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INTERVIEW/046: Sarajevo Peace Event 2014 - Kreuzpunkt der Gewalten ... Reiner Braun (IALANA) im Gespräch (SB)


Sarajevo Peace Event 2014 - eine Nachbetrachtung

Reiner Braun über Sarajevo als Symbolort zweier Kriege, die umstrittene Finanzierung der Friedensbewegung, den mühsamen Weg zur Überwindung ethnischer Konflikte und vieles mehr



Vom 6. bis zum 9. Juni 2014 fand in der bosnischen Stadt Sarajevo ein Peace Event statt, zu dem rund 2500 Gäste von nah und fern angereist waren. Die zahlreichen Veranstaltungen wurden fünf thematischen Blöcken zugeordnet: "Nein zum Krieg! Frieden und soziale Gerechtigkeit", "Kulturen des Friedens und der Gewaltfreiheit", "Frauen und Frieden", "Versöhnung und der Umgang mit der Vergangenheit", "Militarismus und Alternativen". Zu den mehr als 50 Organisationen, die sich an der Vorbereitung des Treffens beteiligten, gehörte auch IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms) aus Berlin. Dessen Vertreter im internationalen Koordinierungskomitee, Reiner Braun, stellte sich am 24. Juni 2014 im IALANA-Büro in Berlin dem Schattenblick für eine Nachbetrachtung des Friedenstreffens und weitere Fragen zur Verfügung.

Beim Interview - Foto: © 2014 by Schattenblick

Reiner Braun, IALANA Deutschland
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Sie waren Mitorganisator des Sarajevo Peace Events 2014. Der Veranstaltungsort wurde sicherlich nicht zufällig gewählt, wurde doch dort vor rund 100 Jahren der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand ermordet, was als Auslöser des Ersten Weltkriegs gilt. Warum sollte man sich heute noch mit diesem Ereignis befassen?

Reiner Braun (RB): Es gibt viele Fragen, die damals aktuell waren und die es leider immer noch sind. 1914 ging es um die geostrategische Aufteilung zwischen den alten und neuen Großmächten in Europa, und auch heute geht es wieder um eine geopolitische Aufteilung von Hemisphären und Einflußgebieten. Die Parallele wird erschreckend deutlich, wenn man sich die Ukraine anschaut. Sie war ein wesentliches Kriegsziel des deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg in dem Schandfrieden von Brest-Litowsk. [1] Auch heute wird wieder um den hegemonialen Einfluß in der Ukraine gerungen.

Eine weitere Parallele besteht im Wettrüsten. Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war nicht nur im maritimen Bereich eine Zeit des gigantischen Wettrüstens. Heute findet ebenfalls ein Wettrüsten statt; die Militärausgaben verschlingen ungeheure Summen. Heute werden 1,4 Billionen Dollar für Rüstung ausgegeben - eine fast unvorstellbar hohe Zahl.

Und als letzten Punkt: Es geht auch um den technologischen Quantensprung. Während des Ersten Weltkriegs fand eine Revolution der Militärtechnologie statt. Um es ganz einfach zu sagen: Die Soldaten zogen bunt gekleidet und mit bunten Hüten in den Krieg und raus kamen sie mit Panzern und Flugzeugen. Das dokumentiert, in welch kurzer Zeit eine technologische Entwicklung stattfand. Wir stehen heute an einem ähnlichen technologischen Quantensprung, der mit dem Begriff Automatisierung und Robotisierung oder auch Mensch "out of the loop", also Mensch außerhalb der Entscheidungskette für Krieg und Frieden, umschrieben werden kann.

All diese Parallelen sind erschreckend, von daher war das Peace Event nicht nur als Erinnerungsveranstaltung zu sehen, wenn man sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt, sondern wirklich als "lessons learned", um sich einer aktuellen Auseinandersetzung zwischen Krieg und Frieden zu widmen.

SB: Der australische Historiker Christopher Clark behauptet in seinem 2013 auf Deutsch erschienenen Buch "Die Schlafwandler", daß die europäischen Mächte schlafwandelnd in den Ersten Weltkrieg hineingeraten sind. Auf einem Foto vom August 1914, das die "Süddeutsche Zeitung" vor kurzem veröffentlicht hat, ist zu sehen, wie deutsche Soldaten die Grenze nach Frankreich überschreiten. Keiner der Soldaten und auch nicht der Offizier, der dem Trupp hoch zu Roß voranreitet, sieht wie ein Schlafwandler aus. Was halten Sie von Clarks These?

RB: Schlafwandler sind ja Menschen, die in einer ganz bestimmten Situation halb bewußt etwas tun. Dagegen haben 1914 die politischen Klassen aller Länder Europas sehr bewußt reagiert, es hat sehr bewußt ein Ultimatum gegeben, es hat sehr bewußt freie Hand des deutschen Kaiserreichs für Österreich-Ungarn gegeben. Seit Jahren war der europäische Krieg geplant. Der Schlieffen-Plan [2] ist ja nicht schlafwandelnd im Juli/August 1914 entstanden, sondern galt viele Jahre vorher als Militärdoktrin. Wenn man es verharmlosend sagen will, so hat der arme Herr Clark sich geirrt oder hat geschlafwandelt, wenn man es brutal sagen will, entschuldigt er die Aggression aller europäischen Länder und die besondere Aggression Deutschlands, das die Neuaufteilung Europas wollte.

Meiner Meinung nach war es ein Krieg, der von allen europäischen Mächten politisch ins Kalkül gezogen wurde, weil alle hegemoniale Interessen besaßen. Die Russen wollten zum Bosporus, die Franzosen wollten Elsaß-Lothringen wiederhaben, die Engländer wollten ihre Seewege und ihren Weg nach Indien sichern. Und vor allen Dingen wollte Deutschland zu der führenden europäischen, nach Osten ausstrahlenden Macht werden. Das war eine bewußte politische Strategie der letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg.

Noch eklatanter finde ich jedoch die Einschätzung von Herrn Münkler, weil er ein Deutscher ist. Er behauptet ja indirekt das gleiche wie Clark. [3] Man muß diesen Herrn sagen, daß sie die Dokumente nicht gelesen haben. Herr Münkler hat den deutschen Historiker und Politiker, der den Ersten Weltkrieg als allererstes aufgearbeitet hat, Karl Kautsky, der 1919 das Buch "Wie der Weltkrieg entstand. Dargestellt nach dem Aktenmaterial des Deutschen Auswärtigen Amts" veröffentlichte, nicht zitiert und hat das Buch auch in seiner Literaturliste nicht angegeben, obwohl die ungefähr fünfzehn Seiten lang ist. Was ist das für eine Wissenschaft? Einen der entscheidenden Menschen, der als allererstes diesen Krieg aufgearbeitet hat, nicht zu zitieren, nicht zu benennen! Für mich ist Münkler durch diese Veröffentlichung auch als Wissenschaftler unglaubwürdiger geworden, nicht nur durch die Inhalte, die er da produziert.

SB: Wie erklären Sie sich, daß die Zahl der kriegerischen Konflikte weltweit zunimmt, sogar in jüngster Zeit mit dem Regimewechsel in der Ukraine und einer drohenden Ost-West-Konfrontation eine brisante Zuspitzung erfahren hat, aber die Friedensbewegung keinen Zustrom der Massen, sondern eher einen Schwund erfährt?

RB: Diese Frage enthält zwei Elemente, ich bleibe zunächst bei dem ersten. Nach Angaben des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung war die Zahl der Stellvertreterkriege zur Zeit des kalten Kriegs größer als die der heutigen Kriege. Trotzdem ist die Quantität der asymmetrischen Konflikte gigantisch gestiegen. Wenn es nach Syrien hierfür noch eines weiteren Beweises bedarf, dann ist das aktuell der Irak, ein Krieg, der meiner Ansicht nach die Zuspitzung des Kriegs gegen den Terror, der auf die eigenen Füße zurückfällt, darstellt. Und es ist ja fast schon frappierend, daß dieser Konflikt wahrscheinlich nur eingedämmt werden kann, indem die beiden großen Kontrahenten der letzten Jahre, Iran und USA, an einem Strang ziehen.

Aber die deutliche Ausdehnung asymmetrischer Konflikte als Konsequenz des sogenannten Kriegs gegen den Terror hat zu einer brennend dramatischen Situation geführt, so daß es in Europa zu einer Zuspitzung kommt, die fatal an Elemente des kalten Krieges erinnert. Diesen Begriff würde ich aber nicht wieder auf die heutige Zeit anwenden, weil der kalte Krieg für mich auch eine ideologische Konfrontation zwischen zwei sich antagonistisch verstehenden Gesellschaftssystemen, die aber beide auf dem System der Industriegesellschaften basierten, dokumentiert. Von daher wäre ich vorsichtig mit dem Begriff und tendiere mehr dazu zu sagen: Wir kommen zu einer neuen Form der Konfrontation in der Welt. Denn das schließt ein, daß die Konfrontation nicht nur in Europa stattfindet, sondern in eklatanter Weise auch in Südostasien. Was da mit China, Vietnam, Indonesien und Philippinen vor sich geht, stellt eine brandgefährliche Konfrontation dar. Das zum einen.

Zum zweiten geht es um die Frage nach der Friedensbewegung. Es ist ja nicht ganz neu, daß die Friedensbewegung nicht mehr in dem Umfang Menschen auf die Straße holt wie in den 1980er Jahren gegen die Atomwaffen und zuletzt 2003 gegen den Irakkrieg. Damals sprach man in der "New York Times" von der "zweiten Supermacht", da wurde die Friedensbewegung richtig verherrlicht. [4] Wen man verherrlicht, läßt man auch immer ganz tief fallen, von daher ist die mediale Resonanz heute die genaue Kontradiktion dazu.

Es gibt eine ganze Reihe von Gründen für den Schwund. Ein Grund ist, daß die Menschen nicht mehr so direkt betroffen sind von der Art von Konflikten, wie sie heute vorherrschen. Zweitens gehört dazu sicher auch die schwierige Durchschaubarkeit der Konflikte und daß das Freund-Feindbild nicht so leicht zu bedienen ist. Bei den jetzigen Konflikten ist es schwer zu sagen, ich sympathisiere mit dem einen und bin gegen den anderen. Man muß eigentlich eine eigene Position unabhängig von den Konfliktparteien entwickeln, was es wirklich schwieriger macht.

Ein dritter Grund ist natürlich auch die Lage der Friedensbewegung selbst. Die Friedensbewegung ist überaltert, die Strukturen sind verkrustet, vieles müßte erneuert werden, neues Blut muß dazu, neue Kräfte müssen engagiert werden, damit es zu einer Wiederbelebung kommt. Wir haben es hier also auch mit einem internen Problem der Friedensbewegung und ihrer Organisationen zu tun. Positiv festzustellen ist jedoch, daß die Strukturen nach wie vor stimmen. Die Friedensbewegung gibt es noch immer in der Fläche sowie als große Organisationen, von Pax Christi über IPPNW zu IALANA. Sie existieren und arbeiten weiter, aber sie sind nicht in dem Maße aktions- und handlungsfähig wie in den 80ern und zu Beginn der 90er Jahre.

Das alles verbunden mit sämtlichen Konsequenzen des Neoliberalismus - also Individualisierung, auf die eigene Zukunft und die eigene Karriere gucken, Arbeitslosigkeit, Hartz-IV-System - sind ineinanderspielende Faktoren, die es zur Zeit für die Friedensbewegung schwieriger machen, die Massen zu mobilisieren. Das gilt aber auch für andere soziale Bewegungen wie die Gewerkschaften oder Attac, das auch nicht mehr das ist, was es in den 90er Jahren mal war.

Ich glaube nicht, daß das so bleiben wird, ich glaube sehr stark, daß es wieder spontane und eruptive Empörung geben wird. Ich glaube auch, daß die jungen Leute neue Formen des Protestes finden werden, der sich anders artikulieren wird, als wie wir es gemacht haben, also über soziale Medien wie Twitter, Internet, Facebook. Meiner Meinung nach ersetzen sie nicht die Straße, sondern ergänzen sie höchstens, aber es ist auch schwieriger geworden. Dieser Situation müssen wir uns insgesamt stellen.

Beim Interview - Foto: © 2014 by Schattenblick

"Es ist ja nicht ganz neu, daß die Friedensbewegung nicht mehr in dem Umfang Menschen auf die Straße holt wie in den 1980er Jahren gegen die Atomwaffen und zuletzt 2003 gegen den Irakkrieg."
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Wie war die Altersstruktur bei dem Peace Event in Sarajevo?

RB: Jung! Das war vielleicht das Erfreulichste dieses Peace-Events. Wir waren an die 2500 Teilnehmer, von denen bestimmt gut 2000 keine grauen Haare hatten. Es war ein absolut junges, internationales Publikum, ein Treffen junger Leute aus 32 Ländern. Das hat uns sehr überrascht angesichts der anderen Veranstaltungen, die wir alle in den letzten Jahren verfolgt haben.

SB: Gab es eine Abschlußerklärung oder ist in irgendeiner Form an eine Fortsetzung des Peace Events gedacht?

RB: Es gibt keine Fortsetzung in der Hinsicht, daß vereinbart worden wäre, sich in ein, zwei oder fünf Jahren wiederzutreffen. Das war aber auch nicht der Charakter dieses Events. Es sollte die 100 Jahre mit der aktuellen Fragestellung verbinden, was auch sehr prägend war. Wir hatten eine sehr intensive Diskussion zum Beispiel über die Ukraine. Das Treffen wird sich in den Vernetzungsstrukturen, die dort geschaffen worden sind, fortsetzen. Es sind viele neue Kontakte entstanden, die sicherlich weiter ausgearbeitet werden.

Ich muß aber auch sagen, daß vermutlich keiner von denen, die daran beteiligt waren, diesen Kraftakt, den dieses Event darstellte - 2500 Teilnehmer, fast nur ehrenamtlich vorbereitet, mit einer ganz komplizierten lokalen Vorbereitungssituation -, in absehbarer Zeit wieder stemmen kann. So etwas kann man nur ab und zu mal machen. Wir sind uns aber einig, daß es eine Reihe von Aktivitäten geben wird, die in dieser Tradition stehen werden. Dazu gehören ganz sicher Aktivitäten 2015 zum sogenannten Weltklimagipfel in Paris und nächstes Jahr Demonstrationen und Gegengipfel zur Atomwaffensperrvertragskonferenz in New York. Mit Sicherheit werden wir uns im nächsten Jahr in einem größeren Rahmen beim G7-Gipfel in Elmau wieder treffen.

Das Sarajevo Peace Event 2014 steht ganz klar in einer Traditions- und Fortsetzungslinie, ohne daß jetzt das nächste gemeinsame Event dieses Kreises vereinbart wurde. Der Vorbereitungskreis war dafür da, dieses Event rund 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs zu entwickeln. Das ist auch gut so, der hat das Event mit Bravour geschafft, und jetzt müssen andere Zirkel, aber in der Tradition dieses Events, das weiterführen.

SB: Auf den Bildern, die auf der Website des Peace Events [5] veröffentlicht wurden, sind junge Leute mit weißen T-Shirts und dem Aufdruck USAID [6] zu sehen. Muß die in Sarajevo vertretene Friedensbewegung keinen Vertrauensverlust befürchten, wenn sie sich von einer solchen Einrichtung unterstützen und in irgendeiner Form mitfinanzieren läßt?

RB: Alle Organisationen in Bosnien-Herzegowina bekommen Unterstützung von USAID. Von daher hat dieses Geld in die Vorbereitung mit hineingespielt. Keiner von uns hat einen Scheck von USAID bekommen, sondern es hat die Organisation in Bosnien-Herzegowina, die an der Vorbereitung beteiligt war, unterstützt. Dadurch wurden die T-Shirts, Druckkostenzuschüsse und Reisekosten für die 200 Volunteers bezahlt. Darüber hinaus wurde davon ein Essensgeld von acht Euro pro Tag für die lokalen oder regionalen Volunteers finanziert.

Ich glaube aber, bei keinem von uns, inklusive bei rund 90 Prozent der Locals, war nicht im Hinterkopf, daß man eine kritische Position zu USAID haben muß. Ich muß aber ebenfalls sagen, und das nationale Komitee hat das nochmals bestätigt: Wir sind mit unserer Friedensarbeit in den letzten Jahren nur so erfolgreich gewesen, weil USAID uns infrastrukturelle Hilfe gegeben hat. Das kann man gut oder schlecht finden. Ich würde mich mehr freuen, wenn Hilfe von anderer Seite käme oder wenn man so ein Event ganz allein auf die Beine stellen könnte. Aber in einer Stadt oder einem Land, in dem 60 Prozent der Einwohner arbeitslos sind und nach wie vor große Kriegsschäden zu sehen sind, dazu noch die aktuellen Flutschäden [7], ist es von vornherein ungeheuer schwer, sich überhaupt sozial zu engagieren. Von daher ist diese Hilfe notwendig, damit die Organisationen dort überhaupt ein Minimum an Infrastruktur aufrechterhalten können. Das ist nicht das, was ich mir wünsche, aber ich muß es erst mal so akzeptieren, wie es ist.

Ich finde Kritik daran durchaus berechtigt, ich finde die Diskussion absolut korrekt und gut, ich warne nur davor, da zu oberlehrerhaft von außen ranzugehen. Man sollte sich erst einmal sehr genau die Strukturen anschauen und die komplizierte Situation bedenken, in der die Organisationen dort arbeiten. Wir alle haben das in den letzten anderthalb Jahren erfahren. Wie zugespitzt die Situation war, läßt sich daran ablesen, daß fünf Wochen vor dem Peace Event unser gesamtes lokales Vorbereitungskomitee die Brocken hingeschmissen hat. Über die Gründe will ich jetzt nicht spekulieren, aber sie liegen in der sozialen Situation dieses Landes, und dann haben wir es trotzdem noch machen müssen. Und das war nicht das einzige Beispiel. Uns haben viele Leute vorher gewarnt, wir könnten nicht nach Sarajevo gehen, das gehe nicht. Wir haben den Mut gehabt und uns damit auch auf einiges eingelassen. Im Endeffekt kann man sagen, das Abenteuer war erfolgreich - aber es war auch ein Abenteuer!

SB: Ein anderer Ort für das Peace Event wäre nicht möglich gewesen, um den Verdacht einer Einflußnahme durch USAID zu entkräften?

RB: Das Problem bei einem anderen Ort wäre gewesen, daß wir von der Symbolik der zwei Kriege weggegangen wären. Denn dafür steht Sarajevo: Es ist Symbol für den Ersten Weltkrieg - obwohl die ersten Schüsse gar nicht in Sarajevo gefallen sind -, und es ist auch ein Symbolort für den Krieg in Jugoslawien. Jeder, der mal in Sarajevo war und die Stadt von außerhalb betrachtet, wird an den heute noch zerstörten Häusern erkennen können, wie die serbische Armee von oben in die Stadt reingeschossen hat. Das ist schon ein gruseliges Bild, auch wenn einiges inzwischen wieder aufgebaut wurde. Einen solchen Symbolort hätten wir nirgendwo anders gehabt.

Im übrigen wäre ich höchst unsicher, ob, wenn wir in irgendeine andere Stadt der Region gegangen wären, die finanzielle Unterstützung für die lokale Infrastruktur so viel anders gewesen wäre. Ich weiß auch, wer beispielsweise in Belgrad wen unterstützt, und ich weiß erst recht, wer in Kroatien und Slowenien wen unterstützt. Wenn man sich in diese Region begibt, muß man sich darauf einstellen, daß man es auch mit Partnerinnen und Partnern zu tun hat, die mit anderen verbunden sind, die einem persönlich vielleicht nicht so lieb sind.

SB: Gilt das auch für das französische Außenministerium? Das hat in den letzten Jahren eine große Aggression an den Tag gelegt. Es waren französische Kampfjets, die vor drei Jahren den Luftkrieg gegen die Regierung Libyens begannen, während gleichzeitig noch Gesandte der Afrikanischen Union versuchten, den Bürgerkrieg in Libyen auf dem Verhandlungswege zu lösen. Man hat sie nicht nach Tripolis reisen lassen, Frankreich hat die Bombardierung begonnen.

RB: Ich will die Frage allgemein beantworten, es geht da ja um Staatsknete. Staatsknete haben wir von drei Ländern gekriegt, aus Finnland, im beschränkten Maß aus Deutschland von der deutschen Botschaft und von der französischen Regierung. Für mich sind das Steuergelder, die mal für den Frieden ausgegeben werden, statt für irgendwelche anderen militaristischen Sachen. Von daher fand ich es gut, und wir haben das Geld ohne Auflagen angenommen und haben es ausgegeben, wie wir wollten. Wären damit Auflagen verbunden gewesen, hätten wir es nicht genommen!

Wenn man das Peace Event verfolgt hat, wird man feststellen, daß dadurch vielleicht zum ersten Mal seit 15 Jahren kritische Äußerungen zur Europäischen Union und zur Nato gefallen sind. Die Unterstützung für die NATO liegt nach allen Umfragen in Sarajevo zwischen 70 und 80 Prozent der Bevölkerung. Wir haben es gewagt, auch gegen nachdenkliche Stimmen der lokalen Kollegen, dort das Thema NATO mit einer eigenen, ganztägigen Tagung zu bearbeiten. Das war richtig und gut. Wir haben auch sehr kritisch zur Europäischen Union diskutiert, teilweise zur Verblüffung der lokalen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sich wunderten, daß man so kritisch gegenüber der EU sein kann.

Also, wir haben kritische Themen aufgegriffen und haben diese auch in der Pressemitteilung genannt. Wir haben dort Tabubrüche begangen, was ich völlig richtig fand. Und ich muß leider sagen: Wir brauchten dieses Geld, wir haben wirklich mit einem minimalen Budget gearbeitet. Das offizielle Budget, was das beinhaltet, was über uns zentral finanziert wurde, lag zwischen 50.000 und 60.000 Euro. Von allen Seiten wurde uns gesagt, damit kann man das nicht machen ... aber es ging! Wir kommen da fast plus minus null heraus. Ohne dieses Geld hätten wir es überhaupt nicht schaffen können. Zumal wir keine hohen Teilnehmergebühren erheben konnten. Weder von den Gästen, die von auswärts kamen, weil sie schon die Reisekosten und die Unterkunft selber bezahlt haben, noch von Locals bei 240 Euro Monatsgehalt. Wieviel soll ich da nehmen, fünf Euro, zwei Euro? Das haben wir genommen, haben teilweise auch gesagt, wenn ihr wirklich nicht bezahlen könnt, kommt bitte trotzdem. Von daher muß ich einfach sagen, daß diese Hilfe, die vernünftige Ausgabe von Steuergeldern eine unabdingbare Notwendigkeit zur Finanzierung dieser Veranstaltung war.

Beim Interview - Foto: © 2014 by Schattenblick

"Wir sind mit unserer Friedensarbeit in den letzten Jahren nur so erfolgeich gewesen, weil USAID uns infrastrukturelle Hilfe gegeben hat. Das kann man gut oder schlecht finden. Ich würde mich mehr freuen, wenn Hilfe von anderer Seite käme oder wenn man so ein Event ganz allein auf die Beine stellen könnte."
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Wurde auch über die Rolle der Europäischen Union bei der Zerschlagung Jugoslawiens diskutiert?

RB: Wir hatten einen eigenen Block eingerichtet, der hieß "Arbeiten in der Vergangenheit". Der hat sich nur mit der Konsequenz aus dem Jugoslawienkrieg befaßt. Da wurden Fragen erörtert wie: Welche Bedeutung hatte die Separierung? Wie ist sie zustandegekommen? Welche Rolle hat zum Beispiel Deutschland dann infolge von Genscher und der Europäischen Union gespielt? Das war einer von fünf thematischen Blöcken und der hat sich fast nur mit dieser Frage und mit der Frage, wie man die bewußt ethnisch aufgehetzten Nationen wieder zusammenfügen kann, beschäftigt.

Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist unglaublich schwer! Soweit ich weiß, hat es erst zwei Events gegeben, die diese ethnischen Konflikte überhaupt überwunden haben. Das waren die Protestaktionen im Frühjahr, die in Bosnien nicht ethnisch angelegt waren, und das war jetzt die Betroffenheit von der Flut. Alles andere in der Vergangenheit war total ethnisiert. Aber wir haben es geschafft, Veranstaltungen sowohl in dem sogenannten bosnisch-kroatischen Teil von Sarajevo zu machen als auch in dem Teil, in dem es einen serbischen Bürgermeister gibt. Das hat schon Aufmerksamkeit erregt, daß wir das so hinbekommen haben.

SB: Bedeutet das, daß auf dem Peace Event Bosnier und Serben miteinander ins Gespräch kamen?

RB: Ja! Wenn Sie einmal in Mostar gewesen sind und über die Brücke gehen, haben Sie auf der einen Seite immer noch die Kroaten, auf der anderen Seite immer noch die Bosnier. Die geben sich nie die Hand, da geht keiner über die Brücke, sondern es sind immer nur die Touristen. Das ist leider immer noch so brutal. Ich bin davon überzeugt, daß wir mit dem Peace Event ein kleines Stück Versöhnungsarbeit geleistet haben.

SB: Wurden irgendwelche Demonstrationen veranstaltet oder gingen Sie von dem Peace Event auf andere Weise an die Öffentlichkeit?

RB: Ich will Ihnen vier Beispiele geben. Erstens haben wir an einem Tag den sogenannten "Peace trail" gemacht. Das war eine Präsentation der Arbeiterfriedensbewegung auf der zentralen Straße von Sarajevo. Weil wunderschönes Wetter war, sind dort sehr viele Bürger vorbeigegangen. Zweitens haben wir an einem Samstagabend ein Konzert mit fünf örtlichen Rock- und Popgruppen organisiert, zu dem relativ viele junge Leute aus der Stadt gekommen sind. Die gesamten Einnahmen dieser Veranstaltung sind den Flutopfern zugeflossen. Drittens hatten wir durch unsere Medienpartner relativ viel öffentliche Aufmerksamkeit erlangt. Wir hatten das erste bosnische Fernsehen als Medienpartner, und ich war zum Beispiel am Abend vor der Veranstaltung in der zentralen Sendung des bosnischen Fernsehens, was bei uns in Deutschland die Tagesthemen sind, und habe ein zwölfminütiges Interview gegeben. Diese Sendung wird schätzungsweise von 15 Prozent der bosnischen Bevölkerung angeschaut.

Ein weiterer Medienpartner war die zweitgrößte Zeitung der Stadt, die fünf oder sechs große Interviews mit uns abgedruckt hat. Außerdem unterhielten wir während der ganzen Zeit sechs oder sieben Infostände in der Stadt, wo wir mit einem Flugblatt die Menschen darauf hingewiesen haben, daß dieses Peace Event stattfindet. Am Freitag morgen haben wir einen Peace March entlang der Route zwischen den verschiedenen Kirchen, wie er am Ende des Sarajevokrieges stattgefunden hat, mitgemacht. Diese Route durch die ganze Stadt ist von Schülern und Teilnehmern des Peace Events, die am Freitagmorgen schon da waren, mit verschiedenen Kundgebungen und Musik abgegangen worden. Außerdem fielen wir auf, weil die Leute natürlich auch durch die Stadt gingen und Buttons vom Sarajevo Peace Event 2014 trugen. Also, wir haben dort schon eine gewisse Öffentlichkeit erreicht.

SB: Wie ist die Stimmung unter den jungen Leuten in Bosnien hinsichtlich der militärischen Präsenz der USA dort? Es gibt ja mindestens ein größeres Lager der US-Streitkräfte, gegen das schon mal protestiert wurde. Wurde auch das thematisiert?

RB: "Military bases" insgesamt waren ein Thema und damit auch die bosnischen Basen. Ich erwähne das ungern, aber ich muß Ihnen das ehrlich sagen, da ich irgendwie zur Wahrheit verpflichtet bin: Diese Militärlager stoßen in dem Land nach wie vor auf große Sympathie. Vielleicht bei jungen Leuten etwas weniger, aber viele in Bosnien halten die amerikanischen Soldaten für Friedensbringer, die daran beteiligt waren, den Krieg zu beenden. Das ist nicht meine Position, aber ich habe eine ganze Reihe von Gesprächen und auch Diskussionen geführt, wo das leider noch immer so gesehen wird. Aber es gibt in diesem Land keine antimilitaristische Stimmung. Das muß man einfach deutlich sagen. Es gibt zwar eine Stimmung, irgendwann einmal die Versöhnung hinzubekommen, dafür engagieren sich auch relativ viele Menschen, aber etwas, das ich antimilitaristisch nennen würde, gibt es dort leider noch nicht. Daran haben wir noch viel zu arbeiten. Das ist vielleicht in Bosnien besonders zugespitzt so, doch wenn ich mir die baltischen Staaten anschaue oder nach Polen und Tschechien blicke, dann sehe ich in den Ländern keine sehr viel andere Stimmung.

SB: Haben Sie eine Theorie, woran das liegen könnte, daß die Stimmung dort so ist?

RB: Ich habe eine Theorie, die muß nicht stimmen, und die lautet: Für viele Einwohner Sarajevos haben die NATO-Truppen am Ende des Krieges dazu beigetragen, daß das Schießen aufhört. Ich rede jetzt nicht davon, wie das alles überhaupt erst angefangen hat, und auch nicht über die politischen Verwicklungen. Sondern es herrscht das Empfinden vor: Die NATO-Soldaten waren da, danach war Schluß mit Schießen. Also sind sie für diese Leute - das sind jetzt nicht meine Worte - so etwas wie Friedensbringer.

Auch ist es nicht meine Position dazu, aber ich glaube, man muß sehr genau hinhören und zuhören, was die Leute dort selber denken, um dann antimilitaristische Strategien daraus zu entwickeln. Es ist manchmal schockierend, was dort auch von kritischen, nachdenklichen Menschen gesagt wird, wenn es um Krieg und Frieden geht. Da stimmt unser, ich sage einmal, simples Anti-Nato-Feindbild nicht. Die wollen ja unbedingt in die NATO, das ist Begeisterung, und man trifft die NATO-Soldaten ja auch ständig. Wenn Sie mit dem Flieger rein und rausfliegen, treffen Sie die Soldaten und die Offiziere und die NATO-Typen überall.

SB: Das bringt mich direkt zu der nächsten Frage: Vor wenigen Tagen hat NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen die These aufgestellt, daß die Anti-Fracking-Bewegung in Deutschland von russischen Agenten gesteuert wird. Bisher sind Friedens- und Umweltbewegungen, wenn es um eine Steuerung von außen geht, eigentlich eher bekannt dafür, daß dort deutsche oder westeuropäische Spitzel eingeschleust werden. Haben Sie irgendwelche Spitzel westlicher oder östlicher Couleur enttarnen können?

RB: Ich würde mich auch gar nicht darum bemühen. Ich habe eine tiefe Hochachtung vor Edward Snowden, der für mich ein gigantisches Werk vollbracht hat. Man kann nur den Hut davor ziehen, was der alles aufgedeckt hat und wie hilfreich das war, um in dieser Welt Klarheit darüber zu schaffen, wo und wie bespitzelt wird und welche Schlußfolgerungen daraus zu ziehen sind. Wenn ich jetzt lese, daß bestimmte Verschärfungen der Überwachung auf deutscher oder europäischer Ebene nicht mehr stattfinden können, kann ich nur sagen: Dank an und Hochachtung vor Snowden. Wir als IALANA haben ihn ja nicht umsonst mit dem Whistleblower Preis 2013 ausgezeichnet. Ich glaube, das letzte Jahr hat noch einmal belegt, wie richtig wir damit gelegen haben.

Zu Rasmussen kann ich einfach nur sagen, daß das ein militaristischer Sturkopf ist, der alte Feindbildstrukturen von neuem auflegt. Für mich ist der Kerl abgehakt. Das sind seine letzten Wochen und Monate im Amt. Ich halte einen NATO-Generalsekretär Stoltenberg politisch für viel gefährlicher, weil er mit einer Kombination von sogenannten Zivilem und Militärischem viel eher Einfluß und Verwirrung innerhalb der Bevölkerung stiften kann als so ein primitiver Militarist, wie der Rasmussen es war. Von daher ist die Entscheidung, Jens Stoltenberg zum Generalsekretär zu machen, aus NATO-Sicht wahrscheinlich schlau. Für uns dagegen bedeutet die Entscheidung eine höhere Anforderung an eine politisch geistige Auseinandersetzung. Wir müssen noch intensiver deutlich machen, daß "zivil-militärisch" immer die Unterordnung des Zivilen unter das Militärische bedeutet. Das wird bei einem so schlauen Kopf wie Stoltenberg, der das Ansehen eines weltoffenen Liberalen genießt, sicher nicht so einfach wie bei einem Militaristen wie Rasmussen.

Beim Interview - Foto: © 2014 by Schattenblick

"Zu Rasmussen kann ich einfach nur sagen, daß das ein militaristischer Sturkopf ist, der alte Feindbildstrukturen von neuem auflegt. (...) Ich halte einen NATO-Generalsekretär Stoltenberg politisch für viel gefährlicher."
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SB: 1999 wurde Belgrad von der NATO bombardiert, unter anderem unter politischer Beteiligung der Partei der Grünen in Deutschland, die wiederum eine ihrer Wurzeln in der Friedensbewegung hat. Was halten Sie von dem Konzept der Schutzverantwortung - Bomben für Frieden -, das auch in diesem Fall reklamiert wurde?

RB: Es gibt keine Bomben für Frieden! Man kann Frieden nie durch Krieg erreichen. Frieden ist der Gegensatz von Krieg, und von daher ist "responsibility to protect" niemals eine Friedenslösung, sondern ein Ablenkungsmechanismus, weil man sich nicht traut, Krieg beim Namen zu nennen. Das traut man sich deswegen nicht, weil die Bevölkerung da nicht mitmachen würde. Deswegen muß man immer Umschreibungen möglichst menschenfreundlicher Art finden, und dem dient auch die Schutzverantwortung, die "responsibility to protect".

Die Grünen entwickeln sich zu einer Partei, die "die" kriegstreibende Partei im Deutschen Bundestag ist. Sie übertrumpfen dabei die Konservativen deutlich. Bei denen gibt es durchaus nachdenkliche Stimmen, die einen kriegstreiberischen Weg nicht mitgehen wollen. Als jemand, der den Weg der Grünen mitverfolgt hat und mehrere Jahre sehr eng mit Petra Kelly und Gerd Bastian [8] zusammenarbeiten durfte, halte ich die Entwicklung für verheerend. Die beiden würden sich wahrscheinlich im Grabe umdrehen, wenn sie auch nur ansatzweise ahnen würden, was ihre politische Führung und die große Mehrheit heute macht. Die Minderheit bei den Grünen, die sich noch eine Antikriegsposition bewahrt, nehme ich aus, obwohl ich nicht verstehen kann, daß sie noch in dieser Partei ist.

SB: Wenn man sich anschaut, wie weltweit unter gesundheitlich ruinösen und sprichwörtlich physisch aufreibenden Bedingungen den Menschen Arbeitsleistung abgefordert wird, beispielsweise in Bergwerken, auf Plantagen oder in Fabriken für die neuesten IT-Endgeräte, müßte man dann nicht sagen, daß Frieden die Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln ist, beziehungsweise Schwerter und Pflugscharen in der gleichen Esse geschmiedet werden?

RB: Wenn die Frage beinhaltet, daß Abwesenheit von Krieg noch kein Frieden ist, sondern daß Frieden unabdingbar soziale Gerechtigkeit - und heute muß man wahrscheinlich auch Frieden mit der Natur oder Schutz der Natur dazurechnen - bedeutet, würde ich Ihnen völlig recht geben. Ich glaube aber auch, daß man erst einmal nicht unterschätzen sollte, was Abwesenheit von Krieg heißt. Zumindest für die, die im Krieg sind, wäre das Schweigen von Waffen schon ein riesiger Fortschritt.

Trotzdem ist das nicht das, was wir wollen, sondern für mich beinhaltet Frieden immer die Frage von sozialer Gerechtigkeit, und das heißt natürlich auch menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen und eine Umwelt, in der es zu leben wert ist. Denn soziale Gerechtigkeit in abgeholzten Wäldern und verdorrten Steppen ist kein Leben. Von daher hat Frieden für mich immer einen Dreiklang, der wahrscheinlich mit dem Begriff "sustainable development" [9] insgesamt am besten zum Ausdruck gebracht wird.

Um Ihnen das ganz deutlich zu sagen: Das heißt auch immer, daß man als Linker darüber nachdenken muß - ich erwarte das überhaupt nicht von jedem -, aber als Linker muß man immer die Frage des Friedens mit der Frage, in welchem System man leben will, verbinden. Kapitalismus beinhaltet den Krieg per se, aber ich bin nicht der Meinung, daß es zum Kriegsausbruch kommen muß. Das hängt von dem gesellschaftlichen Handeln ab. Andernfalls wäre es ja so, als wenn wir dem System wie den Naturgewalten ausgeliefert wären und es nicht verändern könnten. Das würde ich nicht teilen. Aber daß der Kapitalismus wesenseigen einen Krieg in sich trägt, ist richtig, genauso wie soziale Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung. Das kann man nur beheben, wenn man auch immer die Systemfrage als eine antikapitalistische Frage mit der Friedensfrage verbindet.

Ich arbeite in der Friedensfrage mit jedem zusammen, der dabei die gleiche Position hat wie ich, nicht aber unbedingt meine systemkritische Position teilt. Dennoch würde ihn dann schon mal fragen, ob man nicht über Krieg und Frieden auch zu einer systemkritischen Position kommen sollte.

SB: Herr Braun, haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch.

Straßenbild mit zerstörten Häusern und umgeworfenem Auto - Foto: SPC Mmoses Mlasko, U.S. Army, freigegeben als gemeinfrei via Wikimedia Commons Zerstörtes, mehrgeschossiges Haus ohne Frontseite - Foto: Master RTS, freigegeben als gemeinfrei via Wikimedia Commons

links: Dobrinja, Vorort von Srebrenica, 16. Juni 1996 Foto: SPC Mmoses Mlasko, U.S. Army, freigegeben als gemeinfrei via Wikimedia Commons
rechts: Das Gebäude des Radio- und Fernsehsenders RTS in Belgrad wurde in der Nacht des 23. April 1999 von der NATO bombardiert, dabei wurden 16 Personen getötet und mehrere schwer verletzt. Aufnahme vom 20. November 2005.
Foto: Master RTS, freigegeben als gemeinfrei via Wikimedia Commons


Fußnoten:


[1] Am 3. März 1918 wurde in Brest-Litowsk ein Friedensvertrag zwischen den Mittelmächten (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich und Bulgarien) und Sowjetrußland geschlossen, während gleichzeitig militärisch Druck auf Rußland ausgeübt wurde.

[2] Eine 1905 von Alfred Graf von Schlieffen verfaßte Denkschrift gilt als Vorlage für den Plan des Großen Generalstabs im Deutschen Kaiserreich zur Expansion nach Westen und nach Osten.

[3] Herfried Münkler: Der Große Krieg, Rowohlt Berlin 2013.

[4] http://www.nytimes.com/2003/02/17/world/threats-and-responses-news-analysis-a-new-power-in-the-streets.html

[5] http://www.peaceeventsarajevo2014.eu/

[6] USAID ist als Behörde für Entwicklungszusammenarbeit dem US-Außenministerium unterstellt und dient erklärtermaßen außenpolitischen Zielen der USA. US-Präsident Obama hat im Haushalt 2014 für USAID ein Budget von 20,4 Milliarden US-Dollar beantragt.

[7] Im Mai kam es auf dem Balkan zur schwersten Flutkatastrophe seit 120 Jahren. Zeitweise stand Bosnien zu einem Drittel unter Wasser.

[8] Petra Kelly war Gründungsmitglied der Partei Die Grünen und in der Friedensbewegung aktiv. Gerd Bastian war Generalmajor der Bundeswehr, der sich gegen die geplante Stationierung von nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa (NATO-Doppelbeschluß) wandte und sich der Friedensbewegung anschloß. Die beiden wurden ein Paar. Am 19. Oktober 1992 wurden beide in der gemeinsamen Wohnung in Bonn-Tannenbusch tot aufgefunden. Der offiziellen Version zufolge hat Bastian Kelly im Schlaf erschossen und die Waffe dann gegen sich gerichtet.

[9] Sustainable development (engl.): Nachhaltige Entwicklung.

30. Juni 2014