen und nicht umgekehrt.

HS: Ja, ja, ja! Ich habe viel von ihm gelesen und ich rege mich auch an durch ihn. Er ist für mich ganz wichtig, gerade auch, weil er provoziert, und ich will das auch nicht einfach wegdrängen. Trotzdem denke ich, ganz aus dem Markt nehmen können wir das nicht, weil die ganze Gesellschaft eine Marktgesellschaft ist und wir können nicht rausspringen aus den Gesetzen der Marktwirtschaft. Wir müssen sie vor Spekulanten schützen, wir müssen sie vor Ausbeutung schützen. Wir müssen die Pharmazie scharf unter Kontrolle bringen, daß die da nicht einen Unsinn nach dem anderen für Phantasiepreise verteilen, ja. Ich habe mir gemerkt von Pharmakritikern, daß es nur einen Bruchteil der pharmazeutischen Angebote wirklich braucht. Die große Mehrheit ist einfach nur Geschäftemacherei. Da muß man gegenhalten, mit den Ärzten, mit den aufgeklärten Pharmazeuten. Aber ich will die nicht alle abschaffen, ich will schon gar nicht die Ärzte abschaffen, ich will nicht die Pharmazeuten abschaffen. Aber ich möchte schon gerne mit Klaus zusammen kritisch gegen diese Exzesse, die die Marktwirtschaft und die der Kapitalismus gerade auch im Gesundheitswesen hat, kämpfen, solange das geht.

Henning Scherf beim Interview - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

Bei den Demonstrationen in den letzten Monaten, wo Krankenschwestern und Altenpflegerinnen zusammen auf die Straße gegangen sind, da bin ich mitgelaufen. Da teile ich seine Kritik und mache mit, wo ich kann, und gehe zu jeder Gewerkschaftsveranstaltung, wenn die mich einladen. Ich bin da wie Klaus für viele kommerzielle Betreiber inzwischen ein rotes Tuch, die wollen mit mir nichts zu tun haben. Aber das stört mich nicht, im Gegenteil, das bestätigt mir, daß ich da eine klare Linie fahre, mit ihm zusammen.

SB: Ich würde gerne noch einen Schritt weitergehen. Im Rahmen des Workshops "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus", der im Februar 2014 in der evangelischen Stiftung Alsterdorf und in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme stattfand, wurde in erschreckender Weise daran erinnert, daß gezieltes Verhungernlassen psychisch kranker oder dementer Menschen keineswegs eine Erfindung des Nationalsozialismus war und auch keineswegs mit ihm endete. Immer wieder werden Fälle bekannt, wo Menschen in Pflegeheimen chronisch unterversorgt sind und auch daran sterben. 2006 mußte sich die Bundesregierung in Genf erneut wegen Menschenrechtsverletzung in Pflegeheimen verantworten. Haben wir es hier mit einer Kontinuität des Schreckens zu tun?

HS: Ich habe der APO vorgeworfen, daß sie den damaligen Staat mit der SS verglichen hat, weil ich sagte, die wissen nicht, was die SS wirklich gemacht hat. Sie verharmlosen das Terrorregime der SS. Und das gleiche würde ich auch dazu sagen. Die Euthanasiemorde der Nazis und das systematische Ausrotten, das industriell betriebene Ermorden von Hunderttausenden hatte eine völlig andere Qualität. Darum würde ich ungern einfach sagen, alles, was an Unrecht passiert an Pflegebefohlenen, ist Euthanasie. Das gefällt mir nicht, daß da mit einer völlig unvergleichbaren Keule auf Mißstände gehauen wird, die man dringend abstellen muß. Darum verwende ich nicht unter allen Umständen das Wort Euthanasie, wenn ich Menschenrechtsverletzungen entdecke. Claus Fussek, dieser Sozialarbeiter in München, schreibt ja auch darüber, der sammelt systematisch solche Verletzungen, und ich habe ganz viele Fälle bei dem erfahren, wo wirklich katastrophale, unglaubliche Bedingungen herrschen, wo man natürlich die Kripo, natürlich den Staatsanwalt drauf hetzen muß und natürlich den Laden dichtmachen muß, das stimmt. Das ist die Menschenrechtsarbeit, die wir in diesem Lande dringend brauchen, gerade, was Pflegebedürftige angeht, gerade, was Hilflose angeht. Es ist wahrscheinlich die gesellschaftliche Gruppe, die am meisten von allen gefährdet ist, die am wenigsten geschützt ist vor Menschenrechtsverletzungen. Da müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln gegen angehen. - Aber das mit den Nazis zu vergleichen, das lähmt auch die Kraft, wirklich im Rahmen unseres Rechtsstaates Menschenrechtsstrategien zu entwickeln.

SB: Ich glaube, die Argumentation war eine andere. Worauf hingewiesen wurde, war, daß der Geist, aus dem das kommt, die Unterscheidung zwischen dem, was "lebenswert" und dem, was "lebensunwert" ist, kein genuin nationalsozialistischer war, sondern daß es diese Denkrichtung schon vorher gegeben hat, daß die Nationalsozialisten eher etwas aufgegriffen haben und daß es nach '45 nicht zu Ende war damit. Und ich glaube, die APO hat nicht gesagt, das ist "SS", das ist "Nationalsozialismus", sondern hat aufdecken wollen - so erinnere ich das aus meiner Zeit - daß der Anteil von ehemaligen NS-Verantwortlichen in der Bundesrepublik, in Wirtschaft, Verwaltung und auch in der Justiz, ungeheuer hoch gewesen ist. Sie müßten das wissen.

HS: Da habe ich ja mit eine Aufstellung gemacht beim SDS, da war ich ja selber organisiert, und habe Terrorurteile und so etwas nominiert. Das finde ich richtig. Ich meine nur, die Gleichsetzung - nicht bei allen, aber bei einigen -, die jedes Polizeiauftreten und jeden Polizeieinsatz zu einem SS-Einsatz deklariert hat, die habe ich damals für völlig desorientierend gehalten. Die verwechseln das Mord-Regime der Nazis mit einem zu kritisierenden Polizeieinsatz, gegen den man argumentieren kann, wo man auch vors Verwaltungsgericht gehen und sagen muß: "Das geht nicht, das ist nicht korrekt". Ich möchte gerne die nicht bestrittenen, auch von mir gesehenen Menschenrechtsverletzungen mit unserem rechtsstaatlichen Instrumentarium angehen und sie nicht instrumentalisieren und sagen: Das ganze gehört abgeräumt.

Natürlich hatten die Nazis Vorläufer, beim Antisemitismus genauso: Luther war ein Antisemit. Fichte war ein Antisemit. Das ganze 19. Jahrhundert ist voll davon. Und genauso - da haben Sie recht - haben die Nazis auch Vorläufer gehabt, die von menschenunwürdigem Leben geredet haben und die dann mitverantwortlich dafür geworden sind, daß die Nazis daraus ein Mordinstrument gemacht haben.

SB: Ich glaube, man wird dem Problem und auch seiner Bearbeitung gerechter, wenn man nicht versucht, bestimmte Greueltaten einer bestimmten Epoche zuzuordnen und sie darin einzukapseln und zu sagen: Das war mal zwischen `33 und `45 und wir sind fertig damit, das kommt nicht wieder. Sondern ich glaube, daß man in dem Moment, wo man sich mit der Kontinuität konfrontiert - was unangenehm ist -, dem Problem auf die Spur kommt. Von daher ist die Erinnerung an dieses Vorher und an das Nachher unbedingt wichtig, um sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen.

HS: Das kann ich alles unterschreiben.

Sonnenbeschienene alte Bäume auf einer Wiese - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ganz schön alt und mittendrin - Baumbestand im Bremer Bürgerpark
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: 1973 kam in den USA ein Kinofilm heraus, ... Jahr 2022 ... die überleben wollen, so der deutsche Titel, der bereits die Probleme von exzessiver Nutzung endlicher Ressourcen, Umweltverschmutzung und Überbevölkerung in einer Zukunftsvision thematisierte. Darin werden vorzugsweise alte oder kranke Menschen zu Nahrung, dem sogenannten Soylent Green, verarbeitet. Man kann sich, zum Nutzen der Allgemeinheit, freiwillig melden und bekommt dann ein Sterberitual seiner Wahl, z.B. den filmischen Blick auf eine Welt, in der es noch Bäume, Blumen und wogende Weizenfelder gab. Haben wir angesichts der Diskussion um Transplantationsmöglichkeiten, die Unfallopfer, Schwerstkranke und -behinderte zur Ausschlachtung am lebendigen Körper freigibt, die Grenze von der Fiktion zur Realität nicht längst überschritten?

HS: Ich kenne den Film nicht, darum kann ich darüber schlecht reden. Natürlich gibt es ein Problem bei der Transplantationsmedizin, obwohl ich - ich habe auch so einen Paß -, wenn ich tödlich verunglücke, damit einverstanden bin, daß meine Organe, wenn die dann überhaupt noch interessant sind, genommen werden können. Ich kenne Leute, die durch Transplantation am Leben geblieben sind und ich finde, darüber einfach wegzugehen und zu sagen, daß ist jetzt das Vernutzen von Leben, davor würde ich warnen. Ich finde entsetzlich, daß z.B. in China hingerichtet wird nach dem Markt für Ersatzorgane. Dort werden mehr Todesurteile vollstreckt als in der ganzen Welt zusammen. Ich habe mir von Amnesty International Unterlagen besorgt, daß die ihre Hinrichtungen nach dem Bedarf der Transplantations- und Implantationsmedizin ausrichten und dann liefern.

SB: Aber ist es nicht logisch, wenn man die gesamte Gesellschaft den Gesetzen des Marktes unterwirft, daß dann so etwas dabei herauskommen kann?

HS: Logisch finde ich das nicht, ich finde es immer noch kriminell. Ich bin nicht gegen Transplantationsmedizin, sondern wünsche mir, daß das auch in Zukunft möglich ist, daß tödlich Unfallverletzte oder anderswie Gestorbene bereit sind, ihre Organe zur Verfügung zu stellen. Das finde ich nach wie vor eine Hilfe, die einem anderen das Leben möglich macht. Das ist ja eigentlich auch eine schöne Vorstellung: Ich sterbe und mit einem Teil meines Körpers helfe ich einem anderen, am Leben zu bleiben. Das kann ich in meinem Kopf integrieren, aber das geschäftsmäßige, das kommerzielle Umbringen - wie das in China offenbar passiert, oder wie ich aus Ländern wie Bangladesch weiß, daß Leute ihre Nieren verkaufen, weil sie kein Geld haben, das finde ich alles unerträglich. Das sind dramatische Menschenrechtsverletzungen. Die darf man nicht tabuisieren. Da muß man seine ganze Kraft einsetzen, um das zu beenden. Sie haben recht, das kommt daher, daß da so eine Marktnachfrage entsteht. Die ganze Transplantationsmedizin leidet ja im Augenblick darunter, daß das aufgedeckt wird. In den letzten Jahren sind richtig große Geschäftemachereien sichtbar und zum Thema geworden. Und dagegen anzugehen und das zu unterbinden, das finde ich voll richtig. Aber ich würde doch nicht so weit gehen, den Gedanken der Transplantationsmedizin abschaffen zu wollen, weil ich eben Leute kenne, die leben nur noch, weil sie das Glück hatten, daß sie eine Ersatz-Niere bekommen haben. Mein Freund Frank Steinmeier, der hat seine Frau dadurch am Leben erhalten, daß er eine Niere abgegeben hat. Auch in unserer Verwandtschaft ist das passiert, da hat die Schwester dem Bruder geholfen und hat ihm eine Niere gegeben und der kann jetzt weiterleben. Das finde ich wunderbar, wenn das gelingt. Das erfüllt mich richtig. Und da werde ich den Teufel tun zu sagen, das darf nicht sein. Man muß da unterscheiden. Man muß bei der Transplantationsmedizin das, was hochdringend wünschenswert ist, schützen und diese kommerziellen Mißbräuche mit allen erreichbaren Möglichkeiten bekämpfen.

Henning Scherf - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Kommen wir zu einem weiteren, nicht weniger schwerwiegenden Thema. Die neuerdings vermehrt diskutierte Maxime, nach der jeder das Recht haben soll, seinen Tod selbst zu bestimmen, rückt die Tötung lebensunwerten Leben - aus fremder, aber auch aus eigener Sicht - erneut in die Diskussion. Man kann Menschen auch dazu bringen, sterben zu wollen, wenn man ihre Daseinsbedingungen so verschlechtert, ihnen beispielsweise nicht genügend Schmerzmittel gibt, weil zu teuer, oder keine ausreichende Pflege oder nicht genug zu essen. Verschiedene Länder Europas sind dabei, neue gesetzliche Regelungen zu diskutieren oder haben solche schon verabschiedet. Sehen Sie darin eine Gefahr?

HS: Ich habe ganz große Mühe mit diesem Thema. Ich persönlich möchte gerne bis zu meinem Tod alles erleben, was noch aussteht, ohne daß da einer reinwirkt. Ich möchte niemanden über meinen Tod entscheiden lassen, ich möchte das gerne alles wissen. Ich bin richtig gespannt darauf. Aber ich kenne eben auch ganz verzweifelte Leute, die das nicht mehr aushalten. Ich habe jetzt das Buch von Wolfgang Herrndorf gelesen, Arbeit und Struktur. Das ist ein junger Schriftsteller in Berlin - jünger als meine Kinder -, der einen dramatischen Hirntumor hatte, dreimal operiert und mit Chemos und Bestrahlung behandelt wurde, der über diese Zeit Tagebuch geführt hat. Unter dieser Todesdrohung schreibt er zwei große Bücher, Tschick und Sand, und zum ersten Mal in seinem Leben hat er wirklich Erfolg. Im Angesicht seines Todes ist er so schreibstark, daß er mehr zustande bringt als je zuvor. Das ist das eine, was mich unheimlich berührt hat. Und das zweite: Er erträgt sein Leiden dadurch, daß er alles aufschreibt und diese Arbeit macht. Aber er besorgt sich auch eine Pistole. Er beschließt, wenn ich gar nichts mehr kann, will ich mich erschießen. Und das tut er auch. Ich habe ganz große Probleme zu sagen, das hättest du nicht machen dürfen. Wenn Sie das Buch lesen, dann merken Sie, daß er sich ununterbrochen damit auseinandersetzt und daß er wirklich jede Möglichkeit seines Lebens noch nutzen will. Er lebt alleine, aber er ist angewiesen auf seine Freunde und die stehen zu ihm, auch in unmöglichen Situationen. Er hat ganz viel Hilfe, nutzt sie auch, aber am Ende hilft gar nichts mehr. Und dieses letzte Stück Freiheit, was er sich da rausnimmt, das kann ich ihm nicht einfach vorwerfen angesichts einer solchen Biographie und einer solchen ergreifenden Leistung.

Warum erzähle ich Ihnen das: Ich versuche gerade, mit Annelie Keil ein Buch zu schreiben darüber, was geht und was geht nicht und was darf nicht sein. Wir sind uns beide einig, kommerzielle Sterbehilfe ist ganz unmöglich, aber palliativmedizinisch jemanden zu begleiten und ihm die Schrecken und die Schmerzen des Sterbens zu nehmen, finde ich wunderbar. Im vorletzten Spiegel ist eine Geschichte abgedruckt worden aus einem Landgericht irgendwo in Bayern. Da hat man eine Witwe und den verwandten Arzt, der Palliativmediziner ist, wegen Totschlags angeklagt, weil sie dem Ehemann, der im Krankenhaus war, der auch Arzt war und der dramatische Sterbe-Atemprobleme kriegte, die Morphiumdosis hochgestellt haben. Sie fanden niemanden, der ihm half, es war Wochenende, kein Arzt war da, die Schwestern sind weggelaufen. Es ist bis zuletzt offen gewesen, ob er daran gestorben ist oder nicht. Die Staatsanwaltschaft hat Anklage erhoben, neun Gutachter zählt der Spiegel. Irgend so ein Gerichtsmediziner aus Hamburg hat gesagt, das ist strafbar - alle anderen haben gesagt, wenn die das bestrafen, ist die Palliativmedizin am Ende, dann ist sie kriminalisiert. Was die gemacht haben, ist eine große menschliche Hilfe, eine Lebenshilfe gewesen. Die brauchen wir dringend. Verstehen Sie, was ich sagen will? Es gibt Situationen, in denen ich hoffe, daß es bitte, bitte Palliativmediziner gibt, die mit Demut und mit Barmherzigkeit auch mich selber begleiten, wenn ich soweit bin.

Schaukasten mit Modell einer Hansekogge im Treppenhaus des Bremer Rathauses unter einer Uhr - Foto: © 2014 by Schattenblick

Alles hat seine Zeit - Hansekogge im Bremer Rathaus
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Dann wäre aber die Maxime nicht 'sterben oder nicht sterben', sondern daß der Mensch keine Schmerzen haben soll. Das ist etwas ganz anderes und dann kann es natürlich sein, daß eine erhöhte Morphiumdosis dafür sorgt ...

HS: ... daß sie zum Tod führt. Das ist eine ganz komplizierte Lage, da muß man sehr, sehr vorsichtig und behutsam sein. Das ist überhaupt keine Sache für die Strafjustiz. Was hat die da zu tun? Wenn der Doktor wirklich in seiner Verantwortung und vielleicht noch mit Patientenverfügung darum gebeten wird und die Angehörigen betteln ihn an und der übernimmt Verantwortung und sagt: Ich werd' dafür sorgen, daß er einen gnädigen Tod bekommt! - das wünsche ich mir. Und ich wünsche mir, daß das bei uns in Deutschland auch in Zukunft nicht kriminalisiert, sondern geschützt wird. Im Spiegel gibt es Leserbriefe auf diese Geschichte. Die Leute sind entsetzt über diese Staatsanwaltschaft, die sagen: Was sind das für verrückte Leute? Die schubsen die in ein Unglück, die sowieso im Unglück sitzen, und dann hauen die noch drauf.

Das möchte ich gerne schützen vor dieser Riesenthematik: Was ist Sterbehilfe? Was ist zulässig? Was ist nicht zulässig? Klaus Dörner ist da übrigens auch ein ganz radikaler Argumentierer. Der hat immer ganz eindeutig Partei ergriffen und gemeint, es gibt kein Recht darauf, in ein Leben einzugreifen, wir sind hier nicht an Schöpfers statt unterwegs. Wir haben nicht zu entscheiden, ob das noch richtig ist oder nicht. Ich fand das klar und eindeutig, was er da gesagt hat. Und trotzdem möchte ich gerne Palliativmedizin nicht nur möglich, sondern wirklich erreichbar machen für jeden, der das braucht. Das wünsche ich mir von Herzen. Eine komplizierte Antwort, kein Ja und kein Nein, kein gerecht und nicht gerecht, sondern ich versuche mitzudenken, so gut ich kann.

(wird fortgesetzt)


Fußnote:


[1] Das Gespräch mit Prof. Dr. Klaus Dörner in drei Teilen im Schattenblick unter

INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT
INTERVIEW/005/006/007: Irren ist menschlich

2. Juni 2014