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INTERVIEW/066: Aufbruchtage - Avantgardebereinigt und zusammen ...    Ashish Kothari im Gespräch (SB)


Initiativen bündeln für ein alternatives Indien

Gespräch mit Ashish Kothari am 5. September 2014 in Leipzig


Ashish Kothari während des Interviews - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ashish Kothari
Foto: © 2014 by Schattenblick

Indien gehört zu den am stärksten vom Klimawandel betroffenen Ländern. Hier wie andernorts wird sich der schon heute für Millionen Menschen verheerende Mangel an Nahrungsmitteln und Trinkwasser nur noch weiter verschärfen können, sollte es nicht zu dem von Experten vorgeschlagen und angemahnten, von politischen Verantwortungsträgern jedoch nicht einmal in Aussicht gestellten fundamentalen Wandel in der Umweltpolitik, aber mehr noch in den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen und Strukturen kommen. Daß es auf einem endlichen Planeten kein unendliches Wachstum geben kann, ist eine der Kernaussagen all jener Wachstumskritikerinnen und -kritiker, die unter dem Stichwort "Degrowth" eine solche Zäsur nicht nur fordern, sondern aktiv herbeizuführen bemüht sind. Die von ihnen propagierte Abkehr vom Wachstumsdogma ist zu gleichen Teilen dem Erhalt der Lebensgrundlagen durch eine ökologische Nachhaltigkeit gewidmet wie der Lösung der brennenden sozialen Fragen.

An der 4. Internationalen Degrowth-Konferenz in Leipzig nahm mit Ashish Kothari ein indischer Soziologe und Umweltwissenschaftler teil, der seit Jahren intensiv an diesen Fragen arbeitet. Bereits in den 1990er Jahren unterrichtete er Umwelttechnik am Indischen Institut für Öffentliche Verwaltung, auch war er an vielen Universitäten, Instituten und Forschungskollegs als Gastdozent tätig. Er ist Gründungsmitglied der indischen Umweltgruppe Kalpavriksh, arbeitet im Vorstand von Greenpeace India und hat bereits über 30 Bücher verfaßt bzw. herausgegeben.

An der Leipziger Konferenz nahm er an mehreren Veranstaltungen als Referent teil. Er stellte sein neuestes Buch "Churning the Earth" [1] und das indische Konzept einer "Radikal-ökologischen Demokratie" [2] als eine mögliche Antwort auf die sozialen und klimawandelbedingten Probleme und Herausforderungen unserer Zeit vor. Im Anschluß an diesen Vortrag hatte der Schattenblick die Gelegenheit, Herrn Kothari einige Fragen zur Situation der vielen Initiativen und Kooperativen, die sich schon heute für ein alternatives Indien engagieren, sowie der allgemeinen Lage im Lande zu stellen.


Schattenblick: Radikal-ökologische Demokratie ist Ihr Arbeitsschwerpunkt, über dieses Thema haben Sie auch hier in Leipzig gesprochen. Könnten Sie unseren Lesern erklären, was Sie unter diesen Begriffen verstehen und welche Bedeutung dieser Idee im heutigen Indien zukommt?

Ashish Kothari: Das Wort "radikal" kommt aus dem Lateinischen und bedeutet "Wurzel" oder "zu den eigenen Wurzeln zurückzukehren"; "ökologisch" bezieht sich auf die Erde, auf der wir leben, die Ökosysteme, die uns erhalten, und die Natur, von der wir Menschen ein Teil sind; und "Demokratie" bedeutet "Herrschaft des Volkes". Wenn wir diese drei Dinge zusammenführen, wollen wir damit sagen, daß es sich um einen Prozeß oder ein System handelt, in dem die ganz normalen Menschen an den Entscheidungsprozessen teilhaben. Die politische Macht soll dabei nicht auf andere übertragen werden, sondern in den Händen der Menschen und den von ihnen gebildeten Basisgemeinschaften verbleiben. Die entsprechenden Entscheidungsprozesse sollen ökologisch nachhaltig und vernünftig sein, auch was die sozialen Anforderungen - Gleichheit, Gerechtigkeit etc. - betrifft.

In Indien gibt es eine ganze Reihe von Graswurzel-Initiativen, kommunalen Gemeinschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen, in denen diese Aspekte realisiert und erfolgreich umgesetzt werden. Es sind Orte, in denen - entweder in Dörfern oder Städten - Menschen die Kontrolle über ihr Leben wieder übernommen haben. Sie versuchen, ihre Grundbedürfnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung, der Bildung und so weiter aus eigener Kraft zu gewährleisten auf eine ökologisch nachhaltige Weise, von der alle profitieren können. Es ist also nicht so, daß einige wenige Menschen reich werden, während andere arm bleiben. Aber gleichzeitig versuchen sie auch, die Regierung zur Verantwortung zu ziehen, was die Sozialleistungen und weitere Verpflichtungen des Staates betrifft.

SB: Wie sieht es mit der Eigentumsfrage aus? Wem gehört das Land?

AK: Das ist von Ort zu Ort verschieden. Es gibt Dörfer, in denen sich das Land fast vollkommen im Besitz der Gemeinschaft befindet oder von ihr verwaltet wird. In anderen sprechen die Bewohner überhaupt nicht von Landbesitz. Sie sind der Ansicht, daß das Land niemandem als Eigentum gehören sollte und verstehen sich als dessen Hüter und Sachwalter. An wiederum anderen Orten gibt es eine Mischung von Gemeinde- und Privateigentum. Agrarland zum Beispiel ist meistens in Privatbesitz. Aber in einigen Initiativen haben Dorfgemeinden tatsächlich den privaten Landbesitz in Gemeinschaftseigentum (Commons) überführt. Natürlich gibt es auch Orte, wo das Land komplett der Regierung gehört, aber dennoch von den Gemeinden kontrolliert und verwaltet wird.

SB: Sie haben den Nationalen Aktionsplan in Indien koordiniert. Worum ging es dabei? Dient er auch der Hunger- und Armutsbekämpfung?

AK: Das war der nationale Biodiversitätsstrategie- und Aktionsplan, aber wir haben den Begriff der Biodiversität sehr breit gefaßt. Er umfaßt natürlich die Wälder, das Meer, die Feuchtgebiete und so weiter, aber auch die Agrobiodiversität, das Vieh etc., also die ganze Bandbreite der biologischen Ressourcen, von denen das unmittelbare Überleben und der Lebensunterhalt von etwa 600 bis 700 Millionen Menschen abhängen. Das wurde alles in den Plan miteinbezogen. Wir haben uns die sozialen, politischen, kulturellen, ethischen und spirituellen Aspekte der Biodiversität im Leben der Menschen sowohl in den Dörfern als auch in den Städten angesehen.

Wir haben vier Jahre lang im ganzen Land Befragungen durchgeführt. Mindestens 50.000 Menschen haben an den Versammlungen und öffentlichen Anhörungen, Festivals und Kundgebungen und allen möglichen weiteren Aktivitäten, mit denen wir die Menschen ansprechen konnten, teilgenommen. Auf der Basis alldessen wurden dann rund 100 verschiedene Pläne aufgestellt, einige auf lokaler, andere auf staatlicher Ebene. Auch haben wir Teams gebildet, die durchs ganze Land gefahren sind, zum Beispiel zum Thema "Gesundheit und Biodiversität", "Bildung und Biodiversität" und so weiter. Der nationale Aktionsplan wurde dann auf dieser Grundlage entworfen.

Bedauerlicherweise ist die Regierung, die bis dahin den Prozeß unterstützt und uns mit diesem Vorhaben beauftragt hatte, in der letzten Phase abgesprungen - möglicherweise, weil der Nationale Aktionsplan relativ radikal war. Er besagte im wesentlichen, daß eine Menge grundlegender Veränderungen notwendig sind sowohl in der Wirtschaft als auch im Regierungshandeln. So war der Plan am Schluß kein offizieller.

SB: Das heißt, er wurde gar nicht umgesetzt?

AK: Ein wenig schon. Weil es einen so breitgefächerten Befragungsprozeß gegeben hatte, wurden viele der lokalen und zum Teil auch der staatlichen Pläne umgesetzt, diese aber nur auf kommunaler Ebene, also nicht der nationale Plan insgesamt. Dennoch haben wir manches auf andere Weise nutzen können. In Indien gibt es einen Fünfjahresplanungsprozeß für das ganze Land, und in zwei Fünfjahrespläne konnten wir einige Elemente aus unserem Aktionsplan so einbringen, so daß sie schließlich von der indischen Planungskommission beziehungsweise den Behörden übernommen wurden. Aber aufs Ganze gesehen war das nicht so von Erfolg gekrönt, wie wir es uns erhofft hatten. Die Regierung hatte sich einfach daraus zurückgezogen und dann einen eigenen Aktionsplan entwickelt, der eine sehr verdünnte Version dessen darstellte, was wir zuvor erarbeitet hatten.

SB: Sie sind zur Degrowth-Konferenz nach Leipzig gekommen und haben hier an einigen Veranstaltungen teilgenommen. Wie wird Degrowth in Indien gesehen?

AK: Degrowth ist kein Begriff, der in Indien verwendet wird. Wenn man bei uns losgehen und die Menschen danach fragen würde, würden die meisten nicht wissen, was das ist. Das liegt natürlich daran, daß Degrowth im europäischen Kontext entstanden ist, wo alle Länder ganz klar sämtliche Grenzen, an die das Wachstum hätte stoßen dürfen, weit überschritten haben. Für Indien ist der Wachstumsfetisch genauso gefährlich, wie er es überall anderswo auch war. Es gibt etwa 100 oder 200 Millionen Menschen in Indien, die Mittelklasse, die ihre individuellen ökologischen Grenzen bereits weit überschritten haben. Dennoch wäre, wer in Indien über Degrowth spräche, in erheblichem Maße mit Irritation, Feindseligkeit und Widerspruch konfrontiert, weil man bei uns allgemein das Gefühl hat, daß Indien ein Land sei, das noch weiter wachsen müsse wegen der 700 bis 800 Millionen Menschen, die bei uns arm sind.

Ich persönlich sehe das nicht so. Ich denke nicht, daß Wachstum die Antwort auf Armut und Mangel sein kann, jedenfalls nicht die Art des Wirtschaftswachstums, die wir kennen. Aber, um Ihre Frage zu beantworten: Das Wort Degrowth ist in Indien einfach nicht bekannt. Zufälligerweise wird es in der nächsten Woche einen Workshop über Grünes Wachstum und Degrowth geben, den jemand anderes organisiert hat. Dann werden wir sehen, welche Reaktionen es darauf gibt.

SB: Der Nord-Süd- oder besser Süd-Nord-Konflikt spielt hier auf der Konferenz eine recht große Rolle. So wurde bereits angesprochen, daß aus Sicht vieler Menschen des globalen Südens Leute aus Europa oder den USA häufig so auftreten, als wollten sie ihnen erklären, wie sie ihr Leben in einem kapitalistischen, Degrowth- oder sonstwie gearteten System gestalten sollten. Glauben Sie, daß dieser Vorwurf, was Degrowth betrifft, begründet ist?

AK: Ich nehme an, daß es unterschiedliche Ansätze innerhalb der gesamten Degrowth-Bewegung gibt. Ich persönlich habe solche Erfahrungen nicht gemacht. Mein Eindruck ist, daß sich die Menschen hier in Leipzig oder zumindest die Leute, die die Konferenz organisieren, dieses Problems bewußt sind. Es ist nicht so, daß sie Degrowth dem Süden aufzwingen wollen. In den Diskussionen, die ich gehabt habe, und anderen Sessions, die ich besuchte, gab es doch den von allen Beteiligten klar formulierten Wunsch, eine Zusammenarbeit zu entwickeln und Bündnisse zu schließen. Hoffentlich gibt es hier auch die Offenheit, sich auf andere Arten des Zusammenlebens einzulassen, auf alternative Formen, wie sich die Gesellschaft organisieren könnte, um sich in Richtung Nachhaltigkeit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit zu bewegen, was nicht zwingend in den Rahmen von Degrowth paßt.

Mindestens in zwei oder drei Workshops, bei denen ich war, gab es diese Art Offenheit, und das ist wirklich eine gute Sache. Wenn die Degrowth-Bewegung sich vollständig verabschieden würde von der von Ihnen angesprochenen postkolonialistischen Tendenz, anderen etwas aufzwingen zu wollen, wenn wir also gleichberechtigte Allianzen bilden und voneinander lernen könnten, wäre das wunderbar. Wie Sie wissen, sind der globale Süden und der Norden nicht wirklich getrennt voneinander zu verstehen, und dennoch haben wir in Ländern wie Indien unsere eigenen internen Probleme zu lösen. Meiner Auffassung nach geht es im Süd-Nord-Verhältnis darum, Allianzen der Gemeinschaftlichkeit und Gleichheit zu schaffen und einander sogar auf konstruktive Weise, im Geiste der Zusammenarbeit, zu kritisieren, wenn man der Meinung ist, daß etwas falsch läuft. Ich denke, wenn wir uns diese Offenheit bewahren, wird sich die Vergangenheit nicht wiederholen.

Foto: © 2014 by Schattenblick

Ashish Kothari mit SB-Redakteurin
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Halten Sie es für möglich, die Degrowth-Idee innerhalb des Kapitalismus zu entfalten? Besteht die Chance, einen solchen Wandel durch Reformen herbeizuführen oder wäre dafür eine grundlegende Transformation erforderlich?

AK: Mein begrenztes Verständnis von Kapitalismus ist, daß es für ihn notwendig ist, kontinuierlich zu akkumulieren und zu wachsen, sich unaufhörlich neu zu erfinden und zu reproduzieren. Das paßt nicht in eine Ethik der Nachhaltigkeit. Wenn wir also akzeptieren, daß es ökologische oder planetare Grenzen gibt, in denen wir leben, dann scheint es für mich nicht so zu sein, daß der Kapitalismus reformiert oder neu erfunden werden kann, um dafür eine Lösung zu finden. Meine persönliche Überzeugung ist, daß wir eine fundamentale Veränderung herbeiführen und den Kapitalismus abschaffen müssen.

Aber dem würde ich hinzufügen, daß wir auch das staatsdominierte System verwerfen sollten. Wenn man sich die staatlich organisierten sozialistischen Systeme in der Vergangenheit oder auch heute ansieht, stellt sich schnell heraus, daß es ökologisch nicht-nachhaltige Systeme sind, die kulturell zerstörerisch und gleichmachend wirken. Wenn wir also Ökologie und kulturelle Vielfalt, Gleichheit und Gleichberechtigung wertschätzen und die Stimme der Menschen hochhalten wollen, dann sind für mich weder Kapitalismus noch Staatssozialismus die Antwort. Deshalb versuchen wir, neue Rahmenbedingungen zu schaffen für einen kollektiven, in den Gemeinschaften entwickelten Prozeß, bei dem der Staat zwar weiterexistieren darf, aber verantwortlich zu machen bzw. rechenschaftspflichtig ist gegenüber der Graswurzel-Demokratie und nicht umgekehrt.

SB: Einmal angenommen, eine gemeinschaftliche Bewegung bzw. Entwicklung, so wie Sie sie eben beschrieben haben, würde in einem Land wie Indien immer stärker werden. Würde sich die kapitalistische Ordnung nicht herausgefordert fühlen und Gegenmaßnahmen ergreifen?

AK: Oh, das tut sie bereits - ganz direkt, entweder auf legale oder auch illegale Weise. Wenn es zum Beispiel Widerstand dagegen gibt, daß bestimmte Ländereien aufgekauft werden sollen oder diese Leute ihre Aktivitäten vor Ort ausweiten, gibt es Schikanen und Gewalt. In Indien nennen wir sie "Goondas", das sind Schläger, die die Protestierenden verprügeln. Das ist die illegale Weise, aber es geschieht auch mit legalen Mitteln, indem NGOs oder zivilgesellschaftliche Akteure vor Gericht gezerrt und gerichtliche Verfügungen gegen sie verhängt werden. Da geschehen alle möglichen Dinge. Häufig ist es sogar so, daß die Regierung, die in Indien sehr freundschaftliche Beziehungen zum privatwirtschaftlichen Sektor unterhält, in dessen Sinne tätig wird.

Das nennen wir Vetternwirtschaft. Diese Leute bringen die Regierung dazu, gegen Inder, die ihnen Probleme bereiten, hart durchzugreifen. Und das geschieht derzeit, wir befinden uns mitten in einer solchen Phase. Ich bin Vorsitzender von Greenpeace India. Sie greifen uns an, indem sie uns die finanzielle Unterstützung durch Greenpeace International sperren - und das nur deshalb, weil wir uns gegen Kohleabbau und Kohlekraftwerke stellen. Eine ganze Reihe weiterer Gruppen wurde ebenfalls aufs Korn genommen. Das Zurückschlagen hat also schon angefangen, und es wird sich intensivieren. Da die Aktionen der Zivilgesellschaft und Communities stärker werden, wird eine weitere Zunahme dieser Reaktionen nicht ausbleiben.

Ich möchte bei der Beantwortung dieser Frage hinzufügen, daß es noch eine weitere Methode gibt, gegen die Initiativen vorzugehen. Es wird das Bild verbreitet, daß sie aus dem Ausland finanzierte, anti-nationale NGOs seien, die nicht wollen, daß Indien sich weiterentwickelt. Wer in Indien an die Öffentlichkeit geht und etwas erreichen möchte, muß sich als "indisch" erweisen, sonst hat er keine Chance. Dieser falsche Nationalismus macht es der Regierung leicht, jemanden zu diskriminieren, der finanzielle Unterstützung aus dem Ausland bekommt oder einfach einen solchen Vorwurf zu erheben, auch wenn das gar nicht stimmt. Die Ironie der Geschichte liegt darin, daß dieser Vorwurf auf die Regierung selbst zutrifft, schließlich nimmt sie in großem Umfang Investitionen und Finanzierungen aus dem Ausland entgegen.

SB: Indien hat sich mit weiteren Ländern - Brasilien, Rußland, China und inzwischen auch Südafrika - zu den BRICS-Staaten, die rund 40 Prozent der Weltbevölkerung umfassen, zusammengeschlossen. Geschah dies auch in der Absicht, ein Gegengewicht zur neoliberalen, vom globalen Norden dominierten Weltwirtschaft zu schaffen und dieser Dominanz eine Süd-Süd-Kooperation entgegenzustellen?

AK: Eine Zusammenarbeit des Südens gegen die Dominanz des Westens, also der USA und Europas, ist es ganz bestimmt, aber ich würde nicht so weit gehen zu sagen, daß sich die BRICS-Staaten gegen den Neoliberalismus stellten. In dem Rahmen, in dem sich ihre Diskussionen bewegen - bei ihrem letzten Treffen im Juli im brasilianischen Fortaleza gründeten sie eine eigene Entwicklungsbank und einen eigenen Währungsfonds -, gibt es keine Anzeichen dafür, daß sie sich von der neoliberalen Agenda grundsätzlich wegbewegen wollten. Wenn man sich die Regierungen der meisten dieser Länder ansieht, haben sie sich mehr und mehr in eine neoliberale Art der Politikgestaltung hineinbewegt. Das gilt sogar für China, denn obwohl es ein sozialistischer Staat ist, ist seine Wirtschaft sehr, sehr kapitalistisch.

Offen gesagt, sind wir alle sehr besorgt über diese Entwicklung, auch wenn es zunächst zu begrüßen ist, einen Block zu haben, der die traditionelle Dominanz des Westens in Frage stellt. Doch wenn wir im Süden dieselbe Entwicklung nehmen, die der Westen bereits hinter sich gebracht hat, wird es vom Standpunkt der Ökologie, Kultur etc. aus gesehen nicht besser werden können.

SB: Es gibt zur Zeit einen wachsenden Konflikt zwischen den NATO-Staaten und Rußland, bei dem sich etliche Länder des globalen Südens wie beispielsweise in Lateinamerika auf die Seite Moskaus gestellt haben. Wie ist die Haltung der indischen Regierung gegenüber Rußland?

AK: Darüber weiß ich nicht viel. Indien hat historisch gesehen immer gute Beziehungen zu Rußland gehabt und das gilt in gewissem Ausmaß noch immer. Aber ich denke, daß sich die vorherige wie auch die gegenwärtige Regierung sehr viel mehr dahin bewegt haben, sich den USA, in gewisser Weise Europa und in zunehmendem Maße auch Japan anzuschließen. Deshalb versuchen sie, das irgendwie zusammenzubekommen mit dem Erbe des alten Regimes aus einer Zeit, in der Indien und Rußland einander sehr nahe standen. Das heutige Indien realisiert, daß es nicht mehr sehr lange gutgehen wird, wenn es seine Karten angesichts der instabilen Lage in Rußland nur auf Moskau setzt.

Die indische Regierung versucht daher zu diversifizieren, ohne sich ganz von Rußland zu lösen; schließlich bestehen zwischen beiden Ländern gute Beziehungen. Aus diesen Gründen gibt es auch Entwicklungen wie das Zusammengehen der BRICS-Staaten. Indien nimmt allerdings auch eine etwas ambivalente Haltung ein bezüglich einiger Fragen, die die derzeitige Ukraine-Krise und ähnliches betreffen. Es hat dazu kein klares Signal, keine eindeutige Stellungnahme aus Indien gegeben, das zumindest ist unser Eindruck.

SB: Was halten Sie von der Konferenz hier in Leipzig? Gibt es Aussichten auf eine Zusammenarbeit oder vielleicht sogar schon neue, konkrete Projekte? Und wie sind Sie auf diese Konferenz gekommen?

AK: Ich wurde von der Heinrich-Böll-Stiftung eingeladen, die auch eines unserer Projekte in Indien über alternative Initiativen fördert. Da gibt es auf jeden Fall eine Verbindung. Auch mit Leuten wie Frederico Demaria stehe ich seit einigen Jahren in einem wechselseitigen Kontakt, wir haben schon viel zusammen gemacht. Die Konferenz gefällt mir. Ich finde es sehr gut, daß hier für eine so große Zahl von Menschen die Möglichkeit eröffnet wurde, zusammenzukommen, all diese Themen zu diskutieren und weiterzulernen. Es ist doch wunderbar, daß auch so viele junge Leute hier sind und die Gelegenheit haben, Menschen zu treffen, von denen sie vielleicht noch nie etwas gehört haben.

SB: Gibt es auch kritische Punkte, die Sie anmerken möchten?

AK: Ich könnte mir vorstellen, daß die Konferenz vielleicht ein bißchen zu groß ist, und zuviel zur selben Zeit geschieht. So ist es sehr schwierig, sich ein fundiertes und zusammenhängendes Bild zu verschaffen. Doch das soll keine Kritik sein. Ich will nur sagen, daß es vielleicht sinnvoll gewesen wäre, die Anzahl der Veranstaltungen zu reduzieren oder einen Weg zu finden, die Menschen wieder zusammenzubringen, vielleicht an den Abenden, damit, was auch immer in den vielen verschiedenen Räumen geschehen ist, wieder zusammengebracht werden und man voneinander lernen kann. Mein Eindruck ist, daß sich alle hier darüber beklagen, daß es fünf Dinge gibt, zu denen sie hingehen wollen, die aber alle zur selben Zeit stattfinden.

Was die konkreten Projekte anbelangt, so hat es ein paar Ideen gegeben, die diskutiert wurden. Heute abend treffen wir uns beispielsweise, um zu beratschlagen, ob wir Wege finden können, das europäische Degrowth und das Buen Vivir in Lateinamerika mit dem, was in Südasien passiert, zusammenzubringen. Wie ich vorhin schon sagte, geht es darum, Allianzen zu schmieden und eine Zusammenarbeit aufzubauen, bei der wir auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede schauen, voneinander lernen und dann vielleicht zusammen eine globale oder zumindest stärker global ausgerichtete Vision zu entwerfen, wie eine echte Alternative oder eine andere Gesellschaft aussehen könnte und wie wir dahin kommen. In dieser Hinsicht war die Konferenz produktiv. Wenn wir dann noch einige konkrete Ideen entwickeln könnten, wäre das wunderbar.

SB: Was ist das für ein Projekt, das Sie mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung realisieren?

AK: Es heißt "Vikalp Sangam", das ist der Hindi-Begriff für "Alternatives Confluence". Dabei geht es um die Dokumentation und Vernetzung alternativer Initiativen in Indien, was auch einschließt, interessierte Menschen zusammenzubringen. Unser Projekt dreht sich also um ein Zusammenwachsen alternativer Ansätze. Es gibt Fallstudien über einige der Initiativen vor Ort und eine Website, die wir entwickelt haben, auf der eine ganze Menge dieser Fäden bereits zusammengefügt wurden. [3] Wir werden weiter daran arbeiten, die Rahmenbedingungen für eine radikal-ökologische Demokratie zu entwickeln und wollen sehen, wie eine solche Alternative in Indien grundsätzlich aussehen könnte.

SB: Herr Kothari, wir bedanken uns für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] Churning the Earth. The Making of Global India. Von Aseem Shrivastava und Ashish Kothari, Penguin Books India, 15. Mai 2012

[2] Siehe auch den Bericht zum Vortrag von Ashish Kothari zu Radikal-ökologischer Demokratie unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:
BERICHT/038: Aufbruchtage - globalisierungs- und kapitalismusfreie Demokratie (SB)

[3] www.vikalpsangam.org oder www.alternativesindia.org


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

BERICHT/028: Aufbruchtage - Brauch- und Wuchskultur auf die Gegenspur ... (SB)
BERICHT/029: Aufbruchtage - Schuld und Lohn ... (SB)
BERICHT/030: Aufbruchtage - Umkehr marsch ... (SB)
BERICHT/031: Aufbruchtage - Kapital gezähmt ... (SB)
BERICHT/032: Aufbruchtage - Quadratur des Kreises und wie es doch zu schaffen ist ... (SB)
BERICHT/033: Aufbruchtage - Mensch- und umweltfreundlicher Verkehr ... (SB)
BERICHT/034: Aufbruchtage - Die Praxis eines jeden ... (1) (SB)
BERICHT/035: Aufbruchtage - Die Praxis eines jeden ... (2) (SB)
BERICHT/036: Aufbruchtage - Die Praxis eines jeden ... (3) (SB)
BERICHT/037: Aufbruchtage - die Weckruferin ... (SB)
BERICHT/038: Aufbruchtage - globalisierungs- und kapitalismusfreie Demokratie (SB)
BERICHT/039: Aufbruchtage - Gartenbrot und Schrebernot ... (SB)
INTERVIEW/056: Aufbruchtage - Hoffen auf den Neubeginn ...    Tadzio Müller im Gespräch (SB)
INTERVIEW/057: Aufbruchtage - Zwei Seiten einer Medaille ...    Nicola Bullard im Gespräch (SB)
INTERVIEW/058: Aufbruchtage - Sozialökonomie ...    Éric Pineault im Gespräch (SB)
INTERVIEW/059: Aufbruchtage - Entfremdungsfreies Schaffen ...    Stefan Meretz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/060: Aufbruchtage - Neue Formen des Protestes ...    Bengi Akbulut im Gespräch (SB)
INTERVIEW/061: Aufbruchtage - Gemeinschaft wecken ...    Barbara Muraca im Gespräch (SB)
INTERVIEW/062: Aufbruchtage - Beweglich, demokratisch und global ...    Maggie Klingler-Lauer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/063: Aufbruchtage - Mut zum großen Wandel ...    Hans Thie im Gespräch (SB)
INTERVIEW/064: Aufbruchtage - Marktplatz der Retter ...    Clive Spash im Gespräch (SB)
INTERVIEW/065: Aufbruchtage - Pflanzen, Wohnen, Leben ...    Gerda Münnich im Gespräch (SB)

Zu Indien siehe auch die Buchbesprechung "Indien, die größte Demokratie der Welt?" von Dominik Müller unter
http://schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busab140.html

15. November 2014


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