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HINTERGRUND/150: Die Finanzkrise und ihre Folgen - Ein Schadensbericht


die zeitung - terre des hommes, 3. Quartal 2009

KINDER IN DER KRISE
"Die Rechnung zahlen andere"
Die Finanzkrise und ihre Folgen - Ein Schadensbericht

Von Michael Heuer


Die Angst geht um. Seit Beginn der Finanzkrise befindet sich die Weltkonjunktur auf Talfahrt. Millionen Menschen fürchten um ihre Asbeitsplätze, Staatshaushalten droht der finanzielle Kollaps. In vielen Ländern der Dritten Welt sehen sich die Menschen aber noch mit ganz anderen Krisen konfrontiert.


Katerstimmung in Bellary. Noch vor kurzem galt die Stadt im gleichnamigen indischen Distrikt als Inbegriff des Aufschwungs. Große Konzerne siedelten sich in der Region an, um Erzvorkommen auszubeuten. Bauern verließen ihre Höfe, um bei einer der großen Minengesellschaften anzuheuern. Wer keinen Job bei den großen Firmen bekam, fand Arbeit in einer der zahllosen illegalen Bergwerke. Die Nachfrage nach Eisenerz schien grenzenlos zu sein. Die wirtschaftliche Rezession, vor allem aber das Ende des Booms in China, hat Bellary nun zu einer Krisenregion gemacht. Nichts geht mehr: Zwei der 25 großen Minengesellschaften haben bereits geschlossen, in den übrigen wird kaum noch gefördert. Armut, Arbeitslosigkeit und Verzweiflung machen sich breit. Kinderschützer berichten, dass der Missbrauch von Frauen und Kindern stark zugenommen habe. Viele junge Mädchen werden zur Prostitution gezwungen.

Auch Indien leidet unter der weltweiten Wirtschaftskrise. Aber auch an einer Politik, die selbst in den Jahren gigantischer Wachstumsraten nicht auf die wirksame Bekämpfung der Armut abzielte. Nach Schätzungen der indischen Kampagne gegen Kinderarbeit können bis heute etwa 60 Millionen Jungen und Mädchen noch immer keine Schule besuchen; 50 Millionen Kinder müssen arbeiten. Das Land leidet zudem unter einer Nahrungsmittelkrise. Die Agrarproduktion geht von Jahr zu Jahr zurück, die Lebensmittelpreise steigen. Im 177 Länder umfassenden UN-Bericht über menschliche Entwicklung fiel Indien in den vergangenen Jahren auf Rang 128 zurück, im neuesten Bericht sogar auf Platz 132. Und das, obwohl Indiens Wirtschaft trotz Exportkrise weiter wächst.


Krise trifft Exportbranche

Die direkten Folgen der Finanzkrise treffen zunächst vor allem die großen Industrienationen. Milliarden fließen dort in Bankenrettungspakete und Konjunkturprogramme. Banken aus Indien, aber auch aus Ländern Lateinamerikas und Afrikas, waren an den Finanzspekulationen kaum beteiligt. Gleichwohl leiden erdölexportierende Länder wie Angola, Nigeria und Venezuela unter dem rapiden Verfall der Rohstoffpreise. Bislang haben auch die wohlhabenden Mittelschichten in den Metropolen des Südens vom Boom der Exportindustrien profitiert. Viele haben ihr Kapital in spekulativen Finanzprodukten in London, New York oder Zürich angelegt. Jetzt ist auch ihr Reichtum - und damit ihr Lebensstandard - bedroht. Das hat Auswirkungen auch auf die unteren Schichten der Gesellschaft: Viele Hausmädchen werden entlassen; Kinder, die sich ihren Lebensunterhalt mit Dienstleistungen wie Autowaschen, Zeitungsverkauf oder Schuhputzen verdienen, geht die zahlungskräftige Kundschaft verloren.

Dass Länder wie Bolivien und Peru weniger unter der globalen Krise leiden, verdanken sie ihrer vermeintlichen "Rückständigkeit". Viele Menschen sind Selbstversorger und betreiben Landwirtschaft. Es gibt einen ausgeprägten Tauschhandel auf lokalen Märkten. In einigen Regionen setzt man bewusst nicht auf die Modernisierung der Landwirtschaft und auf den Export. Von der Finanzkrise haben diese Menschen bisher nur aus dem Radio erfahren.

Anderswo sind die Folgen dramatisch. Zum Beispiel für Rentner in Chile. Auf Betreiben von Wirtschaftsberatern hat das Land mehr als 90 Milliarden US-Dollar in internationalen Finanzfonds angelegt. Allein 18 Milliarden dieser Reserve gingen zwischen September 2008 und Januar 2009 verloren. Andere Staaten haben ebenfalls Reserven im Ausland angelegt, um für die Zukunft vorzusorgen. Durch die Krise sind diese Rücklagen gefährdet oder vernichtet worden. Das Geld fehlt nun für Investitionen und Sozialprogramme.

Die Krise hat auch Folgen für Schuldnerländer im Süden. Auf mehr als vier Billionen Dollar belaufen sich die Auslandsschulden der Schwellen- und Entwicklungsländer. Die Rückzahlung der Kredite erfolgt in Dollar. Angesichts rückläufiger Deviseneinnahmen und im Falle einer Abwertung ihrer Landeswährungen können vor allem afrikanische Staaten unter Druck geraten, denn sie müssen mehr Geld für den Schuldendienst aufbringen. Zahlreiche Großbanken, die gerade selbst durch staatliche Rettungspakete gestützt werden, gehören zu den Gläubigern.

Die Bankenkrise wurde durch hemmungslose Spekulationen in den Finanzmetropolen ausgelöst. Die Konsequenzen bekommen nun aber die zu spüren, die die Krise nicht verursacht haben: Millionen Menschen verlieren ihre Arbeit, Kinder müssen die Schule verlassen, um für ihr Überleben zu schuften. Selbst zukünftige Generationen werden die Folgen der Krise in Form gigantischer Schuldenberge zu spüren bekommen. Die Verantwortlichen des Finanzdesasters aber können sich sicher sein: Ihre Rechnung zahlen andere.


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Mit Rettungsschirm

In Deutschland stehen 480 Milliarden Euro zur Stützung und Rettung von Banken zur Verfügung, darunter allein 87 Milliarden für die Hypo Real Estate-Bank. Ferner wurden zwei Konjunkturpakete für Wirtschaft und Beschäftigung in Höhe von 80 Milliarden Euro beschlossen. Im EU-Raum werden die Unterstützungsprogramme mit 600 Milliarden Euro veranschlagt. Im April verständigten sich die G20-Staaten (Industrie- und Schwellenländer) darauf, knapp 800 Milliarden Euro zur Stützung der Finanzmärkte bereitzustellen. Rund 15 Milliarden Euro, über drei Jahre verteilt, wollen die G8-Staaten in den Kampf gegen den Hunger in die Welt und in die Landwirtschaft der Entwicklungsländer investieren.

Mehr als 730 Milliarden Euro pumpen die USA in Konjunkturprogramme. Auch in die Stützung von Banken und Konzernen fließen Milliarden. Nutznießer war 2008 auch die Goldman Sachs-Bank. Mitte Juli meldete der Konzern wieder einen Gewinn von fast zwei Milliarden Euro und kündigte Gehalterhöhungen von 47 Prozent an. AIG, einer der größten Versicherer der Welt, meldete für das letzte Quartal 2008 ein Minus von 43,7 Milliarden Euro, den höchsten Verlust eines Unternehmens in der Wirtschaftsgeschichte. Mit 105 Milliarden Euro unterstützte die Regierung allein im November 2008 den angeschlagenen Konzern. Weitere Hilfen folgten. Nach Medienberichten schüttete AIG im gleichen Zeitraum Bonus-Zahlungen in Höhe von umgerechnet 155 Millionen Euro aus.

In Lateinamerika reagieren vor allem die exportorientierten Länder mit Konjunturprogrammen auf die Krise. Argentinien, Chile und Kolumbien haben Infrastrukurinvestitionen (Energie- und Verkehrssektor) beschlossen. Mit Steuererleichterungen und Subventionen will man den Konsum und die angeschlagenen Exportbranchen stützen. Brasilien hat außerdem den Bau von einer Million Sozialwohnungen geplant. Ein weiterer Teil der Infrastrukturinvestitionen zielt bereits auf die 2014 stattfindende Fußballweltmeisterschaft.

Afrika ist weniger von der internationalen Finanzkrise betroffen. Allerdings bekommen einige Volkswirtschaften die fallenden Rohstoffpreise stark zu spüren. In vielen Staatshaushalten ist kein Geld für Konjunkturprogramme vorhanden. In Südafrika fließen 60 Milliarden Euro an Investitionen in den öffentlichen Sektor (Häfen, Straßen, Bahnstrecken). Das Erdölland Angola investiert 70 Milliarden Euro in neue Bohrungen. Zusätzlich soll der Kupfer- und Eisenerzbau bis 2012 mit 2,3 Milliarden Euro gefördert und ausgebaut werden.

Auch in Asien bekommen vor allem die Exportnationen die Folgen zu spüren. China stellt mehr als 200 Milliarden Euro zur Modernisierung der Infrastruktur bereit. Indien plant ein 320 Milliarden teures Konjunkturprogramm. Das Programm unterstützt auch Unternehmensfusionen und sieht Kredite für Exportunternehmen vor. Allerdings ist die Finanzierung noch nicht gesichert.


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Ohne Rettungsschirm

In China verloren 20 Millionen Wanderarbeiter durch die Krise ihren Job. In Kambodscha wurden 60.000 Textilarbeiterinnen entlassen, in Indien unter anderem 200.000 Diamantenschleifer. In 90 Entwicklungsländern macht der Rohstoffsektor etwa 50 Prozent der Exporterlöse aus. Doch für diese Rohstoffe prognostizieren Experten einen Preisverfall von 40 Prozent im Jahr 2009. Kann dieser Preisverfall nicht durch günstige Importe, zum Beispiel bei Rohöl, aufgefangen werden, sind sinkende Steuereinnahmen und ein drastischer Anstieg der Arbeitslosigkeit vorprogrammiert. Von Arbeitslosigkeit sind aber nicht nur Menschen in regulären Beschäftigungsverhältnissen betroffen. Besonders hart trifft es Erwerbstätige im informellen Sektor, also die Menschen, die Arbeit selbst organisiert und ohne vertragliche Regelungen leisten. Millionen von ihnen leben ohne jegliche soziale Absicherung. Sie haben häufig weniger als zwei US-Dollar pro Tag zur Verfügung. In Indien sollen in den vergangenen Monaten allein zwei Millionen Menschen im informellen Sektor ihre Arbeit verloren haben.

Durch Kapitalflucht, den Rückgang von Direktinvestitionen und geringere Steuereinnahmen werden in vielen Ländern die Sozialausgaben gekürzt. So hat Tansania bereits angekündigt, das Budget für HIV/Aids-Infizierte um 25 Prozent zu kürzen.

In den vergangenen Jahren stieg die Zahl der Hungernden von 850 auf 960 Millionen. Durch die Krise wird sich ihre Zahl Prognosen zufolge auf eine Milliarde erhöhen. Durch die aktuelle Finanzkrise sind 53 Millionen Menschen zusätzlich von Armut bedroht. Überproportional betroffen sind Frauen und Mädchen. Nach UNICEF-Schätzungen lebt bereits jetzt schon jedes zweite der insgesamt 2,2 Milliarden Kinder auf der Welt in Armut.

Eigentlich sollte es Rettungsschirme geben: So versprachen die G8-Staaten im Jahre 2005, die Hilfe für Afrika bis 2010 um 25 Milliarden pro Jahr zu erhöhen. Bis 2008 kam nicht einmal ein Drittel der Summe zusammen. Im Jahr 2000 einigten sich die Staats- und Regierungschefs während des UN-Millenniumsgipfels auf einen Maßnahmenkatalog mit dem Ziel, die Armut in der Welt bis zum Jahr 2015 zu halbieren. In den vergangenen Jahren konnten dank Aufstockung der Entwicklungshilfeetats kleine Erfolge, etwa bei der Einschulung von Kindern und in der Gesundheitsversorgung, erreicht werden. Doch diese Ziele sind nun durch die Krise massiv gefährdet. Irland, Italien und Frankreich haben ihre Etats bereits erheblich gekürzt. Andere Länder werden vermutlich mit Hinweis auf Haushaltsdefizite durch ihre Bankenrettungspakete folgen.

Millionen Menschen werden jeden Job annehmen müssen, um ihre Familien zu ernähren. Viele Eltern in der Dritten Welt stehen vor der Entscheidung, ihre Kinder von der Schule zu nehmen. Diese Kinder werden arbeiten müssen, um das Familieneinkommen sichern zu helfen. Andere Kinder werden ihre bisherige Arbeit verlieren und in ausbeuterischen und gefährlichen Arbeitsverhältnissen landen. Für sie gibt es keine Rettungsschirme.


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Quelle:
die zeitung, 3. Quartal 2009, S. 4
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2009