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INTERVIEW/133: Klimacamp im Rheinland - wo gehobelt wird ...    Hanna Poddig im Gespräch (SB)



Gespräch am 24. August 2017 im Klimacamp Rheinland

Anläßlich einer Stellungnahme der Kampagnenorganisation Campact, in der Christoph Bautz und Felix Kolb am 11. Juli eine "Bittere Bilanz" [1] zum G20-Gipfel und den dagegen gerichteten Protesten zogen, verfaßte Hanna Poddig einige Tage später einen "Offenen Brief einer Anti-G20-Aktivistin an campact" [2]. Die in diesen beiden Texten - und den 1395 Kommentaren auf dem Campact-Blog - nachzulesende Kontroverse rührt an grundsätzlichen Fragen der Bewegungslinken und des sozialökologischen Widerstandes. Die Aufarbeitung der Ereignisse rund um den G20-Gipfel in Hamburg aus Sicht der Protestierenden hat gerade erst begonnen und wird mit dem Vorhaben konfrontiert, die Handlungsmöglichkeiten nicht nur linksradikalen, sondern jeglichen sozialen Widerstandes in der Bundesrepublik drastisch einzuengen. Da dies nicht zuletzt unter Verweis auf die G20-Proteste geschieht, handelt es sich bei der Bekräftigung ihrer Legitimität respektive dem Einstimmen in den Chor ihrer massenmedialen Stigmatisierung um Positionierungen exemplarischen Charakters für die Zukunft sozialen und politischen Widerstands.

Dem Schattenblick erläuterte die langjährige Aktivistin Hanna Poddig, was sie zum Verfassen ihrer Entgegnung auf den Campact-Text veranlaßte und wo ihrer Ansicht nach die Fallstricke eines institutionalisierten Aktivismus zwischen ideologischer Anspruchshaltung und NGO-Professionalisierung verlaufen.


Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Hanna Poddig
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Hanna, was hat dich dazu veranlaßt, überhaupt eine Entgegnung zur Stellungnahme Campacts zu verfassen und öffentlich zu machen?

Hanna Poddig (HP): Ich war selber an mehreren Stellen bei den G20-Protesten involviert und habe aus verschiedenen Perspektiven ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Nach dem Gipfel hatte ich das Gefühl, daß den Menschen, die dabei waren, im Grunde genommen kollektiv ihre Erinnerung abgesprochen wurde, weil die Medien ein vollkommen anderes Bild von dem vermittelten, was dort real passiert ist. Für mich war es eine ganze Weile lang wirklich schwer, einen Umgang damit zu finden. Als ich dann beim Abarbeiten meiner E-Mails die Campact-Stellungnahme las, hatte ich das starke Bedürfnis, dem etwas entgegenzusetzen.

Am Anfang war es tatsächlich mehr ein Gefühl als eine klare politische Analyse, doch dann habe ich aus einer Mischung von Wut, Unverständnis und einer wirklich fundamantalen Ablehnung eines solchen Politikverständnisses meine Meinung verschriftlicht und mit Leuten darüber geredet, ob ich das jetzt in meinem Namen veröffentlichen oder weitere Unterzeichner für einen offenen Brief suchen sollte. Der Text enthielt jedoch viele autobiographische Zusammenhänge. Darin sind schon Aussagen enthalten wie Hey, wir haben zusammen Gentechnikpflanzen kaputtgemacht, ich war mit euch zusammen auf Gentechnikfeldern gewesen, saß im selben Polizeikessel und habe den gleichen Sachbeschädigungsvorwurf für das gleiche Maisfeld gekriegt. Das ist natürlich etwas viel Persönlicheres als nur zu sagen, grundsätzlich steht ihr doch eigentlich eher woanders.

Weil ich das aus einem offenen Brief hätte rauswerfen müssen, entschied ich mich letzten Endes dafür, ihn unter meinem Namen rauszuschicken, weil die Stärke des Briefes gerade im Persönlichen liegt. Vielleicht hätte ich den Brief früher rausschicken sollen, aber ich war mir unsicher, welcher Verteiler und welche Plattform am geeignetesten sind. Auf jeden Fall hat das Feedback sowohl hier auf dem Klimacamp als auch in Mails mich darin bestärkt, daß es richtig war, es so zu machen. Viele hatten mir zurückgeschrieben, daß ich ihnen aus der Seele gesprochen habe und daß es eine notwendige Antwort auf die Stellungnahme von Campact war. Zum Teil kam der Zuspruch aus Ecken, aus denen ich es nicht hundertprozentig erwartet hätte wie zum Beispiel aus Kreisen der Interventionistischen Linken, die mir schrieben, daß sie meinen Entschluß trotz aller politischen Differenzen gut fanden. Mir haben auch Leute von den Grünen geschrieben, daß sie zwar nicht eins zu eins meine Position teilen, es aber dennoch als wertvollen Debattenbeitrag empfinden. Das hat mir gezeigt, daß es im richtigen Moment eine sinnvolle Antwort war. Inzwischen habe ich mitgekriegt, daß es auch zwischen Campact und anderen Verbänden viel Streit darüber gibt.

Bereits in der Vergangenheit habe ich immer mal wieder an diesem Klicktivismus kritisiert, daß es eher eine Inszenierung von Protest als wirklicher Widerstand ist, und ich nicht glaube, daß man auf diese Weise eine fundamental andere Gesellschaft aufbauen kann, die ich halt verwirklichen möchte. Ich habe schon vorher keinen Hehl daraus gemacht und öffentlich erklärt, daß ich diesen Politikansatz für falsch und gefährlich halte, weil man damit eher ein Potential befriedet als Menschen einer widerständigen Realität näherbringt.

Für lange Zeit stand ich mit dieser Meinung jedoch alleine da. Das lag wohl daran, daß es für den eher linksradikalen, anarchistischen Teil der Bewegung ohnehin klar war, sich mit Campact nicht abzugeben, weil sie von vornherein aufgegeben haben, eine radikale Systemkritik zu formulieren oder gar eine umfassendere Analyse vorzunehmen. Campact haut immer auf ein Thema drauf, besitzt aber keine insgesamt geschlossene Gesellschaftskritik. Je mehr man nachfragt, desto mehr bestätigen sie das Bestehende und entpuppen sich als so etwas wie vielleicht der progressivere Flügel der SPD. Jedenfalls sind sie deswegen für anarchistisch-antiautoritäre Kreise von vornherein verloren gewesen, während sie auf seiten der Verbände wenn auch notgedrungen als Partner angesehen werden, weil man doch anerkennen muß, daß Campact den mit Abstand größten Adreßverteiler besitzt und in relativ kurzer Zeit einen unglaublichen Zulauf und Zuspruch erhalten hat.

Viele NGOs sind hochgradig abhängig von Kooperationen mit Campact. Das betrifft vor allem kleine Verbände mit zwei, drei, vier, fünf Festangestellten, die seit Jahren solide Recherche und Basisarbeit machen und zu ihrem Thema einfach alles wissen, aber mit ihren Single-issue-Kampagnen die breite Masse nicht erreichen. Für solche kleinen Organisationen ist es daher sehr wertvoll, mit jemandem wie Campact zusammenzuarbeiten. Nun ist es natürlich so, daß Campact immer das große Stück vom Kuchen abbekommt und diese Verbände nur das kleine, obwohl Campact im Grunde von der Zuarbeit dieser kleinen Organisationen hochgradig abhängig ist, weil sie selber keine Recherche betreiben. Sie haben - einmal sehr platt formuliert - überhaupt keine Ahnung von den Politikfeldern, die sie beliefern. Daher sind sie darauf angewiesen, mit Partnerorganisationen wie Attac, .ausgestrahlt oder Urgewald zu kooperieren. Sie wissen auch um diese Abhängigkeit. Sie wissen ganz genau, daß hinter verschlossenen Türen über sie gelästert wird und viele Verbände nur ungern und notgedrungen mit ihnen kooperieren. Deswegen finde ich es sehr spannend, daß es jetzt tatsächlich auf dem Attac-Blog [3] eine dezidierte Anti-Campact-Stellungnahme gab, die in eine ähnliche Richtung wie mein Brief ging und den Klicktivismus wie deren Distanzierung von den G20-Protesten zum Inhalt hatte. Ich glaube, daß dadurch bei vielen der Punkt erreicht war, wo sie sich sagten, jetzt ist es wirklich zu viel. Wir haben viel heruntergeschluckt, aber so geht es nicht.

SB: Campact ist auch in linken oder ökologisch bewegten Zeitungen präsent, was den Eindruck einer neuen Form von Mobilisierung hervorruft, der in keine herkömmliche Kategorie paßt. Wie bewertest du diese Art von Plattformaktivismus im Verhältnissen zum demokratischen Anspruch sozialer und politischer Bewegungen?

HP: Ich glaube, insgesamt hat politische Bewegung damit zu kämpfen, daß viele Leute eine Konsumhaltung haben. Sie wollen bei etwas Vorgefertigtem mitmachen. In diesem Sinne war es sehr schlau von den Leuten, die Campact gegründet haben, genau das Potential dieses Zusammenhanges erkannt zu haben.

Dadurch, daß es innerhalb von Bewegungszusammenhängen in Deutschland so etwas wie MoveOn, Change.org und Avaaz nicht in nennenswerter Weise gab, konnten sie mit einem erfolgversprechenden Modell in diese Lücke stoßen. Damit konnte man zwar nicht relevant die Gesellschaft verändern, aber auf jeden Fall Arbeitsplätze schaffen und eine erfolgreiche NGO gründen. Da haben, sage ich mal, schlaue Menschen im richtigen Moment die Rahmenbedingungen korrekt erfaßt und exakt diesen Wunsch bedient. Ich finde es allerdings auch nicht einfach. Ich würde jetzt nicht sagen, daß es keine niederschwelligen Angebote geben sollte und sich alle Leute gleich an Schienen ketten sollten. Das ist überhaupt nicht meine Position, nur glaube ich, daß es die gleichen Menschen sein sollten, die niederschwellige Angebote machen und sich an Schienen ketten, weil sonst eine Eigendynamik entsteht, die Teile von Bewegung und Gesellschaft nicht mehr mitdenkt und sich in die eine oder andere Richtung verselbständigt.

Deshalb finde ich es auch spannend, was die Protestforschung zu Campact sagt. So gibt es einen Protestforscher, der am Anfang sehr nah dabei war und, weil er die Leute, die Campact gegründet haben, kennt, gebeten wurde, kritisch den Finger in die Wunde zu legen, wenn er das Gefühl bekommt, daß es in eine falsche und gefährliche Richtung geht. Dies hat er vor einigen Jahren bei einer öffentlichen Podiumsdiskussion getan. Es ist jetzt aber nicht so, daß sich seitdem irgend etwas geändert hat, sondern das Erfolgsrezept wurde immer weiter fortgeschrieben. Ich glaube, wenn man mit einem bestimmten NGO-Konzept Erfolg hat, ist es unglaublich schwer, eine selbstkritische Distanz zu bewahren und sich einzugestehen, daß man der Utopie, die man im Sinn hatte, einen Strich durch die Rechnung macht, oder daß man schlicht verlernt hat, überhaupt eine Utopiedebatte zu führen. Letzteres würde ich eher unterstellen, als daß der Raum für Gesellschaftsentwürfe und ein anderes Miteinander in diesem Business-as-usual-Normalablauf innerhalb von Campact vollkommen untergegangen ist. Ich glaube, daß Utopien einfach keinen Platz mehr haben in der Normalität. Wenn man solchen Fragen keinen Raum gibt, dann hält man sie irgendwann vielleicht auch nicht mehr für relevant.

Mir selbst geht diese Welt viel zu sehr auf die Nerven, als daß ich nicht diskutieren oder Fragen stellen wollte. Aber man kann sich halt mit vielem anfreunden, gerade, wenn man Erfolg hat und dementsprechend behandelt wird und angesehen ist. Wenn man ganz offensichtlich zu den Privilegierten dieser Welt gehört, kann man bei Ungerechtigkeiten vielleicht leichter wegschauen und zu dem Schluß kommen, naja, wenn wir nur ein bißchen mehr mitbestimmen dürften, wäre das System eigentlich gut. Ich glaube schon, daß man sich an dieser Stelle selbst belügen und vom System einfangen lassen kann, ohne daß man es merkt.

SB: Die Plattformmobilisierung von Campact steht analog zum Plattformkapitalismus von Facebook und anderen sozialen Netzwerken, die zumindest behaupten, lediglich eine informationstechnische Struktur zur Verfügung zu stellen. Campact definiert jedoch auch politische Grenzen, indem etwa bestimmte Gesinnungen, und zwar nicht nur eindeutig rechte, von Demonstrationen ausgegrenzt werden. Es scheint auf jeden Fall ein Widerspruch darin zu liegen, auf der einen Seite eine Mobilisierungsmaschine für alle möglichen Themenfelder aufzustellen, aber auf der anderen Seite normativ zu agieren. Wie siehst du das?

HP: Das ist auf jeden Fall ein Widerspruch. Man kann schwerlich sagen, heute arbeiten wir nicht zur Homophobie, weil der Response zu schlecht war, und am nächsten Tag verkünden, man wolle keine Nazis auf der Demo haben. Eigentlich müßte man so konsequent sein, eine Anfrage an die eigenen Leute zu verschicken, um herauszufinden, was sie eigentlich cool finden. Das käme dabei heraus, wenn man das logisch weiterdenkt. Genau das verstehe ich an diesem Politikverständnis nicht. Abgesehen davon, daß ich nicht die bessere Demokratin sein will, weil ich grundsätzlich mit Demokratie ein Problem habe und mich als Anarchistin und nicht als Demokratin verorte, bin ich selbst aus einer demokratietheoretischen Sicht heraus entweder ein Akteur mit einer eigenen Meinung oder ich versuche, Methoden zu entwickeln, die mehr Partizipation ermöglichen. Aber das eine unter dem Deckmantel des anderen zu tun, ist auf jeden Fall schräg.

Gerade in Momenten, wo man Antworten kriegt wie "Das ist kein Winner-Thema" oder "Das ist nicht mehrheitstauglich", frage ich mich, wie ernsthaft das Engagement vorher war. Für viele Leute aus dem Widerstand gegen Stuttgart 21 war es auf jeden Fall eine große Enttäuschung, daß die Leute von Campact, die relativ spät aufgesprungen sind, sich aber zunächst stark beteiligt haben, nach der verlorenen Abstimmung erklärten, das Volk ist für S21, deshalb können wir jetzt nicht guten Gewissens dagegen sein. Damit haben sie die Leute, mit denen sie vorher kooperiert haben, im Grunde fallengelassen, denn damit war das Thema praktisch durch.

An dieser Stelle frage ich mich schon, was für ein Verständnis von Politik es ist, Inhalte, für die man vorher eingetreten ist, dann nicht mehr zu vertreten und komplett totzuschweigen, sich also dem Kompromiß zu beugen. Für mich wirkt das ein bißchen so, als müßte man alles, was irgendwie mehrheitsfähig ist, schlucken. Das halte ich auch mit Blick auf die Geschichte für einen vollkommen falschen Ansatz. Hätte man die Deutschen gefragt, ob sie ein Frauenwahlrecht wollen, hätte es keine Mehrheit dafür gegeben. Und was Mehrheiten in den 1930er Jahren bewirkt haben ist ja hinlänglich bekannt. Sich an Mehrheiten als etwas per se Gutem zu orientieren und dann auch noch den Umkehrschluß zu ziehen, wenn man nicht die Meinung einer Mehrheit vertritt, sollte man sich am besten gar nicht mehr dazu äußern, wirkt auf mich jedenfalls alles andere als emanzipatorisch, utopisch oder visionär. Ich könnte es noch böser formulieren, aber das schlucke ich lieber runter. Ich meine das schon sehr ernst, daß ich Campact politisch eher im progressiven Flügel der SPD verorten würde.

SB: Du hast in deinem offenen Brief auch von der Formierung der allgemeinen Debatte durch Medien und Politik gesprochen. Was in der Schanze passiert ist, wurde skandalisiert mit der Folge, daß die vielen anderen Proteste ignoriert als auch die Gewalt, die durch die G20-Staaten ausgeübt wird, legitimiert wurde. Hast du jetzt, sechs Wochen nach G20, den Eindruck, daß die Leute langsam merken, daß die Proteste nicht allein an den Geschehnissen in der Schanze festgemacht werden können, oder hat sich der Diskurs durchgesetzt, daß die Linke nun die Bringschuld hat, jeder Militanz abzuschwören?

HP: Tatsächlich bin ich auch in jüngerer Zeit und nicht nur nach dem Gipfel häufig gefragt worden, ob die Linke jetzt ein Erklärungsproblem hätte. Ich glaube, daß dies eher von Leuten kommt, die sich vorher mit Bewegung nicht auseinandergesetzt und einen sehr starken Außenblick darauf haben. Inzwischen sind die meisten JournalistInnen und die Presse insgesamt doch eher zurückgeschwenkt. Nach den verbalen Rundumschlägen in den ersten Wochen, man müsse alle linken Zentren sofort schließen, befinden wir uns heute meinem Eindruck nach in der Debatte schon wieder ein wenig woanders. Nichtsdestotrotz haben es einige linke Zentren jetzt schwerer als vorher, womit ich aber nicht sagen will, daß ich das, was passiert ist, für falsch halte. Manchmal tut es not, Widersprüche klar zu benennen. Linke Zentren stehen eben für eine Politik, die gerade nicht mehrheitsfähig ist und sich dem Mainstream in den Weg stellt. Als logische Konsequenz dessen, wofür man steht, bekommt man es dann natürlich mit den Herrschenden zu tun. Von daher bedeutet der Druck auf linke Zentren nicht per se, daß man etwas falsch gemacht hätte. Vielleicht hat man genau aus diesem Grund sogar etwas richtig gemacht.

Natürlich wünsche ich linken Zentren nicht mehr Repression, sondern viel mehr Freiräume und experimentelle Projekte, aber mitunter ist es auch sinnvoll, Konfliktlinien aufzuzeigen, um dadurch die eigene Position deutlich zu machen. Wenn ich dafür stehe, das Privateigentum zu überwinden, dann ist es irgendwie widersprüchlich, dessen Beschädigung prinzipiell zu verurteilen. Dann kann ich es immer noch falsch finden, wenn dabei Leute gefährdet oder andere Fehler gemacht werden. Dazu ist zweifellos eine Strategiedebatte notwendig, aber ich möchte solche Aktionsformen auch verteidigen können. Eine notwendige Folge davon ist natürlich, daß ich in Konflikte reingehen muß, was für mich im Kern politische Arbeit ausmacht.

Ich will gar nicht in einer Harmonieblase drinstecken und immer nur Forderungen äußern, von denen ich annehme, sie seien so, daß alle Leute alles mögliche hineininterpretieren können, hinter dem sie vielleicht auch stehen. Wenn ich Antikriegsarbeit mache, dann sage ich nicht, vielleicht macht die Bundeswehr das auch, sondern ich sage, ich will die Bundeswehr abschaffen. Diesen Konflikt stelle ich dann auch her. Ich sage auch nicht, vielleicht habt ihr ja auch ein wenig Recht damit, daß man Braunkohle als Brückentechnologie braucht, sondern ich sage, ich will sie vom Netz nehmen. Wenn dann die Lichter ausgehen, gehen sie halt erst einmal aus. Dann müssen wir darüber diskutieren, wie wir sie wieder ankriegen und ob das vertretbar ist, und wenn nicht, dann bleiben sie halt aus. Für mich ist das ein wertvoller Standpunkt. Meines Erachtens ist es ein grundsätzlicher Unterschied im Politikverständnis, ob man Widersprüche will oder nicht will.

SB: Das Klimacamp hat mindestens seiner Erscheinungsform nach etwas Utopisches. Wie groß sind deiner Ansicht nach die Chancen dafür, daß solche Formen solidarischer Zusammenarbeit nicht durch Beschwichtigungsstrategien oder eine bloße Mitmachrhetorik absorbiert werden, sondern sich dabei eine Form unbestechlicher Radikalität herausbildet?

HP: Ich bin sehr glücklich, daß es in diesem Jahr hier mit Zucker im Tank eine Gruppe gibt, die sehr offen Werbung für Aktionen von Kleingruppen macht und ihnen auch Presseunterstützung anbietet. Natürlich ist sie im Vergleich zu Ende Gelände nur ein kleiner Player, aber dennoch stellt es einen selbstbewußten Schritt dar, daß es eben nicht nur eine große konsumierbare Mitmachaktion ist, sondern hier durchaus unterschiedliche AkteurInnen arbeiten. Das ist mit Kohle ersetzen ähnlich. Man merkt zumindest, daß es nicht darum geht, hierher zu fahren und automatisch bei Ende Gelände mitzumachen, weil etwas anderes gar nicht denkbar wäre.

Nichtsdestotrotz sehe ich bei Ende Gelände die Tendenz, daß Leute sich über eine gelungene Inszenierung freuen, und auch wissen, wie man gute, professionelle Pressebilder macht, aber ab einem bestimmten Punkt sich zu sehr darauf ausruhen und nicht mehr fragen, wie man das zum Beginn einer weiteren Basisorganisierung machen könnte. Das ist sehr ambivalent, weil es keine reine Mitmachsache ist, sondern es auch Versuche gab, Ortsgruppen zu gründen. Allerdings hat man dann gleich wieder versucht, sie zu homogenisieren und unter zentraler Kontrolle zu behalten. Diese Zentralisierungs-Professionalisierungs-Konflikte hatten wir in den letzten Jahren auch mit der Entwicklung von Ende Gelände.

Ich glaube, der springende Punkt sind Kontrollverlustängste, aber für mich ist Kontrollverlust etwas Gutes. Meines Erachtens müßten davon mehr Menschen überzeugt werden. In dem Moment, wo ich Teil von irgendeinem Netzwerk oder irgendeiner Arbeit bin und nicht mehr alles kontrollieren kann, was um mich herum passiert, dann entsteht genau die Welt, die ich haben will, also daß an allen möglichen Orten Leute selber Verantwortung übernehmen, ihre Ideen umsetzen, nicht auf irgendwelche zentralen Gremien oder auf Erlaubnis warten, sondern einfach Dinge machen. Damit will ich mich nicht Absprachen in den Weg stellen, aber diese Vielfalt ist eigentlich etwas total Wertvolles. Ich bin gespannt, was für Konflikte es dieses Jahr geben wird. Auf jeden Fall hat es in den letzten Jahren auch schon Konflikte darum gegeben, wie Ende Gelände zu Sabotageaktionen oder Kleingruppenaktionen steht. Möglicherweise gibt es eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem, was sie nach außen hin in einem Aktionskonsens sagen, und dem, was dann real passiert und hinter vorgehaltener Hand eben doch unterstützt, mitgetragen oder sogar ganz maßgeblich mit initiiert wird. Das ist etwas, was mich schon ärgert und beschäftigt, aber in den nächsten Tagen wird sich zeigen, wie sich das jetzt weiter entwickelt.

SB: Hanna, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:


[1] https://blog.campact.de/2017/07/g20-bittere-bilanz/

[2] http://www.scharf-links.de/48.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=61617&tx_ttnews[cat]=28&cHash=898ff9a5a4

[3] http://theorieblog.attac.de/2017/08/ist-campact-disruptiv-wie-amazon-und-google-eine-polemische-analyse/


Berichte und Interviews zum Klimacamp 2017 im Rheinland im Schattenblick unter:
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27. September 2017


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