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INTERVIEW/108: Frauenrecht in Palästina - Das schwache Glied, das starke Opfer ...    Reham Alhelsi im Gespräch (SB)


Feministische Selbstorganisation im Freiheitskampf

Veranstaltung am 7. März 2016 in Hamburg


Dr. Reham Alhelsi ist Programmdirektorin in der Frauenorganisation Palestinian Working Women Society for Development (PWWSD) mit Sitz in Ramallah in Palästina. Anläßlich des Internationalen Frauentages besuchte die Menschenrechtsaktivistin die Bundesrepublik und hielt auch in Hamburg einen Vortrag über die Arbeit ihrer Organisation [1]. Im Anschluß beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zu ihrer persönlichen Geschichte und der bedrängten Situation palästinensischer Frauen.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Reham Alhelsi
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Frau Alhelsi, könnten Sie etwas zu Ihrer Person sagen und über Ihr Studium in Deutschland sprechen?

Reham Alhelsi (RA): Ich wurde in einem kleinen Dorf in der Nähe von Jerusalem geboren und habe dort eine deutsche Schule besucht. Schließlich habe ich meinen Bachelor an der Universität Bethlehem abgeschlossen und bei der Palestinian Broadcasting Cooperation eine Arbeitsstelle gefunden. Damals hat die DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) Stipendien für Studenten vergeben. Eines Tages kam ein Kollege zu mir und fragte mich, ob er sich bewerben sollte. Darauf antwortete ich, daß ich nicht wüßte, ob er eines bekommen, ich aber sofort ein Stipendium erhalten würde. Das war halb im Scherz gesprochen, jedenfalls wurde daraus eine kleine Wette. Wir haben uns dann beide für ein Stipendium beworben. Was soll ich sagen, ich habe das Stipendium bekommen und mich auf den Weg nach Deutschland gemacht. An der Universität Karlsruhe habe ich meine Magisterarbeit in Regionalplanung und dann auch meine Doktorarbeit gemacht. Karlsruhe wurde zu meiner zweiten Heimat. Ich liebe diese Stadt, obwohl sie ziemlich klein ist. Ich habe auch ein Faible für Geschichte und habe überall in Deutschland Burgen besucht. Irgendwann bin ich nach Palästina zurückgegangen und habe mich bei der Palestinian Working Women Society for Development (PWWSD) in Ramallah beworben. Seitdem arbeite ich für diese NGO.

SB: Welche Erfahrungen haben Sie in Deutschland als Palästinenserin gemacht?

RA: Während des Studiums hat mich vor allem überrascht, daß die Medien in Deutschland überhaupt nicht über Palästina berichten, und wenn doch, dann immer pro Israel. Bei uns in Palästina hat man den Eindruck, daß die Amerikaner Israel, aber die Europäer die Palästinenser unterstützen. So gesehen war das für mich wirklich eine verwirrende Erfahrung, zumal die Deutschen doch sonst immer viel von Menschenrechten sprechen. Von den ausländischen Studenten aus Lateinamerika, Osteuropa und sogar aus China wußten die meisten über Palästina Bescheid, aber die Mehrheit der deutschen Studenten hatte entweder keine Ahnung oder war israelfreundlich. So fielen die Reaktionen oft negativ aus. Ich wurde einmal tatsächlich gefragt, warum die Palästinenser so mit den Israelis umgehen, obwohl die Israelis ihnen doch erlauben, in ihrem Land zu leben.

Ich habe immer versucht, ihnen die Situation dort zu erklären. Manche Studenten haben mit mir diskutiert und später selbst etwas über den Konflikt gelesen. Sie sind dann zu mir gekommen und haben gesagt, ja, es stimmt, was du sagst. Einige von ihnen erklärten sich in der Folge auch solidarisch mit Palästina. Andere wollten nichts davon hören. In dieser Zeit lief die zweite Intifada mit Sprengstoffanschlägen und Selbstmordattentätern. Das zu erklären, war wirklich schwer. Meistens traf ich auf taube Ohren. Daraus habe ich gelernt, wie wichtig es ist, daß die Leute mehr über Palästina erfahren, und fing an, selbst Artikel zu schreiben, die ich anfangs auf Webseiten stellte, die sich für Palästina interessierten.

Ich schrieb über mein Leben in Palästina, daß ich zum Teil in Jerusalem aufgewachsen bin, aber die Familie meiner Mutter Flüchtlinge waren, die 1948 von ihrem Dorf vertrieben wurden. Deshalb verbrachte ich die erste Hälfte meines Lebens in einem Dorf in der Nähe von Bethlehem. Dort war ich im jungen Alter oft mit Gewalt konfrontiert, denn die Dorfbevölkerung hat immer Widerstand gegen die israelische Besatzung geleistet. Israelische Soldaten sind auf der Suche nach meinem Onkel oft in unsere Wohnung eingedrungen. Ich habe mitansehen müssen, wie sie meine Großmutter mißhandelt und bei der Durchsuchung alles kurz und klein geschlagen haben. Mehrmals wurde auf meinen Onkel geschossen. Einmal war er so schwer verletzt, daß die Ärzte gesagt haben, es gäbe keine Hoffnung mehr für ihn. Daraufhin haben die jungen Männer alles für eine Märtyrer-Beerdigung vorbereitet. Aber mein Onkel hatte einen unbändigen Lebenswillen und überlebte.

Ich habe auch immer wieder die langen Ausgangssperren miterlebt. Als Kinder sind wir um Mitternacht zu den anderen Häusern gegangen, um Brot zu holen. Denn die Ausgangssperren dauerten drei oder vier Wochen, manchmal auch zwei Monate, und dann hatten wir kein Mehl mehr, um Brot zu backen. Als Kinder waren wir besser als die Erwachsenen in der Lage, uns zu verstecken. Über all diese Erfahrungen und von den Geschichten meiner Großeltern über ihr Dorf, wie es dort war, bevor alles zerstört wurde, habe ich geschrieben. Mein Großvater und die Leute aus den umliegenden Dörfern hatten mit der Waffe in der Hand gegen die zionistischen Terrorgruppen gekämpft und immer gewonnen, aber Ende 1948 bombardierten die Zionisten die Dörfer mit Granatwerfern. Dagegen konnte man nichts mehr machen. Mein Großvater und die anderen Leute mußten die Kinder retten. Sie sagten, wenn wir jetzt weggehen, können wenigstens unsere Kinder zurückkommen.

Schließlich eröffnete ich meinen eigenen Blog My Palestine [2]. Einige der Artikel wurden sogar in andere Sprachen übersetzt. Ich schrieb über Gefangene, palästinensische Märtyrer und an Palästinensern begangene Massaker, auch über meine Erlebnisse, als ich Verwandte dort besucht habe und selbst verhaftet worden bin. Das war meine Art, die Menschen hier in Deutschland darüber zu informieren, was in Palästina geschieht. Für mich war das ein wichtiger Schritt.

SB: Wie kam es, daß Sie sich stärker für Frauenfragen engagierten?

RA: Nach meiner Rückkehr nach Palästina habe ich zunächst eine Arbeitsstelle gesucht und stieß dann auf eine Anzeige der feministischen Frauenorganisation. Ich habe nicht gezielt danach gesucht. Mir war nur klar, daß ich weder für die Palästinensische Autonomiebehörde noch für eine internationale Organisation, sondern für eine palästinensische Menschenrechtsorganisation arbeiten wollte. Die Stelle bei der PWWSD gefiel mir, weil man dort miterleben konnte, wie stark palästinensische Frauen sind und welche Schwierigkeiten sie jeden Tag meistern, ob nun gegen die Besatzung oder das patriarchalische System. Einfach unfaßbar, aber sie halten wirklich die Familie zusammen.

SB: Sie sprachen in Ihrem Vortrag von der doppelten Unterdrückung der palästinensischen Frau. Wird Palästina nach wie vor von einer traditionellen Männergesellschaft beherrscht?

RA: Ja. Patriarchalisches System bedeutet, daß der Mann die Frau kontrolliert, ihren Körper wie auch ihre Seele. Er bestimmt, was sie im privaten wie öffentlichen Leben zu tun und zu lassen hat. Es ist eine Männerherrschaft über die Frau, die vom Vater, Bruder oder Mann ausgeht.

SB: Sieht man einmal vom orthodoxen Teil ab, gilt die israelische Gesellschaft gemeinhin als sehr liberal, fortschrittlich und westlich orientiert. Spielt die innerpalästinensische Problematik Israel in gewisser Weise in die Hände?

RA: Studien zeigen, daß die Gewalt von Männern gegen Frauen in der palästinensischen Gesellschaft mit der Besatzung zusammenhängt. Deshalb ist der Kampf gegen die Besatzung für uns auch so wichtig, es ist derselbe Kontext. Der Mann geht zur Arbeit, er wird an Checkpoints angehalten und von Soldaten, die so alt sind wie seine Söhne, angeschrien, geschlagen und erniedrigt. Wenn er nach Hause geht, ist er wütend und schlägt seine Kinder und seine Frau. Selbst Männer, die studiert haben, finden keinen Job, weil sie keine Arbeitserlaubnis bekommen. Auf dem Land sieht die Situation nicht besser aus, weil die Israelis die Agrarflächen beschlagnahmt haben und die Siedler die Olivenbäume in Brand setzen.

Palästinensische Männer schlagen ihre Kinder und Frauen, und die Frauen wiederum schlagen ihre Kinder. Es ist ein Teufelskreis, aber all das hat mit der Besatzung zu tun. Angesichts der Kriegs- und Konfliktsituation neigen palästinensische Familien dazu, ihre Kinder im Haus zu halten. Sie denken, es wäre eine Art Schutz, wenn sie der Tochter nicht erlauben, zur Schule oder zur Universität zu gehen. So werde sie vor Siedlern oder Soldaten geschützt. Aber damit verliert sie das Recht auf Bildung und büßt ihre Bewegungsfreiheit ein. Deswegen sagen wir, das Hauptproblem ist und bleibt die israelische Besatzung.


Dr. Reham Alhelsi im Vortrag - Foto: © 2016 by Schattenblick

Menschenrechtsarbeit aus unmittelbarem Erleben heraus
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Gibt es aus Ihrer Sicht einen Unterschied hinsichtlich des Patriarchats zwischen dem von der Hamas dominierten Gazastreifen und der eher säkulareren Gesellschaft im Westjordanland?

RA: Ich kann nur von unserer Arbeit ausgehen, und da sehen wir schon, daß die Situation in Gaza schwieriger ist. Wir haben dort ein Büro, aber die Mehrzahl unserer Projekte sind wirtschaftlicher Art oder betreffen die psychosoziale Beratung, wir machen kein politisches Empowerment. Unsere Kolleginnen und die Frauen, mit denen sie in Gaza arbeiten, beteiligen sich an nationalen Aktivitäten wie der Solidarität mit Gefangenen und mobilisieren auch gegen die internen Konflikte zwischen Fatah und Hamas. So gab es eine wöchentliche Protestaktion, in der Frauen verlangt haben, daß sich die beiden Parteien zum Wohle Palästinas endlich zusammentun. Aber es gibt bestimmte Sachen, die wir in Gaza nicht machen.

SB: Das Empowerment lebt davon, daß Menschen in selbstorganisierten Bewegungen aktiv gegen Mißstände vorgehen. Geht die Initiative, sich zu emanzipieren, in erster Linie von den palästinensischen Frauen aus oder müssen Sie entsprechende Projekte anschieben?

RA: Es gibt beides, je nach Gebiet. Manchmal gehen wir zu bereits von Frauen gegründeten Genossenschaften, weil sie weitere Unterstützung brauchen. In anderen Gebieten haben wir die Frauen erst dazu ermutigt, sich zu organisieren. Letzteres gilt vor allem für die Schattenräte, also die Unterstützungsstrukturen für Gemeinderätinnen. Aber es ist nicht unbedingt so, daß wir immer zu den Frauen gehen müssen. Es ist auch schon vorgekommen, daß Frauen uns aufgesucht und gesagt haben, wir haben davon gehört, helft uns, das gleiche bei uns zu machen. Einige der Schattenräte, die 2015 gegründet wurden, entstanden ausdrücklich auf Wunsch der Frauen, weil sich die Idee herumgesprochen hatte. Wir haben auch schon Anfragen aus der Türkei oder Jordanien zur Bildung von Schattenräten bekommen.

SB: Und wie steht die Generation der jetzt aufwachsenden Jugendlichen zu Fragen der Geschlechtergerechtigkeit und Frauenemanzipation?

RA: Ich kann nur von denen reden, mit denen wir zusammenarbeiten. Die jungen Menschen aus den Schulen und Universitäten wissen um den Wert der Frauenrechte und beteiligen sich an unseren Aktivitäten. Manchmal organisieren sie auch eigene Proteste, in denen sie die Gewalt gegen Frauen anprangern. Aber wie so oft im Leben gibt es solche und solche.

SB: Im Nahen und Mittleren Osten sind die Kurden in Rojava ein gutes Beispiel für eine gelungene Geschlechtergerechtigkeit. Gibt es zwischen der PWWSD und der kurdischen Frauenbewegung Kontakte?

RA: Wir sind Mitglied in vielen regionalen und internationalen Koalitionen und Netzwerken. So richtet ein Dachverband von Frauenorganisationen aus der arabischen Region regelmäßig gemeinsame Projekte oder Konferenzen aus, die sich mit Genderfragen auseinandersetzen. Das sind grenzüberschreitende Ansätze zum Austausch von Erfahrungen. Im vorletzten Jahr wurden wir von einer schwedischen Organisation zu einem Workshop eingeladen, an dem auch arabische Frauen aus Syrien, Libyen, Ägypten und verschiedenen anderen Ländern teilnahmen. Als Gast war auch eine türkische Organisation vor Ort, die sich für die Rechte der Kurden einsetzt. Sie haben uns viel über die Ausbildung der Frauen und ihren gemeinsamen Kampf mit den kurdischen Männern berichtet.

SB: Droht in Palästina im Augenblick der Ausbruch einer dritten Intifada?

RA: Manche wollen nicht, daß es zu einer Intifada kommt und reden von einem Aufstand. Andere sprechen von einer Intifada, und ich denke, daß es so ist. Zur ersten und zweiten Intifada kam es nicht von einem Tag auf den anderen, sondern sie haben sich über eine gewisse Zeitdauer entwickelt.

SB: Frau Alhelsi, vielen Dank für das Interview.


Fußnoten:

[1] BERICHT/074: Frauenrecht in Palästina - Schritt für Schritt zum großen Ziel ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0074.html

[2] https://avoicefrompalestine.wordpress.com/

31. März 2016


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