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LÄNDERBERICHT/122: Sierra Leone - Zeichen setzen gegen Genitalverstümmelung (frauensolidarität)


TERRE DES FEMMES in der frauensolidarität - Nr. 111, 1/10

Zeichen setzen gegen Genitalverstümmelung
In Sierra Leone kämpft eine Organisation für junge Frauen und Mädchen

Von Veronika Kirschner und Dörte Rompel


Im Dezember 2009 besuchten die beiden ehrenamtlichen Projektkoordinatorinnen für Sierra Leone, Veronika Kirschner und Dörte Rompel, das von TERRE DES FEMMES geförderte Projekt "Amazonian Initiative Movement" (AIM) in Lunsar, das sich seit 2003 für die Abschaffung der weiblichen Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) einsetzt. Hier berichten sie über ihren Besuch und die Situation vor Ort.


Lunsar ist ein kleines Städtchen, das etwa 80 km nordöstlich der sierra-leonischen Hauptstadt Freetown liegt. Hier engagiert sich AIM mit Aufklärungsarbeit, Entwicklungsprojekten sowie mit politischer und sozialer Arbeit für die Überwindung der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM), von der etwa 90 Prozent der Frauen und Mädchen im Land betroffen sind. FGM ist hier ein Initiationsritus, der ein Mädchen zur Frau macht und so zum Mitglied von Bundu, dem Geheimbund der Frauen. Diese Mitgliedschaft stellt eine Voraussetzung für eine Verheiratung der Frau und damit ihre soziale Absicherung dar. Es gibt zwar seit 2009 ein Gesetz, das die Verstümmelung der Genitalien bei Minderjährigen verbietet, doch das gewährt keinen ausreichenden Schutz. Da die Operation meist im Verborgenen geschieht, werden die verantwortlichen Erwachsenen nicht bestraft. Die in Sierra Leone praktizierte Form von FGM wird von der Weltgesundheitsorganisation als Typ II klassifiziert, bei dem die Klitoris, die inneren Schamlippen und teilweise auch die äußeren abgeschnitten werden. Diese Operationen werden ohne Betäubung und mit nicht sterilen scharfen Gegenständen wie Rasierklingen, Scherben oder Messern durchgeführt. Die Beschneiderinnen beschneiden in der Regel mehrere Mädchen nacheinander und nehmen ihnen das Versprechen ab, nicht über die Verstümmelung zu sprechen, da ihnen sonst der Tod drohe. Tagtäglich zeigen die mutigen Frauen von AIM, dass diese Drohung eine Lüge ist.


Die Aufklärung zeigt Erfolge

Die Sensibilisierungsarbeit, die AIM in Schulen, Kirchen, Moscheen und anderen gesellschaftlichen Bereichen leistet, zeigt Wirkung: Immer mehr Menschen in den Aufklärungsgebieten kennen die negativen Folgen von FGM und wenden sich von dieser schädlichen traditionellen Praxis ab. Die Abkehr von FGM führt aber auch in vielen Familien zu schweren Konflikten. Immer mehr junge Mädchen möchten nicht beschnitten werden, doch ihre Familien wollen sie trotzdem dazu zwingen. Darüber hinaus widersetzt sich eine steigende Zahl von Mädchen weiteren Formen geschlechtsspezifischer Gewalt wie der Zwangsverheiratung oder häuslicher Gewalt. AIM berät solche Mädchen und sucht zugleich den Dialog mit ihren Familien. Sind die Eltern nicht bereit, die Rechte ihrer Kinder zu schützen, nimmt Rugiatu Turay, die Direktorin von AIM, diese bei sich zu Hause auf. Als wir 2007 in Sierra Leone waren, träumten die Mitglieder von AIM von einem eigenen Schutzhaus für diese Mädchen.

Inzwischen besitzt der Verein ein geeignetes Grundstück. Es ist ein Geschenk der Dorfgemeinschaft von Masetleh, als Dank für den positiven Wandel, den die Aufklärungsaktivitäten hier auslösten. Darauf entsteht ein Schutzhaus, das 15 Mädchen ein sicheres Heim bieten soll, in dem sie sich entfalten können und die Möglichkeit bekommen, sich für ihre Interessen zu organisieren. Sie werden die umliegenden Schulen besuchen. Leider ist es sehr schwierig, ein solches Projekt zu finanzieren: zum einen, weil die Unterstützung von Anti-FGM-Projekten aus politischen Gründen in Sierra Leone verhalten ist, und zum anderen, weil die meisten internationalen Organisationen nur kurzfristige projektbezogene Unterstützung leisten. Ein Schutzhaus für Mädchen ist aber kein kurzfristiges Projekt, das nach zwei oder drei Jahren abgeschlossen werden und sich selbst tragen kann. Deshalb unterstützt TERRE DES FEMMES AIM seit April 2009 bei der Umsetzung dieses Projektes.

Bei unserem Besuch in Sierra Leone wurde uns bewusst, wie wichtig der persönliche Austausch mit dem Team für unsere Zusammenarbeit über die weite Distanz hinweg ist. Über viele Einzel- und Gruppengespräche an verschiedenen Orten lernten wir neue MitarbeiterInnen kennen, und auch die "alten" Bekannten hatten viel Neues zu berichten. Im Gegenzug schilderten wir, was sich bei uns in den vergangenen zwei Jahren getan hat, und stellten die Struktur und das Tätigkeitsspektrum von TERRE DES FEMMES vor. Einige FeldanimateurInnen begleiteten wir in die von ihnen betreuten Dörfer. Seit AIM nicht mehr nur in der näheren Umgebung von Lunsar tätig ist, leben die FeldanimateurInnen in den Dorfgemeinschaften, was sehr wichtig ist, um das Vertrauen der Menschen zu gewinnen und eng mit ihnen zusammenarbeiten zu können. Bei den Diskussionen um Menschenrechtsthemen in den Dörfern, die wir miterleben konnten, kam jedeR zu Wort, und auch die Kinder konnten mit Sketchen zu Kinderrechtsproblemen ihren Beitrag leisten.


Das Schutzhaus setzt ein Zeichen

Inzwischen konnte mit dem Bau begonnen werden. Die jungen Bauarbeiter, die gerade das Schutzhaus bauen, kennen die Probleme, denen Mädchen und junge Frauen in Sierra Leone ausgesetzt sind. Sie lehnen diese Traditionen ab und leisten mit ihren Bauarbeiten einen wichtigen Beitrag zu einem alternativen Lebensmodell. Überzeugt erklärten sie uns, dass ein solches Haus gebraucht werde, denn nach wie vor werden unzählige Mädchen zu FGM gezwungen. Zum Beispiel wollen ihre Großmütter die 12-jährige Jariatu zur Beschneidung zwingen. Die Eltern sind dagegen, trauen sich aber nicht, ihren Müttern zu widersprechen. Bei der 15-jährigen Bomporo möchte die Stiefmutter das Kind gegen den Willen des Vaters beschneiden lassen.

AIM stärkt Mädchen, damit diese mit Erreichen der Volljährigkeit - wenn sie sich nicht mehr auf das gesetzliche Verbot berufen können - so selbstbewusst und widerstandsfähig sind, dass sie sich gegen den Druck ihres Umfeldes stellen können und sich FGM widersetzen. Bis sie erwachsen sind, brauchen deshalb viele Mädchen Hilfe, zum Beispiel von AIM.

Die Sicherheit der Mädchen, die in das Schutzhaus einziehen werden, soll gewährleistet werden, indem die Polizei, die AnwohnerInnen und die Mädchen selbst für ihre Sicherheit geschult werden. Darüber hinaus wird es einen Wachmann geben, der aus dem Poro, dem Geheimbund der Männer, rekrutiert wird. So hat er Zugang zu den Plänen der Geheimgesellschaften, die für FGM zuständig sind. Oftmals lässt die Bedrohung der Mädchen schnell nach, sobald die Verwandten wissen, dass sie gut versorgt sind und eine Schulbildung erhalten. Damit wird ihre Zukunft gesichert - ein Aspekt, der in einem Land wie Sierra Leone ohne staatliche Sicherungssysteme immer mitgedacht werden muss. Sobald das Haus fertig ist, wird eine der engagierten Ex-Beschneiderinnen als Köchin eingestellt. Darüber hinaus wird eine Sozialarbeiterin für die Mädchen die Funktion einer Tante (Aunty) einnehmen und ihnen als enge erwachsene Vertraute in ihrem Alltag zur Seite stehen.

Die Geste der Dorfgemeinschaft von Masetleh, AIM das Land für das Schutzhaus zur Verfügung zu stellen, zeigt, dass auch das direkte Umfeld die Ziele der Organisation unterstützt. Damit befinden sich die Mädchen in einer sicheren Umgebung - nicht zuletzt auch, da hier die intensive Aufklärungsarbeit von AIM Früchte getragen hat: Als erste haben sich ehemalige Beschneiderinnen in diesem Dorf entschieden, FGM nicht mehr zu praktizieren.


Unterstützen Sie AIM!

Mit Ihrer Spende an das TERRE-DESFEMMES-Projekt AIM unterstützen Sie die langfristige Finanzierung des Schutzhauses in Masetleh als Zufluchtsstätte für Mädchen, die auf Grund drohender Genitalverstümmelung vor ihren Familien geflohen sind. Ihnen soll hier ein sicherer Ort geboten werden, an dem sie unversehrt aufwachsen können. Betreut und unterstützt werden die Mädchen durch qualifizierte Sozialarbeiterinnen. Außerdem sollen sie Rechtsberatung und psychologische Betreuung in Anspruch nehmen können. Über Fortschritte und Neuigkeiten der AIM-Projekte können Sie sich jederzeit auf unserer Homepage www.frauenrechte.de informieren. Wir freuen uns schon auf unseren Besuch im nächsten Jahr und werden ausführlich darüber berichten!


Spenden:
Bitte spenden Sie unter dem Stichwort "SIERRA LEONE"
auf folgendes Sonderkonto: Kreissparkasse Tübingen,
Kontonummer: 170 1975, BLZ 641 500 20


Zu den Autorinnen:

Veronika Kirschner aus Berlin und Dörte Rompel aus Frankfurt am Main studieren Politikwissenschaft und lernten durch ein dreimonatiges Praktikum in Sierra Leone im Jahr 2007 die Arbeit der Organisation Amazonian Initiative Movement (AIM) kennen.


TERRE DES FEMMES
Menschenrechte für die Frau e. V.
Postfach 2565, 72015 Tübingen
Telefon: 07071/79 73-0, Telefax: 07071/79 73-22
E-Mail: info@frauenrechte.de
Internet: www.frauenrechte.de


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 111, 1/2010, S. 20-21
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Sensengasse 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Österreich und Deutschland 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2010