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INTERVIEW/073: Aufbruchtage - Rückbesinnung, Neuanfang ...    Horst Arndt-Henning im Gespräch (SB)


Hoffnungsschimmer und Protest

Interview am 6. September 2014 an der Universität Leipzig



Horst Arndt-Henning in Großaufnahme - Foto: © 2014 by Schattenblick

Horst Arndt-Henning
Foto: © 2014 by Schattenblick

Auf einem endlichen Planeten könne es kein unendliches Wachstum geben, lautet einer der wohl am häufigsten zitierten Kernsätze der Degrowth-Bewegung. Nun vertritt die Gegenseite, also der Mainstream in Politik und Wirtschaft, keineswegs die Auffassung, auf einem unendlichen Planeten, was immer das sein möge, zu leben. Wer also wird mit dieser Form der Wachstumskritik überhaupt adressiert? Auf der Vierten Internationalen Degrowth-Konferenz in Leipzig, die vom 2. bis 6. September 2014 an der dortigen Universität stattfand, war viel von Kapitalismuskritik die Rede, ausgehend von der Überzeugung, daß der Wachstumszwang dieser Verwertungs- und Vernutzungsform auf fundamentalste Weise immanent ist.

Doch was folgt daraus? Muß eine "andere" Verwertungsordnung her oder ist der Kapitalismus reformierbar? Die in Leipzig vorherrschende Auffassung, daß eine sozial-ökologische Transformation unverzichtbar sei, wurde zumeist mit Ideen unterfüttert, eine andere Produktions-, Vernutzungs- und Gesellschaftsform würde "von unten" her aus den vielen, noch kleinen Initiativen und Projekten erwachsen können. Wie aber stellt sich die herkömmliche Ökonomie wohl zu all diesen Fragen?

Am Rande des Leipziger Kongresses hatte der Schattenblick die Gelegenheit, mit dem Wirtschaftswissenschaftler Dr. Horst Arndt-Henning, der in Oldenburg als Unternehmensberater tätig ist, über Wirtschaft und Wachstum, Theorie und Transformation, aber auch Geld, Zins und Profit und nicht zuletzt über Degrowth als Protestbewegung und die Gefahr ihrer Vereinnahmung zu sprechen.

Schattenblick: Heute ist der letzte Tag auf der Degrowth-Konferenz in Leipzig. Zeit also, ein erstes Fazit zu ziehen. An Sie zum Einstieg jedoch zunächst die Frage: Mit welchen Erwartungen sind Sie als Wirtschaftswissenschaftler hierhergekommen?

Horst Arndt-Henning: Als Ökonom bin ich, was die theoretische Seite betrifft, an allen Fragen um Geld, Wirtschaft und Veränderung interessiert. Ich berate seit 20, 25 Jahren Kleinbetriebe, die in der Regel nur über wenig Geld verfügen, hauptsächlich unternehmergeführt sind und jede Menge Fragen und Probleme haben, die gar nicht unbedingt ökonomisch sind, sondern mehr im Sozialen und Organisatorischen liegen oder auch das Verwaltungsrecht und dergleichen betreffen. Da geht es einfach um alles, was so ansteht. Das habe ich immer sehr gerne gemacht, aber jetzt ein wenig reduziert, weil ich mich doch ein bißchen mehr den theoretischen Fragen zuwenden will.

SB: Eine wesentliche theoretische Frage hier auf dem Kongreß möchte ich jetzt auch an Sie richten: Ist Ökonomie ohne Wachstum überhaupt denkbar?

HA: Also, Ökonomie gibt es, seitdem es Menschen gibt. Die Bezeichnung stammt aus dem Griechischen - "oikos" -, was "Haus" bedeutet. [1] Wachstum ist eine sehr moderne Kategorie. Insofern hat es natürlich immer schon Ökonomie gegeben, auch ohne das, was man heute Wachstum nennt. Natürlich muß man da fragen, wie das überhaupt entstanden ist und welche ökonomischen Gründe dazu geführt haben, daß wir heute mit so großer Selbstverständlichkeit glauben, es gehe alles nur mit Wachstum. Es gibt allerdings auch sehr stationäre Wirtschaften, die nicht so wachstumsorientiert sind.

Die Frage ist aus meiner Sicht ein bißchen anders zu stellen. Wir haben mindestens seit dem 19. Jahrhundert, wenn nicht noch länger, die Vorstellung, Ökonomie sei praktisch die Basis von allem. Dieses Primat der Ökonomie macht es heute so schwierig zu sagen, daß man sich das gesellschaftliche Zusammenleben auch anders vorstellen könnte. Die heutige Ökonomie wird vielfach für selbstverständlich gehalten. Die Frage, um die es jetzt geht, ist doch, ob man bewußt durch politische bzw. gesellschaftliche Maßnahmen Ökonomie beeinflussen kann. Das ist eine Frage, an die man sich gar nicht so richtig 'ran traut. Man redet immer schnell vom Kapitalismus als Ganzem und daß der beseitigt werden müsse, aber das geht ja nicht so einfach.

Also, wo sind Ansatzpunkte dafür zu sagen, daß man doch etwas verändern kann? Ich denke da an die Experimente, die heute schon in Deutschland gemacht werden wie zum Beispiel das Regionalgeld im Chiemgau. [2] Da beschäftigt man sich mit diesen Fragen, probiert etwas aus und guckt, welche Erfahrungen man damit macht. Oder es wird versucht, über Handelsabkommen auf politischer Ebene mitzureden und auf diese Weise ökonomische Prozesse zu beeinflussen. Ein dritter Bereich, im Augenblick wieder ganz aktuell, ist die Geldmenge und die Frage, ob man sie nicht, anstatt sie ständig auszuweiten, reduzieren sollte. Das wird auch von herkömmlichen Ökonomen so gesehen. Oder man beschäftigt sich mit der Frage, unter bestimmten Voraussetzungen die normalen Bankgeschäfte und den ganzen Spekulationsbereich auf gesetzlichen Wegen voneinander zu trennen.

Aus meiner Sicht wäre das im Augenblick die Frage: Wo sind kleine Schritte, die in die Richtung gehen, etwas zu transformieren, ohne immer gleich das ganze System zu einem grundsätzlichen Thema zu machen? Natürlich muß man eine Theorie entwickeln - das fehlt mir hier so ein bißchen auf der Konferenz - zu der Frage, wohin wir eigentlich wollen und wie die Ökonomie aussehen sollte, um dann festlegen zu können, welche Schritte in diesem Kontext sinnvoll sein können, um so nach und nach etwas zu erreichen.

SB: Damit leiten Sie gleich zur nächsten Frage über. Ich habe Leute sagen hören, daß Wachstumskritik eigentlich zwingend eine Kapitalismuskritik impliziert. Sie hatten aber die Vermutung, daß die Degrowth-Bewegung es vermeidet, die Kapitalismuskritik in den Vordergrund zu stellen, sei es aus politischen Gründen oder um eine möglichst breite Zustimmung zu finden.

HA: Zunächst einmal finde ich, daß es natürlich sehr sinnvoll ist zu sagen: Wir bestehen auf bestimmten Inhalten, die sich ändern müssen. Es ist Wahnsinn, unter ökologischen Gesichtspunkten so weiter zu wirtschaften wie bisher. Das läßt sich leicht plausibel machen anhand konkreter Beispiele. Wir verbrauchen viel mehr, als wir es für die nächste Generation verantworten können. Da kann ich die Ökonomie erst einmal außen vor lassen und das als politisches oder soziales Programm formulieren. Als nächste Frage müßte dann natürlich kommen, welche Schritte dafür notwendig wären. Es ist doch ganz klar, daß es letztendlich ein anderes ökonomisches System geben muß, erwachsen aus dem sogenannten Paradigmenwechsel.

Es ist sicherlich geschickt, dies nicht in den Vordergrund zu stellen, sondern zu sagen: das sind die politischen Zielsetzungen, sie sind inhaltlich begründet und gerechtfertigt, und jetzt überlegen wir, wie wir dahin kommen können. Natürlich wird es dann schwierig sein, den Kapitalismus in seiner jetzigen Form beizubehalten. Es gab eine Arbeitsgruppe, die hatte so am Rande diskutiert, daß man Kapital nach wie vor bräuchte, aber Kapitaleinsatz und -kontrolle anders definieren müsse, wobei es nicht um Wachstum gehen sollte, aber schon darum, daß Unternehmen, die etwas produzieren wollen, dafür auch Geld bräuchten. Die Frage wäre dann, wo soll das herkommen, wie könnte sich das entwickeln?

SB: Das ist ja fast schon Ihr ursprünglicher Arbeitsbereich, die Beratung einzelner Unternehmen. Haben Sie in der Praxis schon Erfahrungen damit gemacht oder sind Unternehmen an Sie mit der Frage herangetreten, wie sie ökologischer oder nachhaltiger wirtschaften könnten? Gibt es da Ihrer Kenntnis nach eine Entwicklung, die jetzt vielleicht zu einem Umdenken in der Praxis führen könnte?

HA: Ich habe da, um ein Beispiel zu nennen, einen Kleinbetrieb in Süddeutschland vor Augen, der sich als Manufaktur versteht und biologische Seifen herstellt. Die Leute haben das Problem, daß sie am Markt eigentlich sehr erfolgreich sind. Im Grunde müßten sie die Produktion umstellen, denn sie können gar nicht alle Aufträge erfüllen. Sie stehen also vor der grundsätzlichen Frage: Wollen wir das überhaupt? Na, das sind jetzt ungefähr zehn Leute, die da zusammen arbeiten. Die haben gesagt: Nein, das wollen wir nicht, eher spezialisieren wir uns. Aber unsere Arbeitsstruktur, unsere Kommunikation untereinander wollen wir eigentlich nicht kaputtmachen, was geschehen würde, wenn wir auf 20 oder 30 Fabrikhallen anwachsen würden. Dann ist es doch sinnvoller, wenn einige von denen, die da mitgearbeitet haben, Ausgründungen machen, also etwas eigenes für sich, und die Idee, überschaubare ökonomische Einheiten zu haben, erhalten bleibt. Mit Blick auf etwas größere Unternehmen gibt es diese Diskussion auch. Mit bis zu 300 Betrieben, so wird gesagt, könne das noch gehen, daß man eine soziale Community hat, innerhalb derer man die Produktion noch gut überschauen kann.

Dieser Kleinbetrieb ist jetzt nur ein Beispiel von vielen. Solche Überlegungen finden heute in Unternehmen statt. Das finde ich natürlich total spannend und das macht irre Spaß, da mitzudiskutieren. Und es ist eine ganz wichtige Erfahrung. Jedenfalls in diesem Betrieb war es keine Frage des wirtschaftlichen Erfolges. Es hat sich gezeigt, wenn man das gut organisiert, kann man sich beschränken und trotzdem wirtschaftlich erfolgreich sein. Was mir hier auf der Konferenz allerdings wirklich noch fehlt, ist, daß man das theoretisch noch stärker durchdenkt.

SB: Können Sie erläutern, wie Sie das meinen?

HA: Vorhin klang ja schon an, daß eine gesellschaftlich verantwortungsvolle Produktion sowohl auf nachhaltigen Ressourcenverbrauch achtet als auch die sozialen Strukturen und Lebensbedingungen in den Vordergrund stellt. Das erfordert bestimmte ökonomische Strukturen, die nicht daran orientiert sind, wo ich am meisten verdienen kann, sondern wie ich diese Ziele so hinbekommen kann, daß in einem Unternehmen noch genügend Geld vorhanden ist, um auch reinvestieren zu können - die Sachen nutzen sich ab und müssen erneuert werden -, aber gleichzeitig nicht maßlos produziert wird. Profitorientierung ist eigentlich immer maßlos, es geht immer nur um mehr.

Das Unternehmen muß Substanz bekommen. Woran läßt sich das bemessen? Ein Kriterium haben wir eben genannt. Bestimmte Abschreibungen muß man wegen der ganzen Abnutzungen einfach auch verdienen, und es muß eine Reserve da sein. Das wäre alles so in Ordnung, mehr braucht man nicht. Auch nicht irgendwelche Aktienbesitzer, die für sich genommen Geld verdienen und da irgendetwas rausholen wollen, ohne etwas mit der Produktion zu tun zu haben. Diese Abkopplung von Produktion und Entscheidungsstrukturen von Leuten, die zwar die Rechte haben, aber da eigentlich nicht dran arbeiten, müßte überwunden werden.

SB: Manche Menschen vertreten auch die Auffassung, daß Ökonomie ohne Verlierer überhaupt nicht möglich sei, sondern im Kern darauf beruht, daß die Gewinne des einen die Verluste des anderen sind. Von einer Win-win-Situation könne nicht die Rede sein, schon gar nicht beim sogenannten Nord-Süd-Konflikt, der hier auf der Konferenz häufig angesprochen wurde.

HA: Bisher muß man sagen, daß da, wo Profite entstehen, auf der anderen Seite Verluste sein müssen, weil es ja irgendwo herkommen muß.

SB: Ich nehme an, daß das gerade auch in Wirtschaftstheorien gern ausgeblendet wird?

HA: Ja. Es ist sogar so, daß das noch nicht einmal von der Buchhaltung richtig durchdacht wird. Wenn man eine Bilanz hat, dann ist es immer eine ausgeglichene. Ich kann sie nur so darstellen, daß alles ausgeglichen ist, die Verluste erscheinen dann unter bestimmten Formen von Verbindlichkeiten oder so. Das ist nicht richtig greifbar. In Österreich gibt es Ansätze, eine Gemeinwohlökonomie zu entwickeln. Das schwappt so langsam nach Deutschland über. Da werden Wohlstand und Sozialprodukt ganz anders berechnet. Das sind, wie ich finde, ganz spannende Themen.

SB: In einem überschaubaren Rahmen - Sie sprachen von kleineren Unternehmen und Initiativen - kann man sich vielleicht noch vorstellen, daß andere Ideen umgesetzt werden können. Es gibt allerdings auch Zweifel daran, ob dadurch eine Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse bewirkt werden könnte, die ja erforderlich wäre, wenn man sich Problemen wie dem Massenhunger in der Welt stellen wollte.

HA: Ich bin mir nicht so sicher, ob Massenhunger in der sogenannten Dritten Welt die Sache wirklich trifft. Denn es ist natürlich unsere bornierte Sicht, diese Länder so zu bezeichnen. Dort ist eher die Förderung von Kleininitiativen wichtig, die sehr produktiv sein können. Die Frage gesamtgesellschaftlicher Veränderungen taucht ja mehr bei uns auf, wo wir Betriebe haben mit hunderttausend Beschäftigten, die sozusagen durch Ford - Fließbandfertigung und ähnliches - so Anfang 1900 entstanden sind. Brauchen wir Produktionsbetriebe in dieser Form überhaupt noch?

Dagegen gibt es systemimmanente Einwände. Da heißt es dann, daß die moderne Technologie eine vollautomatische Fließbandfertigung ermöglichen würde, also bräuchten wir keine Betriebe in der Größenordnung mehr. Aber man muß natürlich sehen, daß es bei dieser Frage auch um die Produkte geht. Brauchen wir die überhaupt noch? Das ist ein sehr umfassendes und komplexes System. Bei Share-economy brauchen wir viel weniger Produkte, die müssen nur vernünftig genutzt werden. Aber gilt das auch generell? Aus meiner Sicht geht es im Augenblick darum, all das mit kleinen, alternativen Ansätzen zu erproben, Erfahrungen zu sammeln und zu sagen, was funktioniert und was nicht.

Man weiß zum Beispiel von diesem Geldexperiment mit der Regio-Währung, das seit über 10 Jahren im Süden von Bayern läuft, daß im Finanzministerium ernsthaft darüber gesprochen wird, ob es auch ein Modell für Griechenland sein könnte, einerseits den Euro noch beizubehalten, aber gleichzeitig dadrunter eine eigene regionale Währung aufzubauen. Das ist natürlich spannend zu sehen, wie sich die offizielle Politik dafür interessiert, was für Experimente im Kleinen gemacht werden und ob man die auch politisch nutzen kann.

Die Zinsdiskussion ist eine ganz andere Ebene. Früher hat man natürlich gelächelt über Theorien, daß Zinsen irgendwie schlecht seien und der Wachstumszwang reduziert werden müsse. In Dänemark gab es zwei Jahre lang einen Strafzins für Banken, die das Geld nicht verwendet haben [3]. Inzwischen haben wir hier in der Bundesrepublik eine Zinsebene, die fast bei Null ist. [4] Das sind interessante Veränderungen, bei denen wir als Ökonomen erst einmal überlegen müssen, was das eigentlich heißt. Natürlich dient das alles dazu, das bestehende System zu halten. Aber das ist auch ein Totschlagargument, denn selbstverständlich dient innerhalb des Systems immer alles irgendwie dem System. Trotzdem gibt es vielleicht Anregungen, darüber hinauszugehen, und die müssen wir aufspüren, mit denen sollten wir uns beschäftigen.

SB: Das führt uns noch einmal zu Degrowth. Was halten Sie von dem Begriff und sind Sie der Meinung, daß man da schon von einer Bewegung sprechen kann?

HA: Hier auf der Konferenz, wo etwa dreitausend Leute sind, kann man merken, wie viele, viele kleine Initiativen und Gruppen es zu Degrowth schon gibt. Das gefällt mir sehr. Und ich merke auch, in dieser Dimension eigentlich zum ersten Mal, daß es zumindest in vielen wichtigen europäischen Nationen ganz ähnliche Momente gibt. Es gibt also eine europaweite Perspektive, für mich ist das etwas Neues. Ich finde das wirklich ganz toll, wenn man sich vorstellen könnte, daß Europa ganz eigene Wege geht. Ein Land wie Deutschland kann sicherlich im Bereich der Ökonomie grundsätzliche Veränderungen nur ganz begrenzt vornehmen. Aber wenn das europaweit geschähe, könnte ich mir denken - wofür ich ja Österreich als Beispiel angeführt habe -, daß man zu anderen Produkten, Berechnungen des Sozialprodukts [5] und Kriterien in der Steuerpolitik kommen könnte.

Aber daran müssen wir natürlich arbeiten. Das kann ein Land für sich allein nicht schaffen, aber so ein großer und wichtiger Komplex wie Europa? Natürlich würde das ein bißchen dauern, aber was haben wir nicht alles schon geschafft? Vor noch gar nicht so langer Zeit haben sich die Leute in Europa noch gegenseitig umgebracht. Das ist jetzt - lassen wir die Ukraine einmal außen vor - vorbei. Darin liegt natürlich auch ein Hoffnungsmoment, daß wir vielleicht in der Ökonomie auch so etwas schaffen könnten.

SB: Mit der Ukraine geben Sie mir ein weiteres Stichwort. Läuft man nicht Gefahr, wenn man sich stark auf ökonomische Fragen reduziert, beispielsweise die konfrontativen Spannungen und womöglich sogar die Gefahr eines Krieges zwischen den NATO-Staaten und Rußland außer acht zu lassen? Das scheint zwar jetzt ein bißchen weit weg vom Thema Ökonomie bzw. Wachstum zu liegen, aber es gibt ja auch die Auffassung, daß Fragen, die unter Ökonomie abheftet werden, doch sehr stark im Zusammenhang mit politischen bzw. militärischen stehen und umgekehrt. Würden Sie da eine Verbindung ziehen?

HA: Das kann ich so nicht sagen. Natürlich ist es auffallend, daß es vor kurzem eine Diskussion gab, an der deutschen Rüstungswirtschaft würden so viele Arbeitsplätze hängen und daß wir deshalb mehr Rüstung exportieren müßten. Da paßt jetzt unter Umständen der Ukraine-Konflikt gut hinein. Wenn man das auf dieser Ebene sieht, bringt das neue Auftragsfelder.

SB: Historische Untersuchungen, die sich mit der Situation jeweils nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg befaßt haben, kamen zu dem Ergebnis, daß die Kriegszerstörungen sehr gute Voraussetzungen für den Wiederaufbau und eine Neuentwicklung der Wirtschaft geboten haben. Wie klingt das in den Ohren eines Wirtschaftswissenschaftlers?

HA: Da ist Zerstörung die Basis für etwas Neues. Die klassische Kapitalismuskritik sagt das ja auch. Es müsse sozusagen die Entwertung des Kapitals in bestimmten Zeitabständen geben. Und es gibt sogar Theorien, die besagen, daß diese Zeitabstände immer kürzer werden.

SB: Dann wäre die Sorge, daß es eine den beiden Weltkriegen vergleichbare Zerstörung geben könnte, um einen wirtschaftlichen Neuanfang zu ermöglichen, vielleicht nicht ganz unbegründet?

HA: Sie ist völlig berechtigt, ja. Es gab hier auf der Konferenz eine Veranstaltung zum Thema Tsunami und ähnlicher Naturereignisse. Da wurde gesagt, die werden als eine wunderbare Gelegenheit genutzt, um wieder zu investieren. Das könnte man jetzt zuspitzen und sagen: Es wäre gut, wenn die Umwelt ein Stück weit geschädigt wird und kaputtgeht, denn dann hätten wir eine wunderbare Investitionsbasis. Da fehlt noch, wie ich finde, eine kritische ökonomische Diskussion, die wird da nur ganz am Rande geführt. Hinzu kommt, daß der Kapitalismus immer Wege findet, moderne antikapitalistische Muster zu integrieren und für sich zu nutzen.

SB: Würde Ihrer Einschätzung nach die Gefahr, vereinnahmt und instumentalisiert zu werden, auch für die Degrowth-Bewegung relevant werden, sobald sie gesellschaftlich in Erscheinung tritt?

HA: Ja. Aber das ist nicht nur eine Gefahr, das ist einfach so. Ich sage trotzdem ein großes "aber", denn das kann ja nicht bedeuten, daß wir sagen: "Oh, jetzt machen wir lieber nichts." Es heißt, diese Gefahr zu sehen und von ihr zu wissen und trotzdem zu hoffen, daß vielleicht 5 Prozent Momente bei Degrowth drin sind, die tatsächlich nicht so einfach zu vereinnahmen sind. Diese Zahl habe ich jetzt einfach einmal so genannt. Natürlich hat das eine viel größere Bedeutung und eine ganz andere Dimension, wenn da ein kritisches Bewußtsein entsteht und eine Auseinandersetzung geführt wird mit all diesen Fragen. Die verschwinden ja nicht einfach so.

Das war ganz ähnlich, was ich auch ganz interessant finde, bei den Ideen von '68. Wenn ich die jetzt nur einmal auf die Hochschulreform beziehe und die ganze politische Dimension einen Moment lang weglasse, ist es doch so, daß die zu einer technologischen Hochschulreform geführt haben, von der wir heute sagen würden: Das ist ja grauenhaft, was da entstanden ist. Aber das lag natürlich auch daran, daß die Energie und die Kraft, die eigentlichen Diskussionen und Veränderungen durchzusetzen, erlahmten.

SB: Da Sie jetzt schon '68 angesprochen haben, möchte ich Sie noch etwas zur Degrowth-Bewegung fragen. Viele, die sich ihr zugehörig fühlen, waren vorher schon in einer anderen - beispielsweise der globalisierungskritischen - Bewegung aktiv oder in Sachen Umweltschutz engagiert. Wenn man jetzt versucht, die Geschichte der Protestbewegungen in der Bundesrepublik, angefangen bei der Studentenbewegung, Revue passieren zu lassen, liegt doch die Vermutung nahe, daß solche Ansätze vereinnahmt wurden, leerliefen und später als neue Bewegung wieder in Erscheinung traten, allerdings mit inhaltlichen Abstrichen. Wie wäre es da um Degrowth bestellt?

HA: Ich würde es eher so sehen, daß es da eine Wellenbewegung gibt. Natürlich ist es völliger Unsinn zu meinen, daß alles immer besser wird. Ob es tatsächlich weniger wird, wüßte ich so nicht zu sagen. Für mich ist diese Veranstaltung ein Moment, an dem ich denke, daß vieles von dem, was in den letzten Jahrzehnten noch verschüttet war, jetzt in neuen Ansätzen wieder zum Ausdruck kommt. Da bewegt sich etwas. Es begann mit den Occupy-Protesten, und plötzlich war wieder eine Öffentlichkeit da, darüber wurde berichtet. Dabei geht es noch gar nicht um die Inhalte, sondern einfach nur darum, daß eine Bewegung des Protestes da ist.

Das schließt auch vieles von der Konferenz hier in Leipzig mit ein, insofern ist sie einfach ein schöner Hoffnungsschimmer. Aber ob das ausreicht? Doch diese Frage habe ich gar nicht. Ich finde es gut, das zu unterstützen. Meiner Meinung nach ist es total wichtig und ermutigend, daß so viele aus der jungen Generation dabei sind, die gar nicht mehr so große Theoriefragen voranstellen. Die '68er waren ja sehr stark theorieorientiert. Hier heißt es ganz praktisch: Wir wollen, daß sich etwas ändert, und das finde ich toll.

SB: Vielen Dank, Herr Arndt-Henning, für dieses Gespräch.


Fußnoten:


[1] Mit dem Wort "oikos" in der Bedeutung von Haus bzw. Hausgemeinschaft wurde in der griechischen Antike alles bezeichnet, was den Mittelpunkt des Lebens bildete. Oikos ist nicht nur der Wortstamm des Begriffs "Ökonomie", einer aus "oikos" und "nomos" (Gesetz) gebildeten Zusammensetzung, sondern auch des Wortes "Ökologie", das aus "oikos" und "logos" (Lehre) gebildet wurde. Ökologie könnte insofern als Lehre vom Haushalt übersetzt werden. Etymologisch ließe sich der Standpunkt begründen, es sei ein Mißverständnis, unter Ökologie so etwas wie Umweltschutz oder Umweltbewußtsein zu verstehen.

[2] Der "Chiemgauer" gilt als die größte und erfolgreichste unter den seit 2002 im gesamten Bundesgebiet entstandenen Regionalwährungen. Er wurde im Januar 2003 durch ein Schülerprojekt der Waldorfschule Chiemgau in Pries ins Leben gerufen. Dem Trägerverein gehören rund 600 Unternehmen und 250 Vereine aus der Region an. Mittlerweile kursieren in Oberbayern über 520.000 "Chiemgauer". Sie sind 1:1 durch den Euro gedeckt. In diesem Verhältnis können sie von Verbrauchern gekauft, jedoch nur gegen einen fünfprozentigen Regionalbeitrag in Euro zurückgetauscht werden. Der "Chiemgauer" ist nicht zum Sparen gedacht, er verliert nach drei Monaten zwei Prozent seines Wertes. Auf diese Weise soll die Umlaufsicherung des Geldes gewährleistet werden, damit es nicht gehortet, sondern - zum Wohle der regionalen Entwicklung - ausgegeben wird. Die dahinterstehende Idee geht auf den Finanztheoretiker, Sozialreformer und Begründer der Freiwirtschaftslehre Silvio Gesell (1862-1930) zurück. In Abgrenzung zur Wirtschaftsanalyse von Karl Marx und dessen Forderung nach einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse postulierte Gesell eine gerechte Wirtschaftsordnung bei freiem und fairem Wettbewerb, wenn nur das Geld seine marktbeherrschende Rolle verlöre. Da die menschliche Arbeitskraft wie auch Waren aller Art mit zunehmender Zeit an Wert verlieren, sollte dies auch für das Geld gelten.

[3] Als bisher einzige Notenbank hat die Dänische Zentralbank Mitte 2012 die Zinsen für Einlagen mit einer maximalen Laufzeit von sieben Tagen unter die Null-Grenze gesenkt. (Einlagen werden Gelder genannt, die Banken bei den Zentralbanken deponieren.) Als Grund für diese Entscheidung wurde der hohe, für die dänische Exportwirtschaft ungünstige Wechselkurs der Krone genannt. Dieser Negativ-Zins steht nicht unbedingt in Zusammenhang zu der Idee des Finanztheoretikers Silvio Gesell, durch eine solche Zinspolitik die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes zu sichern. Nach zwei Jahren wurde der unter Null liegende Einlagenzins der Dänischen Zentralbank wieder aufgehoben, er hatte nicht zu einer vermehrten Kreditvergabe an Unternehmen oder Privatpersonen geführt. Im Januar dieses Jahres hat die Notenbank Dänemarks, um eine Aufwertung der Krone zu verhindern, den Strafzins, der für Einlagen gezahlt werden muß, auf 0,2 und dann auf 0,35 Prozent erhöht.

[4] Die Zinsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland geht seit Anfang 2014 stetig bergab. Die Umlaufrendite, wie der Durchschnittszins deutscher Staatsanleihen, an dem sich fast alle anderen Zinssätze orientieren müssen, genannt wird, lag im Dezember nur noch bei 0,51 Prozent. Viele langfristige Staatsanleihen Deutschlands werden bereits negativ verzinst. Die Politik der Europäischen Zentralbank, den Leitzins auf 0,05 Prozent zu senken und Negativzinsen für Bankeinlagen einzuführen, wird als mitursächlich für diese Entwicklung angesehen. Daß Null- oder sogar Minuszinsen im Bankgeschäft zur Normalität werden, soll angeblich im Kalkül der Finanz- und Währungsstrategen liegen. Das Sparen soll vollends unattraktiv gemacht werden, damit die Menschen vermehrt Geld ausgeben und die Unternehmen stärker investieren. Was aber, wenn diese gar nicht über genügend liquide Finanzmittel verfügen, die in Umlauf zu bringen sie auf diese Weise veranlaßt werden könnten?

[5] Siehe auch den dreiteiligen Bericht zu Fragen des Bruttoinlandsprodukts im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT →
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Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

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