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HINTERGRUND/141: Straßenkinder gibt es auch in Deutschland


die zeitung - terre des hommes, 3. Quartal 2008

Luxusgesellschaft mit Schattenseiten
Straßenkinder gibt es auch in Deutschland

Von Uwe Britten


In deutschen Großstädten gehören sie längst zum gewohnten Bild: Obdachlose Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Ihre Zahl wird auf 9.000 geschätzt, die Dunkelziffer ist hoch. Die Gründe, warum sie auf der Straße leben, sind unterschiedlich. Entgegen der weitverbreiteten Meinung, es seien vor allem Jugendliche aus sozial schwächeren Familien, finden sich Mädchen und Jungen aus allen sozialen Schichten auf der Straße. Vielmehr noch als finanzielle Gründe bringen persönliche und innerfamiliäre Probleme Heranwachsende dazu, ein Leben mit der Familie und die Schule aufzugeben und abzuhauen. Erfahrungen mit Gewalt innerhalb der Familie spielen oft eine entscheidende Rolle.
Es liegt in der Zuständigkeit von Städten und Kommunen, dieser Herausforderung zu begegnen und den Jugendlichen Hilfen anzubieten. Diese können unterschiedlich sein: Einerseits die Unterstützung in akuten Notlagen, beispielsweise ein Bett in einer Notunterkunft. Andererseits ist es wichtig, den Jugendlichen Angebote zu machen, die langfristig von der Straße wegführen: Sie zum Beispiel dabei zu unterstützen, einen Schulabschluss nachzuholen. Die Kommunen arbeiten mit lokalen Vereinen und Institutionen zusammen, die sich teilweise schon seit vielen Jahren um Straßenkinder kümmern. Viele von ihnen haben sich im bundesweiten "Bündnis für Straßenkinder in Deutschland" zusammengeschlossen. Ihr Ziel: Die Situation von Straßenkindern in Deutschland auf lange Sicht zu verbessern.


Mike ist ziemlich cool drauf. Zu seinen Eltern hat er kaum noch Kontakt. Hin und wieder geht er dort schlafen, isst was, bekommt etwas Geld, haut wieder ab. In der Szene am Bahnhof zählt es was, wenn man zu denen gehört, die Mike abklatscht. Mike ist hier jemand. Und wenn ihm einer doof kommt, dann schlägt Mike garantiert schneller als der andere. Birne klopfen, sagt er dazu. Doch wenn Mike spät am Abend in der Notschlafstelle sitzt und "mit der Sozi-Tante quatscht", dann kommt er ins Grübeln, dass er in seinem Leben noch nicht viel zustande gebracht hat. Und das wurmt Mike.

Wer wie Mike unter schwierigen familiären und schulischen Bedingungen aufwächst, entwickelt fast immer eine sehr brüchige Persönlichkeit. Der offensichtlichen Härte, die das Überleben sichert, steht immer ein weicher, sehr zerbrechlicher Kern gegenüber. Und dieser Kern flüstert lautlos, sehr oft mitten ins coole Auftreten hinein: "Du bist ein Looser!" Narzisstische Kränkung nennen Psychologen das.


Zahlen und Zusammenhänge

Mehr als 50 Notschlafstellen für junge Menschen gibt es in Deutschland. terre des hommes hat sie in den Jahren 2001 und 2007 befragt. Ergebnis: Jährlich werden rund 9.000 Personen durch diese Projekte betreut. Der gesetzliche Rahmen dafür ist das Kinder- und Jugendhilfegesetz (das heutige SGB VIII). Der Anteil von Mädchen und junger Frauen beträgt 35 bis 40 Prozent. Kinder unter 14 Jahren sind mit rund drei Prozent die Ausnahme, Minderjährige insgesamt machen knapp die Hälfte der Klientel aus. Zwei Drittel aller erfassten Personen stammen aus zerbrochenen Familien, rund zehn Prozent von ihnen haben bereits eine Institutionenkarriere wie Gefängnis oder Psychiatrie hinter sich, 14 Prozent leb(t)en in Heimen oder anderen betreuten Wohnformen. Die Projekte gingen in der Befragung von aus dem Jahr 2007 davon aus, dass elf Prozent ihrer Klientel langfristig obdachlos sind.

Das Straßenkind gibt es nicht. Jugendliche und junge Erwachsene, die wie Mike in Deutschland auf der Straße leben, haben ganz unterschiedliche Geschichten. Schon die Biografien von Mädchen und Jungen unterscheiden sich gravierend. Mädchen halten länger Kontakt zu den Eltern als Jungen. Während Mädchen eher zu selbstschädigendem Verhalten neigen, sind Jungen fremdaggressiv. Nur durchkämpfen müssen sie sich alle. Das Geld ist immer knapp, ohne Drogen - auch Alkohol - geht es kaum, und der Horizont ist düster: Schule ohne Abschluss, keine Ausbildung, oft große Verhaltensauffälligkeiten, die sie überall anecken lassen. Für viele dieser jungen Menschen hatte das Leben bisher nicht viel zu bieten. Dabei ist Armut nur ein Aspekt. Und auch die drohende oder tatsächliche Obdachlosigkeit ist letztlich lediglich ein Symptom, denn darunter verbergen sich viel gravierendere Schwierigkeiten. Gerade hierfür Offenheit zu entwickeln, daran arbeiten die entsprechenden Projekte, indem sie Angebote machen für drogenabhängige, sich prostituierende oder in aussichtslose Situationen geratene junge Menschen.


Erstanlauf- und Notschlafstellen

Die ältesten Anlaufstellen für solche Jugendlichen und jungen Erwachsenen bestehen inzwischen seit mehr als 15 Jahren. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind Fachleute für diese jugendlichen Lebenslagen. Ihr Zugang zur jeweiligen örtlichen Szene ist meist ausgesprochen gut, und sie werden dort akzeptiert, können "dabei sein" - allerdings zu dem Preis, dass manche der Mitarbeitenden durchaus schon mal eine Nacht auf einer Polizeiwache zubringen, bevor geklärt ist, dass sie Sozialarbeiter sind. "Besser, wir wissen, was läuft, und können in Notlagen helfen, als in Büros die Probleme nur zu verwalten", meint der Frankfurter Streetworker Martin Dörrlamm. Er hat inzwischen dem Fachbegriff der professionellen Distanz zum Klienten den Begriff "professionelle Nähe" entgegengesetzt. Auf Initiative von terre des hommes wurde im März 2008 ein Netzwerk der kommunalen Anlaufstellen gegründet, das "Bündnis für Straßenkinder in Deutschland" (siehe unten "Straßenkind-Initiativen gründen deutschlandweites Bündnis"). Für terre des hommes steht außer Frage, dass ihre Arbeit viel besser unterstützt werden sollte - damit Mike und Martin schneller und wirkungsvoller zusammenkommen.


Austausch und Zusammenarbeit

"Straßenkind-Initiativen gründen deutschlandweites Bündnis"

terre des hommes hat gemeinsam mit mehr als 20 weiteren Organisationen das "Bündnis für Straßenkinder in Deutschland" ins Leben gerufen. Das bundesweite Netzwerk hat folgende Ziele:

1. Mit Öffentlichkeitsarbeit darauf aufmerksam machen, dass das Problem auch in Deutschland aktuell ist.

2. Einen fachlichen Austausch anregen: Die Organisationen arbeiten mit den unterschiedlichsten Ansätzen. Durch einen fachlichen Austausch können sie voneinander lernen und so ihre Arbeit verbessern.

3. Koordination fördern: Es gibt keine bundesweit tätige Organisation. Eine kontinuierliche Betreuung von Jugendlichen, die häufiger den Aufenthaltsort wechseln, ist schwierig. Das Bündnis Straßenkinder wird auch in diesem Bereich neue Ansätze entwickeln.

4. Das Bündnis ist auch eine Interessenvertretung gegenüber der Politik. Ein Zusammenschluss von mehr als 20 Organisationen findet bei den politischen Entscheidungsträgern besser Gehör als eine einzelne Organisation, die Forderungen stellt.

Die Ex-Boxweltmeisterin Regina Halmich konnte als Botschafterin für das Bündnis gewonnen werden. Geplant ist, dass Regina Halmich auch Projekte des Bündnisses besucht und mit den Jugendlichen Trainingseinheiten absolviert.

Die Gründung des Bündnisses wurde unterstützt von der Aktion "eine Stunde für die Zukunft". Dies ist eine gemeinsame Aktion des Volkswagen Konzernbetriebsrates und terre des hommes. Über die Aktion werden außer in Deutschland Projekte für Straßenkinder in Argentinien, Brasilien, Mexiko und Südafrika gefördert.

Weitere Informationen: www.buendnis-fuer-strassenkinder.de


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Quelle:
die zeitung, 3. Quartal 2008, S. 4
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
Ruppenkampstraße 11a, 49084 Osnabrück,
Tel.: 0541/71 01-0, Fax: 05 41/70 72 33
E-Mail: info@tdh.de
Internet: www.tdh.de

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abgegolten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. November 2008