Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT

INTERVIEW/064: Aufbruchtage - Marktplatz der Retter ...    Clive Spash im Gespräch (SB)


Gegenentwurf Degrowth - Radikalität und Vereinnahmung

Interview am 6. September 2014 an der Universität Leipzig



Prof. Dr. Clive Spash lehrt Public Policy and Governance an der Wirtschaftsuniversität Wien und ist Herausgeber des internationalen Wissenschaftsjournals Environmental Values. Im Rahmen seines wissenschaftlichen Interesses, ökologische und ökonomische, soziale und gesellschaftliche Verhältnisse auf interdisziplinäre Weise zusammenzudenken, um eine möglichst vollständige Analyse sozialökologischer Probleme zu treffen, wirft er immer wieder einen kritischen Blick auf den Stand der internationalen Bemühungen, die Klima- und Ressourcenkrise unter Kontrolle zu bringen[1]. So verfolgt der in Australien gebürtige Vertreter der Fachrichtung Ökologische Ökonomie auch Geschichte und Gegenwart der gesellschaftlichen und politischen Konflikte, mit denen eine sozialökologische Bewegung konfrontiert ist, die sich als resistent gegenüber der Instrumentalisierung durch die Agenturen kapitalistischen Wachstums erweist. Dies war auch Thema in einem Vortrag auf der Internationalen Degrowth-Konferenz in Leipzig [2]. Am letzten Tag dieses Treffens beantwortete Clive Spash dem Schattenblick einige Fragen zu diesen und anderen Themen.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Clive Spash
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Spash, Sie sprachen gestern abend über die Vereinnahmung sozialer Bewegungen durch PR-Strategien und Angebote aller Art, so daß konformistische Formen der Teilhaberschaft an den Interessen multinationaler Konzerne an die Stelle ihrer anfänglichen Radikalität treten. Dabei scheint es sich um eine hochentwickelte Strategie zu handeln. Welche Rolle spielen die großen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in diesem Zusammenhang und was muß eine sich gerade erst formierende Bewegung wie Degrowth tun, um zu verhindern, auf solche Weise gegen die mögliche Radikalität ihres Anliegens immunisiert zu werden?

Clive Spash: Dieser Teil meines Vortrags drehte sich darum, wie Konzerne absichtsvoll während der letzten 20 bis 30 Jahre eine Strategie entwickelt haben, um radikale Bewegungen in den Blick zu nehmen und zu isolieren. Die von den PR-Agenturen eingesetzte Strategie stuft NGOs tatsächlich unter dem Gesichtspunkt ein, wie radikal respektive pragmatisch sie sind. Auf diese Weise haben sie im Grunde genommen eine Taxonomie der NGOs entwickelt. Diese reicht von den radikalen Gruppen, die ideologisch mit dem Interesse der Konzerne so unvereinbar sind, daß sie mit ihnen gar nicht erst in Kontakt kommen, über prinzipienfeste Gruppen typischerweise aus dem kirchlichen Bereich, mit denen man über die Inanspruchnahme ihrer eigenen Ethik in Verhandlung treten kann, bis zu NGO-Mitgliedern, die bereit sind, mit den Konzernen zusammenzuarbeiten und ihre Ziele zugunsten persönlicher Vorteile wie etwa des Erhalts eines Jobs in Frage zu stellen. Um Aktivistinnen und Aktivisten, für die die Frage sozialer Gerechtigkeit einen hohen Stellenwert hat, von der eigenen Sache zu überzeugen, führen sie das Schicksal der Arbeiterinnen und Arbeiter in den multinationalen Konzernen an oder fragen danach, ob nicht das Interesse ihrer Angestellten an einem sicheren Arbeitsverhältnis ebenso wichtig ist wie die Belange der Menschen in den Ländern des Südens.

Indem sie die Argumente der Aktivistinnen und Aktivisten für sich nutzen, fördern sie ein Selbstverständnis, das in der Gruppe der Pragmatiker, auf die sie vor allem abzielen, dominant ist. Diese Menschen wollen das System nicht grundsätzlich verändern und streben keine radikalen Lösungen an, daher sind sie bereit, Kompromisse einzugehen, die ihnen einen kleinen Vorteil bescheren. Dabei denke ich an die großen Umweltschutzorganisationen Worldwide Fund for Nature (WWF) und Greenpeace. Auch große Teile der Friends of the Earth oder BirdLife International sind so vereinnahmt worden. Insbesondere diese Organisationen wurden ins Visier genommen mit dem Ergebnis, daß sie Allianzen mit multinationalen Konzernen oder Ölfirmen eingegangen sind. Das hat dazu geführt, daß sich der ganze Diskurs verändert hat. Wo einst radikale Forderungen zugunsten einer grundsätzlichen Veränderung erhoben und klare oppositionelle Standpunkte bezogen wurden, wird die Debatte heute von neoliberalen Positionen beherrscht. Jetzt geht es darum, neue Märkte zu schaffen und Individuen im klassisch liberalen Sinne anzusprechen. Alles wird auf die vermeintlich freie Wahl des Individuums heruntergebrochen, dessen Entscheidungen durch die richtige Höhe des Preises zu beeinflussen seien. Große Bewegungen werden auf kleine Projekte reduziert. NGOs schrumpfen zu Einpunktbewegungen zusammen, anstatt das große Ganze im Blick zu haben. Die Zerstörung eines Feuchtgebiets wird zugelassen und im Gegenzug erhält die Umweltschutzorganisation ein kleines Stück Land, um einige Tiger zu retten. Prestigeträchtige, aber im Kern bedeutungslose Projekte bestimmen das Feld. Darin besteht die Gefahr dieser seit langem angewendeten Strategie.

Folie aus dem Vortrag von Clive Spash - Foto: 2014 by Schattenblick

Individualisierungsstrategie vs. Gesellschaftskritik
Foto: 2014 by Schattenblick

Ich habe gestern abend zu vermitteln versucht, daß sich die Degrowth-Bewegung dessen bewußt sein muß. Wenn man weiß, was der Gegner tut, ist man immer im Vorteil. Seid nicht naiv, macht euch nicht vor, daß es ausreichen würde, das Verhalten des einzelnen Menschen zu verändern, um die Welt zu verändern. Ihr müßt euch darüber im klaren sein, es mit Menschen zu tun zu haben, die euren Erfolg dazu nutzen werden, um mit ihrer Strategie erfolgreich zu sein. Man wird euch angreifen, weil ihr gegen die Ölkonzerne, die Automobilindustrie, die Flugzeugindustrie, die Raumfahrtindustrie, die Telekommunikationskonzerne, die IT-Unternehmen, die Mobilfunkunternehmen und nicht zuletzt den militärisch-industriellen Komplex steht. All diese Akteure müssen sich von einer Degrowth-Gesellschaft bedroht fühlen. Macht euch nichts vor, denn sie werden reagieren, wenn wir erfolgreich sind. Wir fangen gerade erst an, und deshalb geht von uns momentan nicht die geringste Bedrohung aus. Das heißt jedoch nicht, daß dort keine Leute eingesetzt sind, die die Entstehung einer solchen Bewegung aufmerksam beobachten.

Einige Leute dieser Bewegung werden sich möglicherweise auf Verhandlungen einlassen, um dann in einigen Jahren die Zusammenarbeit mit dem multinationalen Unternehmen, das organische Nahrungsmittel herstellt und ein Fair-Trade-Siegel besitzt, als Errungenschaft darzustellen. Dabei sagen sie: Ihr redet seit zehn Jahren davon, was nicht alles getan werden muß, aber wir erreichen wenigstens etwas. Spätestens dann könnte sich die Bewegung spalten. Um das zu verhindern, müssen sich die Aktivistinnen und Aktivisten dieser Problematik von Anfang an bewußt sein. Genau das ist der Umweltbewegung passiert, die meiner Ansicht nach auf ganzer Linie gescheitert ist. Was hat sie in 30 Jahren erreicht? Was sie in den 1970er Jahren erkämpft hat, geht heute tagtäglich verloren. Gesetzliche Auflagen werden zurückgenommen, die Biodiversität schwindet, das Klima wird zerstört. Umweltgifte werden nach wie vor und in zunehmendem Maße freigesetzt, und niemand denkt daran, sie zu beseitigen. Innovationen erfolgen am laufenden Band, aber was bringen uns die neuen Technologien? Neue Verschmutzungen und neue Formen der Ausbeutung!

Wir müssen den Menschen klarmachen, daß wir über eine Gegenstrategie verfügen, doch vor allem muß ihnen begreiflich gemacht werden, wie wichtig es ist, diese Problematik anzusprechen. Seid nicht so naiv zu glauben, daß die Botschaft, die persönliche Lebensweise zu verändern, genügen würde, um wirklich etwas zu erreichen.

SB: Gibt es Ihrer Ansicht nach eine Verbindung zwischen der Wachstumslogik und der angeblichen Notwendigkeit, Kriege zu führen?

CS: Definitiv. Die Art und Weise, wie die Ressourcen für unsere Wachstumswirtschaft verfügbar gemacht werden, hat unmittelbar mit militärischer Logik zu tun. Alle führenden Wirtschaftsnationen wie auch die BRICS-Staaten, aber ebenso Entwicklungsländer investieren ins Militär. Waffen werden benötigt, um die Versorgung mit Rohstoffen sicherzustellen. Schließlich muß man die seltenen Erden für das Mobiltelefon irgendwo herbekommen und den Nachschub absichern. Wir leben in einer fossilen Wirtschaft, die auf stetigen Zufluß fossiler Energien angewiesen ist. Wenn man diese nicht im eigenen Land fördern kann, muß man sie woanders hernehmen. In derselben Geschwindigkeit, in der man sie verbraucht, müssen sie auch bereitgestellt werden. So ist Kanada aus dem Kyoto-Protokoll ausgestiegen, um Fracking im großen Stil zu betreiben.

Ressourcenkriege finden seit langem statt, und sie werden immer intensiver ausgetragen. Es wurden bereits größere Kriege im Mittleren Osten um Öl geführt. Regimes werden destabilisiert, wobei die Geheimdienste eine wichtige Rolle spielen. Diese Entwicklung reicht zurück bis in die 1930er und 1940er Jahre. Der Zusammenhang zwischen der Ölindustrie und dem Regimewechsel im Irak ist allgemein bekannt. Nichts an diesem Imperialismus ist neu. Uli Brand hat das sehr gut ausgedrückt, als er sagte, daß unsere Gesellschaften um die Ausbeutung anderer herum errichtet wurden. Leider ist jeder von uns daran beteiligt. Ihr Aufnahmegerät, Ihre Kamera, die Kleidung, die ich trage, das Plastik in meiner Sonnenbrille, was auch immer, kommt irgendwo her. Um diese Dinge herzustellen, braucht man Petrochemie, was wiederum Ausbeutung impliziert.

Die große Herausforderung für uns besteht darin zu erkennen, daß wir alle in diesen Strukturen gefangen sind. Wir haben über den Verbrauch dieser Materialien teil daran, daß Kriege geführt werden, und müssen uns überlegen, wie wir das verändern können. An diesem System teilzuhaben heißt, daß unser alltägliches Leben ein imperialistisches Leben ist.

Clive Spash im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Degrowth im Spiegel sozialer und gesellschaftlicher Widersprüche
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Wie würden Sie den Zusammenhang zwischen der persönlichen Teilhaberschaft, die Sie beschreiben, und der größeren gesellschaftlichen Organisation erklären?

CS: Das ist das große Problem der politischen Systeme und unseres Kampfes für Demokratie. Einerseits wird uns gesagt, daß wir demokratische Macht haben, daß wir wählen und das System verändern können. Wir können uns aussuchen, was wir kaufen, und darüber Einfluß auf die Produktion nehmen. Oberflächlich betrachtet stimmt das. Andererseits kann ich vom Markt nicht alles verlangen, was ich will, und es auch bekommen. Man befindet nicht wirklich darüber, was alles hergestellt wird und was nicht.

Ich kann die Gesellschaft nicht in eine Degrowth-Gesellschaft verwandeln, indem ich lediglich die Verhältnisse in meinem Dorf oder mein Verhalten verändere. Wir haben es mit verschiedenen Ebenen der Governance bzw. mit unterschiedlichen Machtstrukturen zu tun. Es gibt Dinge, die man auf sehr direktem Wege im eigenen Leben erreichen kann. So kann man Sinnvolles schnell auf lokaler Ebene oder durch den Kontakt mit Freunden verwirklichen. Je mehr man jedoch auf die Ebene der Stadt und der Region oder die nationale und internationale Ebene gelangt, desto mehr haben wir es mit Strukturen zu tun, über die wir als Individuen keinerlei Kontrolle ausüben. Sie werden von Organisationen kontrolliert, die auf dieser Ebene geschaffen wurden.

Auf dieser größeren Ebene wirksam zu werden bedeutet, wie die Gewerkschaftsbewegung vorzugehen, die sich organisiert hat, um den kapitalistischen Eigentümern Forderungen zu stellen. Sie konnte dies nur mit Solidarität und der Bildung institutioneller Strukturen auf dieser Ebene erreichen. Damit wurde aber nicht die übergeordnete Struktur verändert. Um dies zu tun, brauchte man eine Institution, die auf dieser Ebene arbeitet. Also sind Solidarität und Institutionen erforderlich, um auf verschiedenen Ebenen kämpfen und tatsächlich eingreifen und Personen herausfordern zu können, die auf dieser Ebene operieren. Damit stellt sich die Frage: Wie tut man das, ohne durch existierende Machtstrukturen korrumpiert zu werden?

Also gründet man eine grüne Partei, die sich im Laufe der Zeit an die anderen Parteien anpaßt und damit in Hinsicht auf das ursprüngliche Anliegen scheitert. In den 1970ern wurden radikale ökologische Parteien gegründet, die sich im Verlauf des politischen Prozesses normalisierten. Sie gehen häufig einen Kuhhandel mit anderen Parteien ein. Wenn ihr euer Gesetz gegen Atomkraft, gegen Kohlestrom oder andere fossile Energieerzeuger durchbringen wollt, dann müßt ihr mein Freihandelsabkommen mit eurer Stimme unterstützen. So ist dieses System funktional organisiert.

Um die Kooptation zu vermeiden, muß man dieses System umkrempeln. Es reicht nicht aus, neue Institutionen zu bilden, es geht auch darum, die Gesellschaft zu verändern. Die größte Herausforderung entspringt der Frage: Wie schaffen wir eine demokratischere Gesellschaft oder eine sinnvolle Demokratie? Wie verändern wir das Konzept der Demokratie, um etwas zu verwirklichen, das diesem Namen tatsächlich gerecht werden würde?

Womit wir es heute zu tun haben, ist zumindest meiner Ansicht nach keine Demokratie. Es enthält keinen einzigen Aspekt, den wir uns unter demokratisch vorstellen, wie Bürgermacht, die Fähigkeit, politische Entscheidungen zu beeinflussen oder eine direkte Antwort des Systems auf das eigene Anliegen zu erwirken. Das geschieht nicht, wenn man alle paar Jahre seinen Stimmzettel in einen Kasten wirft. In vielen Ländern findet nicht einmal eine proportional angemessene Repräsentation der Bevölkerung statt. In Deutschland ist es etwas besser.

Bei den großen Organisationen, die es seit langem gibt wie etwa die entwicklungspolitische Bewegung, geht es zum Teil darum, echte Partizipation auf lokaler wie regionaler Ebene herzustellen, was gut und schön ist. Aber das ist nur ein Teil der Geschichte, und von daher habe ich immer die Sorge, daß die kommunal und regional aktiven Bewegungen auf dieser Ebene verbleiben. Globalisierung wird meist als schlecht und zerstörerisch angesehen. Doch gut an der Internationalisierung unserer Gesellschaft, wie man besser dazu sagen sollte, ist, daß wir viel mehr Kommunikationsmöglichkeiten besitzen und darüber gegenseitiges Verständnis entwickelt haben.

Gegen den anderen in den Krieg zu ziehen, wenn man weiß, daß es Menschen sind, die man nicht entmenschlichen und zu den bedrohlich Anderen machen kann, ist für den Militärapparat viel schwieriger plausibel zu machen. Man kann Menschen nur dazu bringen, sich gegenseitig zu töten, wenn man sie zu den Anderen, zu Objekten macht. An der Möglichkeit zur Regionalisierung besorgt mich der Rückschritt, den man macht, wenn man sich in Gemeinschaften mit regionalem Bezug aufteilt, für die die anderen Regionen die jeweils Anderen sind.

Wenn wir im Zuge dessen bei den anderen Ressourcen entdecken, die wir benötigen, dann fallen wir zurück ins Mittelalter oder den 30jährigen Krieg. Wir streifen in kleinen Heeren durch Europa und kämpfen darum, den Menschen Ressourcen rauben zu können. Das ist eine wirkliche Sorge. Wir sollten die Internationalisierung der Welt und einiger Institutionen wie der Internationalen Erklärung der Menschenrechte, friedenserhaltender Maßnahmen und der Fähigkeit, Diktatoren und ausbeuterische Regimes anzuprangern, ohne dafür Krieg zu führen und militärisch zu intervenieren, nicht schlechtmachen. Daß die Vereinigten Staaten ein unilateraler Akteur geworden sind und internationales Recht brechen, daß sie in unabhängige Staaten eindringen und Menschen umbringen, ihre Leichen im Meer versenken und behaupten, daß dies eine rechtmäßige Handlung sei, ist eine traurige Entwicklung. Wie würden die Vereinigten Staaten reagieren, wenn jemand ihren Präsidenten ermordete, ins Meer werfen und behaupten würde, das sei ein rechtmäßiger Akt? Ich glaube nicht, daß sie das für eine gute Idee hielten.

Folie aus dem Vortrag von Clive Spash - Foto: 2014 by Schattenblick

Wer ist frei vom "imperialen Lebensstil"?
Foto: 2014 by Schattenblick

SB: Viele der Errungenschaften, die man in den 1960er und 1970er Jahren erkämpft hat, wurden oder werden wieder rückgängig gemacht. Sollte eine insgesamt sehr junge Bewegung wie Degrowth versuchen, aus den Gegenstrategien zu lernen, mit denen der damalige Aufbruch neutralisiert wurde?

CS: Ich denke, dazu ist die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung besonders interessant. Die Entstehung der Direkten Aktion und des zivilen Widerstands ist untrennbar mit den dagegen gerichteten Reaktionen des Staates verknüpft. In den späten 1960er Jahren wurden die Bürgerrechts- und Antikriegsbewegungen massiv bekämpft. In der Folge wurden Regierungen gewählt, die konservativer und rechtslastiger waren als ihre Vorgänger. Das negative Ergebnis dieses Widerstands bestand darin, daß Politiker wie zum Beispiel Nixon an die Macht gelangten. Er war bereit, alle Regeln zu brechen und die Demokratische Partei mit den Mitteln der Spionage zu zerstören, wobei er allerdings erwischt wurde.

Auf der positiven Seite ist festzustellen, daß es zu institutionellen Veränderungen wie der Gründung von Umweltschutzbehörden und der gesetzlichen Verankerung ökologischer Standards gekommen ist. Den Afroamerikanern wurden Rechte zugesprochen, die Menschen erstritten bessere Bildungssysteme, die Ausbeutung wurde zum Thema gemacht. Noch in den späten 1970er Jahren war der Umweltschutz eine eher randläufige Angelegenheit, doch heute ist er ein zentrales Anliegen der Politik, und das ist zum Teil ein Ergebnis der Umweltschutzbewegung, die diese Themen auf die Agenda brachte. Die Vereinten Nationen debattieren ökologische Probleme. So gesehen gibt es auch Resultate, die etwas bewirken.

Insgesamt muß man der Bewegung jedoch ihr Scheitern attestieren, weil die Entwicklung rückwärts verläuft. Wir müssen lernen zu verstehen, warum dies geschah, welche Ursachen für diese regressive Tendenz verantwortlich zu machen sind. Die Hippies und die radikalen Linken, die hinter der Umwelt- und Bürgerrechtsbewegung standen, wurden zu Yuppies. Und die Yuppies, die in den 1980ern auf die Märkte und an die Börsen gingen, erlangten einflußreiche Stellungen in den administrativen Strukturen. Wenn man Marketingstrategien entwirft, Produkte verkauft, anfangs vielleicht mit hübschem Hippie-Design verziert, dann wieder punkiger gestaltet, um den nächsten Modetrend aufzugreifen, läuft man Gefahr, auf dieser Spur auszurutschen, wenn man nicht die Strukturen beim Namen nennt, die die Gesellschaft wesentlich bestimmen.

Was geschieht mit den jungen Menschen, die zur Degrowth-Konferenz gekommen sind, in fünf Jahren? Werden sie noch radikal sein, wenn sie die Phase hinter sich haben, in der sie durch die Welt reisten und sich engagierten, jetzt jedoch einen wirklichen Beruf ergreifen müssen? Wie wird dieser Beruf aussehen? Werden sie sich einfach wie die Hippies in Yuppies verwandeln? Als Professor der Ökologischen Ökonomie werde ich häufig gefragt: Welchen Job werde ich bekommen, wenn ich Ihrem Weg folge? Ich hatte mir nie Sorgen um eine Anstellung machen müssen. Wenn ich arbeitslos wurde, mußte ich mich eben um einen neuen Job kümmern. Ich mußte aber meine Überzeugungen nicht verleugnen, um eine Anstellung zu bekommen. Das hat immer funktioniert. Aber heute werden einige Stellen für Professoren der Ökologischen Ökonomie nicht besetzt, weil es nicht genug Leute gibt, die dafür radikal genug sind. Das führt dazu, daß sie an konformistische Gelehrte vergeben werden.

Auch die Ökologische Ökonomie ist vom Konflikt zwischen radikalem und konformistischem Denken betroffen. Ich habe über den Einfluß des Neuen Ökologischen Pragmatismus auf diese Bewegung geschrieben. Die Marktlogik, der Standardjargon der Wirtschaftswissenschaften und der Diskurs der Mainstream-Ökonomie setzen sich immer mehr durch, obwohl das zentrale Anliegen der Ökologischen Ökonomie darin bestand, etwas anderes zu entwickeln. Man wollte den konventionellen Wirtschaftswissenschaften auf akademischer Ebene entgegentreten, sich davon absetzen und das herrschende ökonomische Denken verändern, doch inzwischen ist auch die Ökologische Ökonomie sehr konformistisch geworden.

Dieser Bruch zeigt sich auch hier auf der Degrowth-Konferenz. Viele Wissenschaftler, die sich noch zur Ökologischen Ökonomie zählen, doch darin keine radikalen Ansätze mehr finden, sind eigens aus diesem Grund hierhergekommen. Auch in den Wissenschaften findet ein fortwährender Kampf statt. Wenn man erfolgreich ist, wird man zum Ziel der Imperialisten. Wenn du eine Bedrohung für mich darstellst, kann ich dich entweder vereinnahmen oder isolieren. Die Ökonomie ist als akademische Disziplin extrem imperialistisch. Über die Veröffentlichungspraxis in wissenschaftlichen Journalen, den Zugang zu den Wirtschaftswissenschaften und das persönliche Ansehen wird sehr viel Kontrolle ausgeübt und die Debatte dementsprechend beeinflußt. Das geschieht an der Universität wie auch in den sozialen Bewegungen, so daß wir vor den gleichen Problemen stehen.

SB: Wie bewerten Sie das Konzept der wissenschaftlichen Utopie?

CS: Die Debatte über alternative Gesellschaftsformen und die Veränderung der durch Arbeit gebildeten Beziehungen geht zurück bis in die Ära der sozialistischen Romantik im späten 17. Jahrhundert. In dieser Zeit entwarf Robert Morris in seinem Buch "News from Nowhere" eine sehr romantische Zukunftsvision der Welt. In dem Buch wird eine Diskussion darüber geführt, wie eine alternative Gesellschaft ohne Geld und kommerzielle Güterwirtschaft auf Basis einer handwerklich geprägten Produktionsweise und mit neuen Gemeinschaftsformen vorstellbar wäre. Es wird auch überlegt, wie man Straßen baut, wer sie sauberhält, wie man Abwässer entsorgt usw. Man kann es als Gedankenexperiment benutzen, aber es geht nicht um eine wirkliche Welt. Es ist der Traum einer zukünftigen Welt, und so ist das Buch auch geschrieben.

Anders als Morris spreche ich über eine wissenschaftliche Utopie, bei der die Frage gestellt wird, wie wir auf realistische Weise eine andere Welt errichten können. Es geht um die Größe des menschlichen Lebensraums im Verhältnis zu der Notwendigkeit, den Verbrauch an energetischen und stofflichen Grundlagen zu reduzieren. Es geht auch um die Veränderung unserer Produktionsweise und die Beschaffenheit unseres Lebens gemäß der Forderung, Ausbeutung und Verschmutzung, Landgrabbing und Ressourcenkriege oder die Zerstörung der Wälder Südamerikas zur Herstellung von Rindfleischburgern zu verhindern.

Wie könnte unsere Gesellschaft aussehen, wenn wir all das beseitigt haben? Welche stofflichen Prozesse werden in unserer Wirtschaft stattfinden, wie wird es um das Verhältnis von Energieeinsatz und -ergebnis bestellt sein, wie viele Ressourcen können wir als Individuen verbrauchen? Dabei geht es nicht nur um das CO2-Budget, sondern um alle möglichen stofflichen Erfordernisse. Ohne die Notwendigkeit, seltene Erden zu importieren, brauchen auch keine Ressourcenkriege in Afrika geführt zu werden. Wenn wir uns daran nicht beteiligen, dann können wir die Mobiltelefone abschaffen. Das wiederum verändert die Gesellschaft und wirft die Frage auf, wie die Kommunikation zu organisieren ist.

Was ist mit dem Verkehrsproblem? Viele Menschen haben Angst vor dem Verlust von Freiheiten, wenn sie kein Auto mehr haben. Wie erhalten wir also Freiheit in der Gesellschaft? Und welche Art der Freiheit droht verlorenzugehen? Ist man wirklich frei, wenn man täglich zwei Stunden in einer Blechkiste sitzt, die Abgase ausstößt? Das ist ein bizarres Konzept von Freiheit. Viele dieser Freiheiten müssen auf wissenschaftliche Weise überprüft werden. Das kann man auf psychologischer und sozialer Ebene tun, aber auch in Hinsicht auf ihren Einfluß auf die ökonomischen Strukturen. Welchen Einfluß hätte es auf Deutschland, wenn man die Autoindustrie abschaffte? Was geschieht, wenn wir die Verwertung fossiler Energieträger beenden? Was geschieht mit den Gemeinden und den Arbeitern, die davon abhängig sind?

Eine wissenschaftliche Utopie will herausarbeiten, wie eine künftige Gesellschaft aussehen könnte, wie die Menschen leben und arbeiten und Werte pflegen und erhalten können, die uns wichtig sind. Gemeinschaft, Freiheit, Demokratie sind Werte, die uns versprochen, aber häufig genug nicht eingelöst werden.

Was bedeutet Sicherheit, um die sich heutzutage alles zu drehen scheint? Ist es Sicherheit, wenn das Militär das Land beschützt und die Polizei mit Schußwaffen ausgestattet wird, um die Menschen daran zu hindern, aufeinander loszugehen? Oder ist es Sicherheit, wenn man in einer Gemeinde lebt, in der man die Tür nicht abzuschließen braucht, weil man nicht befürchten muß, beraubt, vergewaltigt oder ermordet zu werden? Die heute auf die Frage nach Sicherheit gegebene Antwort ist die denkbar schlechteste, so daß es viel besser wäre, eine Alternative in Form einer wissenschaftlichen Utopie zu entwerfen. Dabei handelt es sich auch um eine realistische Position, denn wir hatten schon Gemeinschaftsformen, in denen die Menschen nicht beraubt, vergewaltigt und ermordet wurden, ohne daß sie sich auf besondere Weise davor schützen mußten, wo die Menschen nicht mit Waffen herumliefen und behaupteten, es sei ihr gottgegebenes Freiheitsrecht. Die bizarren Gesellschaften, die wir geschaffen haben, könnte man auch als Ergebnis dystopischer Visionen bezeichnen.

SB: Herr Spash, vielen Dank für das ausführliche Gespräch.

Badewanne mit Pflanzen und Schild 'Keine Angst vor weniger' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Wo kommt die Angst her?
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Better Growth, Helping the Paris COP-out? Fallacies and Omissions of the New Climate Economy Report
https://ideas.repec.org/p/wiw/wiwsre/sre-disc-2014_04.html

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0035.html

Webauftritt von Clive Spash mit zahlreichen Texten zu sozialökologischen Themen
http://www.clivespash.org/maincs.php?page=home&style=default


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

BERICHT/028: Aufbruchtage - Brauch- und Wuchskultur auf die Gegenspur ... (SB)
BERICHT/029: Aufbruchtage - Schuld und Lohn ... (SB)
BERICHT/030: Aufbruchtage - Umkehr marsch ... (SB)
BERICHT/031: Aufbruchtage - Kapital gezähmt ... (SB)
BERICHT/032: Aufbruchtage - Quadratur des Kreises und wie es doch zu schaffen ist ... (SB)
BERICHT/033: Aufbruchtage - Mensch- und umweltfreundlicher Verkehr ... (SB)
BERICHT/034: Aufbruchtage - Die Praxis eines jeden ... (1) (SB)
BERICHT/035: Aufbruchtage - Die Praxis eines jeden ... (2) (SB)
BERICHT/036: Aufbruchtage - Die Praxis eines jeden ... (3) (SB)
INTERVIEW/056: Aufbruchtage - Hoffen auf den Neubeginn ...    Tadzio Müller im Gespräch (SB)
INTERVIEW/057: Aufbruchtage - Zwei Seiten einer Medaille ...    Nicola Bullard im Gespräch (SB)
INTERVIEW/058: Aufbruchtage - Sozialökonomie ...    Éric Pineault im Gespräch (SB)
INTERVIEW/059: Aufbruchtage - Entfremdungsfreies Schaffen ...    Stefan Meretz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/060: Aufbruchtage - Neue Formen des Protestes ...    Bengi Akbulut im Gespräch (SB)
INTERVIEW/061: Aufbruchtage - Gemeinschaft wecken ...    Barbara Muraca im Gespräch (SB)
INTERVIEW/062: Aufbruchtage - Beweglich, demokratisch und global ...    Maggie Klingler-Lauer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/063: Aufbruchtage - Mut zum großen Wandel ...    Hans Thie im Gespräch (SB)

3. November 2014


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang