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INTERVIEW/045: Alte Tugend, neuer Schwung - jetzt erst recht ..., Dr. Henning Scherf im Gespräch, Teil 2 (SB)


Da geht noch was

Interview mit Dr. Henning Scherf am 20. Mai 2014 im Bremer Rathaus - Teil 2



Im ersten Teil des Gespräches lag der Schwerpunkt auf dem Lebensthema von Henning Scherf: Anders Altwerden - wie man auch im Alter in der Mitte der Gesellschaft bleiben kann und was geschehen muß und bereits geschieht, um ein menschenwürdiges Leben für alle zu ermöglichen. Im zweiten und letzten Teil geht es um gelebte Solidarität, fragwürdige Vertröstungen, nationales und internationales zivilgesellschaftliches Engagement, das Leben in einer Alterswohngemeinschaft und ums Bücherschreiben.

Schattenblick (SB): Sie berichten in Ihren Büchern von Erfahrungen gelebter Solidarität auch unter schwierigsten Bedingungen und davon, daß in Ihrer eigenen Lebensgeschichte daraus Netzwerke und lebenslange Freundschaften entstanden sind und das weltweit. Ist die eigene Erfahrung von Solidarität notwendig, um selber solidarisch sein zu können? Anders gefragt: Muß man sich angesichts einer neuen sogenannten Generation EGO, die in einer weitgehend ökonomistischen und Vereinzelung fördernden Wirklichkeit auf einen lückenlosen Lebenslauf, auf Konkurrenz und permanente Höchstleistung getrimmt ist, Sorgen machen über deren Möglichkeit und Chance, Empathie zu entwickeln?

Henning Scherf beim Interview in der Bibliothek des Bremer Rathauses - Foto: © 2014 by Schattenblick

Henning Scherf
Foto: © 2014 by Schattenblick

Henning Scherf (HS): Es ist eine große Hilfe, wenn man Solidarität erlebt und gemerkt hat, was das für ein Segen ist. Und es ist, glaube ich, dann leichter, es selber weiterzugeben. Aber es ist nicht die Conditio sine qua non. Es gibt auch Leute, die selber nur Schreckliches erlebt haben. Meine Großmutter war so eine. Die hat Unglück in Serie erlebt und trotzdem ihre ganze Person, ihre ganze Kraft ihren Enkelkindern zugewandt. So kenne ich auch andere, die ganz große Katastrophen erlebt haben und dann trotzdem die Kraft gehabt haben, anderen zu helfen. Unsere Individualisierung, das "Geiz ist geil" oder "Mach Dein Ding" oder "Nimm keine Rücksicht" - das ist eine Sackgasse. Die Leute, die darauf abfahren, reduzieren ihre Lebensmöglichkeiten auf dramatische Weise und wenn sie dann plötzlich selber in Not kommen, wissen sie überhaupt nicht, was sie machen sollen, weil sie das ein Leben lang immer wegagitiert haben.

Ich habe das Glück, mich zwischen Leuten zu bewegen, auch jungen Leuten, die das genau andersherum machen. Auch meine Enkelkinder - es sind neun, die wir nun glücklicherweise haben - wachsen völlig anders auf. Die sind sowas von voller Empathie und machen das auch. Die beiden Zwillinge besuchen mindestens einmal in der Woche eine alleinlebende, blinde Frau, die niemanden hat, nur diese jungen Mädchen, Kinder noch. Da merke ich richtig, wie die sich entwickeln.

Manchmal lese ich in den Zeitungen von Überfällen auf unschuldige Leute in U-Bahnen, ohne irgendeinen Grund, nur weil die ein Opfer suchen. Das kenne ich aus Erzählungen und aus Berichten, daß es sowas gibt. Ich finde es entsetzlich, daß Gewaltanwendung, auch in den Medien, nicht tabuisiert wird, sondern daß sie immer wieder präsentiert wird und Kinder, die keine Orientierungshilfen haben, das dann für bare Münze nehmen. Das finde ich eine dramatische Verrohung unserer Gesellschaft, und dagegen anzugehen, das ist eine Riesenaufgabe. Wenn Julia Tymoschenko sagt - das ist offenbar vom russischen Geheimdienst abgehört worden -: "Ich würde am liebsten 'ne Kalaschnikow nehmen und diesem Dreckskerl von Putin eine Kugel durch den Kopf jagen." - das sagt die Frau, die Präsidentin werden will, die selber ein Opfer ist und als Opfer geachtet werden will -, ist das, wie wenn der Teufel unterwegs ist, finsterer kann man gar nicht denken. Da sehe ich, daß wir in großer Gefahr sind und daß das nicht an unserer Gesellschaft vorbeigeht, daß man sich darauf einrichten und Vorsorge treffen muß und aufeinander achtgeben. Meine Antwort darauf ist immer: Wir müssen den Rechtsstaat nicht nur programmieren, sondern auch wirklich leben, nicht nur den Offiziellen überlassen, sondern ihn uns auch aneignen im Umgang mit uns selber und gegenüber anderen. Und meine zweite Antwort ist: Wir müssen zusammenhalten. Wir müssen uns dieser Gefahr nicht einzeln ausliefern. Ich kann mich nicht immer wehren, ich kann nicht immer weglaufen, aber ich kann mich mit Freunden umgeben, an Orten aufhalten, wo ich weiß, hier bist du geschätzt, hier wirst du geachtet, hier wirst du umsichtig begleitet, hier passiert dir das nicht. So wünsche ich mir, daß man damit umgehen kann, ohne es zu verharmlosen.

SB: Sie haben vor einigen Jahren in einem Interview mit dem Deutschlandfunk gesagt: "Ich will ein Beispiel setzen, daß man, bitte sehr, ohne Gewalt und auch ohne militärische Gewalt in dieser Welt leben und über die Runden kommen kann." Gilt dieser Satz heute noch?

HS: Ich bin ja Kriegsdienstverweigerer und bin so auch aufgewachsen. Mein Vater hat in der Nazi-Zeit den Dienst mit der Waffe abgelehnt und hat das auch durchgehalten. Mein Pastor war Barth-Schüler und der war strikter Pazifist. Dann haben meine Brüder und ich auch den Kriegsdienst verweigert und haben überlegt, Alternativen zum Militärdienst zu entwickeln. Damals gab es noch keinen Zivildienst, wir waren sozusagen die erste Generation, der erste Jahrgang. Wir haben dann Work Camps gemacht, weltweit, mit Quäkern und Brethren, also Brüdergemeinden aus den USA, mit Mennoniten und Pax Christi-Leuten und ganz viel auch im Ostblock. Da habe ich mich sozialisiert und ich halte das bis heute durch, was nicht ganz einfach ist.

Wenn ich, als ich hier Regierungschef war, mit Militärs geredet habe, habe ich immer gesagt, ich bin Kriegsdienstverweigerer. Die guckten mich groß an und dann habe ich versucht, ihnen das zu erklären, wie ich dazu stehe und daß das nicht nur die Wahrnehmung eines verfassungsrechtlich geschützten Grundrechtes, sondern auch der engagierte Versuch ist, Beispiele in die Welt zu setzen, daß wir ohne Gewalt miteinander klarkommen. Das halte ich durch - mit großer Argumentationsmühe.

Blick auf die alte Gaststätte 'Kaiser Friedrich' im Schnoorviertel, einst Stammkneipe einiger Bremer Bürgermeister - Foto: © 2014 by Schattenblick

Mythos Kaiser Friedrich III. - Hätte er den 1. Weltkrieg verhindert?
Foto: © 2014 by Schattenblick

Ich habe mich so gefreut, als am Ende der Wehrpflicht die Mehrheit der Abiturienten bei uns den Kriegsdienst verweigerte. Da kriegte die Bundeswehr kaum mehr Abiturienten zur Bundeswehr, weil die sagten, das machen wir nicht. Da dachte ich, guck' mal an, du bist jetzt doch nicht mehr die kleine radikale Minderheit, sondern das hat sich herumgesprochen. Dann wurde der Zivildienst länger als der Militärdienst, und sie haben es trotzdem gemacht, haben längere Zivildienstzeiten in Kauf genommen, mußten richtig arbeiten, Schichtdienst machen, und haben gesagt, das wollen wir durchhalten. Das hat mir große Hoffnung gemacht. Da dachte ich, in Deutschland geht nach diesem schrecklichen Nazi-Morden in den Köpfen langsam doch etwas. Und als Schröder dann sogar die Wahlen gewonnen hat, als er gegen den Irakkrieg war - das war das einzige Mal, daß ich mit ihm richtig einer Meinung war, sonst bin ich eigentlich immer mit ihm überkreuz gewesen, bis heute - da fand ich ihn gut, weil er gemerkt hat, dieser Krieg kann zu nichts Gutem führen. Und er hat dann die Mehrheit dafür gekriegt. Da habe ich auch gedacht, daß wir doch eine große Zahl von Menschen haben bei uns in der Gesellschaft, die sagt, das darf nicht immer wieder von neuem losgehen, daß die Leute zu Waffen greifen und sich gegenseitig bedrohen oder umbringen, sondern wir müssen andere Wege finden - in Europa allemal. Wir rüsten nicht mehr gegeneinander auf, sondern haben uns inzwischen untereinander als Nachbarn erkannt, die, selbst wenn sie unterschiedliche ökonomische Bedingungen haben, jedenfalls nicht mit Waffengewalt aufeinander losgehen. In Europa hat sich da etwas für die übrige Weltgesellschaft Beispielhaftes entwickelt, daß das gehen kann, daß man aus solchen Weltkatastrophen wie diesen beiden Weltkriegen, nach diesen vielen Millionen Toten, wirklich den richtigen Schluß ziehen kann: Das jedenfalls geht mit uns nicht, nie mehr.

SB: Leider ist die Nicht-Beteiligung am Irak-Krieg ja eine rühmliche Ausnahme geblieben ...

HS: Aber immerhin ist das schon ein Zeichen dafür, daß diese Kriegsbereitschaft bei uns im Volke eine Minderheitsbereitschaft ist. Die große Mehrheit will das nicht. Die wollen, daß wir friedliche Mittel nutzen, um großen Gefahren entgegenzugehen. Die wollen verhandeln. Die wollen aufbauen.

SB: Das gilt wahrscheinlich für jedes Volk. Würde man die Zivilisten fragen, dann würden wohl die weitaus meisten sagen: Ich will in Frieden leben.

HS: Hoffe ich, hoffe ich.

SB: Bleiben wir bei den Hoffnungen und Träumen. Sie schreiben in Gemeinsam statt Einsam, Sie wollten sich kein sozialistisches Paradies zurechtträumen. Warum eigentlich nicht? Der Marxsche Satz aus seiner Kritik am Gothaer Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" paßt doch ganz wunderbar zu Ihren Vorhaben. Ist das Bestehen auf Gleichheit in diesem Sinne nicht umsetzbar oder nicht gewollt?

HS: Oh, das ist eine spannende Frage. Ich glaube, daß Marx mit seiner klassenlosen Gesellschaft eine Ersatzreligion versucht hat. Jedenfalls hat das mit seiner Politökonomie so gut wie gar nichts mehr zu tun. Er versucht Hoffnungen und Aussichten zu setzen als Trost für das viele Elend, was er sieht und worin die Leute sich befinden. Ich bin ja sehr christlich aufgewachsen und auch so erzogen worden, aber je älter ich werde, umso fragwürdiger ist mir dieser Trost, weil er eigentlich ablenkt von dem, was wir bewirken können. Ich vertröste Leute auf eine Zeit, die sowieso nicht kommt, über die ich auch gar nichts aussagen kann, weil das alles nur Phantasie und Spekulation ist, so wie das Leben nach dem Tode bei den Christen Phantasie und Spekulation ist. Das Paradies ist rein spekulativ, das hat kein Mensch erlebt und kein Mensch kann dafür Belege erbringen. Es soll den Leuten Trost spenden, wenn sie es in ihrem Alltag, mit ihrem Schicksal nicht mehr aushalten. Ich möchte gerne die Leute konzentrieren auf das, was sie jetzt leben, was sie jetzt erfahren und sie nicht ablenken und sagen, es ist sowieso alles sinnlos, sich hier zu wehren, irgendwann, ob ihr's erlebt, weiß ich nicht genau, aber irgendwann bricht das große Reich der Freiheit und der Selbstbestimmung aus. Ich möchte die Leute nicht auf den Leim führen, sage ich mal polemisch, und ihre verbliebenen Kräfte gering schätzen, die dringend notwendig sind, um das Jetzt hier und heute zu verändern und anzugehen. Ich bin an einem Leben vor dem Tode interessiert.

Henning Scherf mit entschlossenem Gesichtsausdruck - Foto: © 2014 by Schattenblick

'Ich bin an einem Leben vor dem Tode interessiert.'
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Aber man muß die klassenlose Gesellschaft nicht unbedingt als einen Trost oder als eine Vision begreifen und warten, bis sie irgendwann vom Himmel fällt, sondern man kann diesen Satz "Jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten" auch als Handlungsmaxime verstehen, man kann aktiv werden - vielleicht ganz in Ihrem Sinne - und sagen, ich setze alles das, was ich habe, für die Machbarkeit einer Gesellschaft ein, die gerechter ist als die jetzige.

HS: Mir gefällt der Satz auch, der ist ja weltberühmt, den schätze ich sehr. Trotzdem, wenn ich mir klar mache, was mit solchen kommunistischen Zukunftshoffnungen und dem Bild des neuen Menschen, den die Revolution produziert, an Mord und Totschlag gerechtfertigt worden ist, denke ich, das ist eine gefährliche Perspektive.

SB: Das trifft für das Christentum sicherlich genauso zu.

HS: Genau, darum habe ich das ja auch zusammen genannt. Das hat viele Parallelen, das sehe ich auch so. Es gibt auch bei den Muslimen welche, die die absurdesten und gefährlichsten Reden halten, religiös gerechtfertigt durch 'Ihr werdet euch ins Himmelreich, ins Paradies bomben'. Da denke ich immer, was sind da für Leute am Werk, die den Menschen ihre realen Interessen relativieren, indem sie ihnen eine unerreichbare Zukunft an die Wand malen, die sie dann verfügbar macht. Ich bin mehr dafür, daß man mit Nüchternheit und Aufklärung die Grenzen unseres Lebens, auch die Endlichkeit unseres Lebens als Maßstab unseres Handelns und unseres Nachdenkens nimmt und dann die - zugegeben - nicht so spektakulären Handlungschancen nutzt und schrittweise versucht, sich darauszuwühlen, sich zu verbünden, natürlich sich genau umzugucken, mit wem muß ich mich zusammentun, damit ich überhaupt was bewirken kann. Das finde ich sehr viel humaner, sehr viel menschennäher, als dieses Vertrösten auf eine Sache, die ich sowieso nicht belegen kann.

SB: Trotz der sich verschärfenden gesellschaftlichen Verhältnisse, die weltweit ja immer mehr Menschen in prekäre Lebensverhältnisse zwingt, während wenige sich auf unvorstellbare Weise bereichern, ist Ihre Sicht auf die Welt und die Machbarkeit von Veränderungen sehr positiv. Das klingt in allen Ihren Büchern durch. Entspringt das einem tiefen Glauben an das Gute im Menschen oder ist es eher eine Kampfansage?

HS: Glauben an das Gute des Menschen, ja. Ich weiß aber auch, daß es im Menschen angelegt ist, daß er gütig sein kann, das ist nicht nur Glauben. Ich kenne so viele Beispiele und bin selber Nutznießer solcher Zuwendungen, daß ich das für einen großen Fundus halte. Wir sind eben unterschieden von der Tierwelt dadurch, daß wir mit Empathie auf den anderen zugehen können, daß wir gemeinsam kommunizieren können, daß wir einander helfen können, daß wir uns über den anderen definieren - all diese Geschichten sind mir ganz wichtig und ganz zentral. Ob das aber Glaube ist - ich würde lieber sagen: Überzeugung. Und Kampfansage, nein. Ich bin auch nicht der Meinung, daß wir im freien Fall abstürzen, sondern ich beobachte, daß dieser zugegeben zu langsam laufende Prozeß einer schrittweisen Zivilisierung unserer brutalen Welt doch erstaunlich gelingt.

Wenn ich mir das klarmache, was in Europa seit '45 passiert ist, bin ich voller Optimismus, aber selbst in Lateinamerika, wo ich ganz oft gewesen bin und mitgelitten habe mit meinen chilenischen Freunden, mit meinen nicaraguanischen Freunden, wo ich viele, viele Leute kenne, die ihr Leben riskiert und auch verloren haben, da hat sich auch was verändert. Wenn Sie heute nach Chile fahren, das ist nicht mehr Pinochets Chile, den haben sie geschafft. Das ist jetzt wirklich eine für Lateinamerika vorbildliche Demokratie. Voller Mängel noch, aber eine stabile Demokratie. Da gibt es Chancen auch für Minderheiten, die gehen miteinander. Wir haben zwei-, dreimal einen Regierungswechsel gehabt zwischen den unterschiedlichen Parteien, ohne Gewalt, ohne Militär, da hat sich was entwickelt.

Scherf engagiert im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Keine Scheu vor schwierigen Fragen
Foto: © 2014 by Schattenblick

Ich beobachte das selbst in Afrika. Ich habe gegen die Apartheid gekämpft wie ein Verrückter, habe Demos gemacht, auf Kirchentagen dafür gekämpft, daß wir den ANC unterstützen, obwohl der militant war. Ich, Pazifist, Kriegsdienstverweigerer, unterstützte den kämpfenden ANC! Und ich beobachte, daß sich in Afrika schrittweise, alles noch gefährdet, aber schrittweise was entwickelt und entwickeln kann. Botswana ist so ein Land, wo ich denke, kein Mensch hat das geglaubt, daß sich da friedliche, auch zivilgesellschaftliche Lösungen ergeben. Vietnam, 50 Jahre Krieg, 50 Jahre! Es waren ja nicht nur die Amerikaner da, sondern vorher die Franzosen. Was sind da für Menschen ungerechtfertigt, unschuldig ermordet worden. Und jetzt? Die sind fleißig, die arbeiten, die möbeln das Land auf, sind jetzt sogar eine ökonomische Gefahr für die Chinesen, weil sie so tüchtig sind. Denk' ich auch wieder, guck an, guck an. Ich war in Myanmar, Burma hieß das ja früher noch, als die Militärs da regierten. Da hatten Leute aus der Zivilgesellschaft meine Frau und mich eingeladen. Wenige Wochen vorher waren 120 Mönche vom Militär erschossen worden, wir haben sozusagen mit den überlebenden Opfern zu tun gehabt. Jetzt beobachte ich auch da, in diesem geschundenen Land, verändert es sich, da gibt's eine Entwicklung.

In China - wir sind ja Partnerstadt von Dalian - bin ich einmal gewesen. Alle Leute hier haben mich beraten, welche Entwicklungsprojekte ich denen sagen sollte. Aber ich glaube, die waren viel weiter als wir. Die haben gesagt, wir können euch empfehlen, was ihr bei euch in Bremen alles machen müßt. Die waren schneller. Die haben ihre Leute schrittweise real, materiell aus einer großen Elendsszene herausgeholt. Ganz China ist noch nicht wirtschaftlich saniert, sondern nur die Küste, das weiß ich alles, aber was da passiert ist nach der Kulturrevolution - man schätzt zehn Millionen Tote nach diesem Morden und Totschlagen -, wie die sich wieder bekrabbeln und wie die Studenten jetzt alle hierherkommen und lernen. Die größte Zahl ausländischer Studenten in Deutschland sind die Rotchinesen, mit Abstand. Allein an der Bremer Uni haben wir 3000 Chinesen als Studenten, übrigens superkluge Leute. Und die sind natürlich dann auch Träger von zivilgesellschaftlichen Ideen, die lernen ja hier eine andere Gesellschaft kennen und vergessen das ja nicht, wenn sie wieder zurückgehen. Und da hoffe ich, daß wir es wirklich schrittweise schaffen, diese Katastrophengeschichte unter Kontrolle zu kriegen und zu beenden.

Viele Bevölkerungswissenschaftler sagen, wir hätten mit sieben Milliarden die Spitze erreicht und es wäre über Geburtenkontrolle und auch über das faktische Geburtenkontrollverhalten der Leute inzwischen nicht mehr mit einer weiteren Explosion der Bevölkerung zu rechnen. Im Gegenteil, in 100 Jahren werden wir - hab' ich gelesen - nur noch halb so viele Menschen auf der Erde sein wie jetzt, nicht weil Kriege und Seuchen gewesen sind, sondern weil das Geburtsverhalten eine Riesenzahl von Menschen dazu veranlaßt hat, nicht aus Not Kinder zu produzieren, weil sonst niemand anders hilft. Da spür' ich überall Chancen. Überall sehe ich da Menschen unterwegs, die, wie die Christen sagen würden, die Schöpfung bewahren wollen, die umsichtig mit dem umgehen wollen, was uns am Leben hält und darauf setze ich. Da möchte ich gerne dabei sein, da möchte ich gerne so viel Kraft wie möglich auch bei anderen Leuten mobilisieren, daß sie nicht wieder sagen, es hat ja sowieso keinen Sinn.

SB: Der Film Watermark, ein kanadischer Film von 2013, dokumentiert in sehr eindrücklichen Bildern die Bedeutung des Wassers für unser Leben und Überleben auf diesem Planeten und den gefährlich ignoranten Umgang damit. Laut Aussage der UNO wird in 25 Jahren für ein Drittel der Menschheit kein Süßwasser mehr da sein. Ist das nicht Krieg mit anderen Mitteln, daß eine kleine, global vernetzte Gruppe von Menschen die Welt aus Macht- und Profitgier kaputtmacht? Natürlich gibt es überall kleine Projekte, Hoffnungsträger, Versuche, sich dagegen zu stemmen, was Neues zu machen, das Denken zu verändern, aber es gibt eben auch eine gewaltige und massive unumkehrbare Zerstörung.

HS: Wir sind bedroht, das stimmt und es ist falsch, das zu verharmlosen, aber es ist noch nicht gelaufen. Gegen eine solche Drohperspektive wie mit dem Wasser kann ich arbeiten, dagegen kann ich angehen und kann dafür sorgen, daß das korrigiert wird, daß das aufgefangen wird. Ich bin an diesen Drohpotentialen nur soweit interessiert, als ich Leute mobilisieren kann, etwas zu tun. Ich finde, sie hilflos zu machen, sie hoffnungslos zu machen, zynisch, das geht mir völlig quer.

Alte Uhr mit ornamentalen Menschenakten zeigt 20 Minuten nach 11 Uhr - Foto: © 2014 by Schattenblick

Noch nicht 5 vor 12? - Uhr im Bremer Rathaus
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: In Ihren Büchern werden Mißstände angeprangert, obwohl wir, wie Sie sagen, alle etwas anderes wollten. Ein Verantwortlicher wird namentlich nicht ausgemacht, bestenfalls "die Weltwirtschaft, die mit uns Schlitten fährt". Ist das System schuld?

HS: Ich finde, das Dämonisieren führt nicht zum nüchternen Analysieren. Wer Religion stiften will, damit die Hoffnung wirklich zieht, der muß erstmal den Teufel erfinden, damit sich die Leute fürchten. Daran bin ich nicht interessiert, weil ich spüre, wenn die Leute ständig Angst haben, nutzen sie ihren Kopf nicht, ihre Möglichkeiten, sich nach der Vernunft zu verhalten. Das soll nicht heißen, daß ich die Gefahr verharmlose. Bei der Bankenkrise 2008 - das war natürlich das System und die Spekulation - hat man sich ein paar 'Schuldige' gegriffen, einige sind dabei auch aus dem Fenster gesprungen und zu Tode gekommen. Der Madoff ist so einer, der Tausende um ihr Geld gebracht hat. Aber ich kann mich doch nicht mit diesem einen Gangster entschuldigen für das, was da gelaufen ist. Die Spekulation auf die Währung war eine Bedrohung für die Menschheit und zum erstenmal, soweit ich das weiß, hat es in der Menschheitsgeschichte ein Bündnis aller gegeben, sich dagegen zu wehren. Das finde ich toll. Alle haben mitgemacht, die Chinesen, Putin, alle. Die wußten, wenn wir jetzt nicht zusammenspielen, kippt der ganze Laden, dann funktioniert hier gar nichts mehr. Plötzlich haben sie gemerkt, jetzt geht's ans Eingemachte, und wenn wir jetzt anfangen zu dämonisieren und einen in den Knast zu stecken, kommen wir überhaupt nicht voran, sondern wir müssen das, was das Ganze treibt, beenden. Daß dieser dumme amerikanische Präsident Bush dann die Lehman Brothers hat Pleite gehen lassen - ich glaube, der wußte gar nicht, was er da wirklich macht oder der war falsch beraten -, daß durch diesen Bankencrash plötzlich sichtbar wurde, jetzt geht's mit dem Dominoeffekt weiter, hat vieles kaputtgemacht, aber auch viel Intelligentes freigesetzt. In Europa zum Beispiel hat es, was kaum mehr einer für möglich hielt, dazu beigetragen, daß wir zusammengewachsen sind, und zwar alle. Nicht nur ein paar schlaue Deutsche, die ihre Geschäfte machen wollten, sondern alle 28 sind in dieser Abwehr der durch die weltweite Spekulation ausgelösten Währungskrise, die ja auch eine Eurokrise wurde, zusammengerückt. Als die Bildzeitung anfing, die Griechen zu dämonisieren und zu sagen, die essen unser Geld auf und liegen dann faul am Strand und lassen sich ihren Bauch braun brennen - hat das nicht gezogen, hat nicht gezogen! Die sind mit ihrer Hetze - obwohl die nun so eine Medienmacht haben -, nicht zum Zuge gekommen, sondern die Leute haben begriffen, wenn wir nicht zusammenbleiben, dann fallen wir alle um.

Sowas finde ich wichtig, daß man Krisen identifiziert, sie den Leuten nicht wie einen Ersatzteufel an die Wand malt, sondern nüchtern sieht, was treibt da eigentlich diese Bedrohung an und dann dagegen Bündnisse schließt, die einen schützen können vor solchen Spekulationen. So gehe ich damit um.

Henning Scherf mit SB-Redakteurin in der Bibliothek des Bremer Rathauses - Foto: © 2014 by Schattenblick

Der Ex-Bürgermeister im Gespräch mit dem Schattenblick
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Eine letzte Frage angesichts der fortgeschrittenen Zeit: Wie entstehen Ihre Bücher?

HS: Unterschiedlich. Meistens ist es der Verlag, der mich bedrängt. Ich bin gar nicht so scharf aufs Bücherschreiben, aber die wollen, daß ich immer wieder was Neues produziere. Meine Frau ist inzwischen damit versöhnt, weil sie weiß, daß alles Geld, was ich damit verdiene, nach Nicaragua geht. Ich finanziere damit Kinderprojekte, die wir mit Dietmar Schönherr, Ernesto Cardenal und anderen Freunden zusammen vor 30 Jahren begonnen haben. Das motiviert mich auch, denn ich wüßte sonst gar nicht, wie ich die Spenden zusammenkriegen soll. Viele Bücher entstehen aus Gesprächen in unserem Haus, Gesprächen mit meiner Frau, aus meinen Vorträgen. Dann gibt es Bücher, die sind von mir von A bis Z richtig per Hand geschrieben und dann gibt es welche, die sind im Gespräch mit Uta von Schrenk, die in Berlin sitzt und mit dem Cheflektor vom Herder Verlag, Dr. Walter, die ich beide sehr schätze, entstanden. Im Augenblick sitze ich mit Annelie Keil am Thema Sterbehilfe. Das ist inhaltlich das Thema, aber wir haben noch nicht die richtige Überschrift gefunden über das Ganze. Wir wollen eigentlich Lust auf Leben, Freude am Leben machen, auch wenn man nicht mehr so gut kann, auch wenn man gebrechlich ist. Wir wollen viel Anregendes schreiben und zusammenbringen, aber wir wollen uns auch nicht drücken vor dem Sterbethema.

SB: Sie haben vorhin ganz kurz ihre Hausgemeinschaft und die Gespräche in Ihrem Haus angesprochen. Es heißt oft, Sie leben in einer Alterswohngemeinschaft. Eigentlich leben Sie aber in einer Hausgemeinschaft, ist das richtig?

HS: Sagen die im Haus, daß wir mehr eine Hausgemeinschaft sind, ich sag' eher Wohngemeinschaft, weil wir wirklich vieles zusammen machen. Wir essen regelmäßig zusammen, das geht reihum, wir haben nur noch ein Auto alle zusammen, machen zusammen Urlaub. Wenn Gäste kommen, sind das immer Hausgäste, wenn viele kommen, rücken wir alle zusammen. Wenn einer krank wird, pflegen wir uns gegenseitig. Zwei sind jetzt schon gestorben, die haben wir über sieben Jahre gepflegt, die wollten zuhause bleiben, ohne fremde Hilfe. Das ist intensiveres Wohngemeinschaftsleben als in Studentenzeiten, wenn Sie jemanden sieben Jahre lang pflegen, Tag und Nacht. Trotzdem sagen alle anderen bei uns Hausgemeinschaft, ich bin der einzige, der Wohngemeinschaft sagt.

SB: Warum ist das so?

HS: Weil die anderen weg wollen von diesem Wohngemeinschaftsgefasel, diesem romantischen Klischee, freier Sex und so was. Das paßt alles auf uns nicht, weil wir sagen, wir sind doch eigentlich eine ganz nüchterne Veranstaltung. Wir achten aufeinander und stützen uns, so gut wir können, aber wir sind keine abgehobenen Spinner.

SB: Wobei freier Sex und diese Geschichten ja mehr der Mythos war und weniger das, was sich in den Wohngemeinschaften real abgespielt hat.

HS: Das stimmt. Wir haben ja auch in Hamburg als Studenten eine Wohngemeinschaft gehabt und da war es genau so. Ich habe mir angewöhnt, Wohn- und Hausgemeinschaft zu sagen, da kann sich jeder aussuchen, was er will, es ist mir so wichtig nicht. Inzwischen bin ich ja noch mehr interessiert an Pflegewohngemeinschaften. Darüber habe ich nun auch schon geschrieben, da bin ich unterwegs und besuche die, wohne da richtig, um zu lernen, wie das auch noch mit demenzerkrankten Leuten geht. Es ist erstaunlich, was da zustande kommt und wie die sich lebendig halten, weil sie was zu tun haben, weil sie einbezogen werden, weil sie nicht einfach nur in der Ecke sitzen und versorgt werden, sondern noch mitdenken und auch ihren Querkopf ausleben dürfen, auch mal anderer Meinung sein können und auch mal sagen dürfen, nein, das läuft hier jetzt anders. Das ist richtig so und das ist wichtig und das hält sie am Leben.

SB: Herr Scherf, wir bedanken uns sehr für das Gespräch.

Foto: © 2014 by Schattenblick

Das Rathaus am Bremer Marktplatz
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnote:

Der 1. Teil des Interviews im Schattenblick unter: INFOPOOL → BÜRGER UND GESELLSCHAFT → REPORT
INTERVIEW/044: Alte Tugend, neuer Schwung - Auch mit Fetzen Segel setzen, Dr. Henning Scherf im Gespräch (SB)

3. Juni 2014