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HINTERGRUND/162: Interview mit Simon Teune - Aktiv für Kinder in Not


die zeitung - terre des hommes, 3. Quartal 2010

Aktiv für Kinder in Not
Solidarität schafft Verbundenheit auf Augenhöhe

Ein Interview mit Simon Teune


SOLIDARITÄT UND ENGAGEMENT - Unser öffentliches Leben ist ohne das ehrenamtliche Engagement von Bürgerinnen und Bürgern nicht denkbar. In Vereinen, Verbänden, Bürgerinitiativen und sozialen Einrichtungen bringen Menschen unentgeltlich ihre Freizeit und Kompetenz ein. Auch die Arbeit von terre des hommes ruht auf diesem Fundament. In den lokalen und überregionalen terre des hommes-Arbeitsgruppen haben sich Menschen zusammengefunden, die sich auf vielfältige und solidarische Weise für Kinder in Not und ihre Rechte einsetzen.


TERRE DES HOMMES: Über die Bedeutung von Solidarität sprach terre des hommes mit Simon Teune, Mitarbeiter am »Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung«. Der Wissenschaftler befasst sich mit der Entwicklung sozialer Bewegungen und dem Thema Solidarität. Der Beginn internationaler Solidarität wird mit dem Algerienkrieg angesetzt und beim Vietnamkrieg einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Die Verbrechen beider Kriege gerade auch an Kindern waren der Auslöser für die Arbeit von terre des hommes. Seither haben viele Menschen mit ihrem Engagement terre des hommes zu einem internationalen Kinderhilfswerk aufgebaut, das sowohl Bürgerinitiative als auch Fachorganisation ist. Worin sehen Sie heutzutage die Bedeutung eines Begriffs wie Solidarität für eine Organisation wie terre des hommes?

SIMON TEUNE: Solidarität ist im Unterschied zu Familien- oder Liebesbeziehungen ein Gefühl für unbekannte Andere, auch ferne Andere. Der Begriff ist relativ jung und wurde Anfang des 19. Jahrhunderts von französischen Gesellschaftstheoretikern geschaffen und hat aktive Aufnahme sowohl in die verschiedenen Strömungen der Arbeiterbewegung als auch der christlichen Sozialethik gefunden. Solidarität braucht die innere Einstellung, die Zuwendung zum anderen. Wesentlich sind Aspekte wie zuverlässiger Zusammenhalt, die Bereitschaft zur Wehrhaftigkeit und aktivem Engagement für das gemeinsame Interesse, und die Geschwisterlichkeit als ethische Grundlage. terre des hommes bietet mit seinen Zielen und Angeboten wie Spenden und ehrenamtlichen Aktivitäten wie andere vergleichbare Organisationen den Menschen die Möglichkeit, das eigentlich abstrakte Gefühl von Solidarität konkret und spürbar zu praktizieren, auch gemeinsam mit anderen. Von abstraktem Gefühl rede ich deshalb, weil man am Anfang Verbundenheit mit jemandem fühlt, zu dem man eigentlich keinen direkten Bezug hat. Solidarität wird dann praktisch, wenn Ungerechtigkeit Leidenschaft schürt. Organisationen wie terre des hommes decken immer wieder Ungerechtigkeiten auf und bieten Wege an, um diese Leidenschaft in sinnvoller Weise zu leben. Das ist heute genauso wichtig wie vor Jahrzehnten, denn die Ungerechtigkeiten hören ja nicht auf.

TERRE DES HOMMES: Trotzdem hat sich einiges geändert: In den 70er und 80er Jahren war eine wesentliche Triebkraft die Unterstützung des Widerstands gegen repressive und ausbeuterische Regimes im Süden und gegen die Unterwerfung der Entwicklungsländer unter die Verwertungsinteressen der Industrieländer. Heute stehen wir vor der globalen Klimakrise, einer weltweiten Ernährungs- und Energiekrise. Das kann nicht einfach mit der bisherigen Logik der Solidaritätsarbeit angegangen werden. Was müssen wir ändern, wo nachlegen?

SIMON TEUNE: Ich denke, dass die heutigen globalen Herausforderungen dazu beitragen, dass die solidarischen Zusammenhänge noch stärker auf gleicher Augenhöhe aufgebaut werden müssen. Wir brauchen weiter Leidenschaft gegen Unrecht, wir brauchen weiterhin die Unterstützung lokaler Bewegungen an verschiedenen Orten unserer »Einen Welt«. Aber wir brauchen auch gemeinsame Analyse der weltweiten Krisensituationen, Vergewisserung über gemeinsame Visionen und Werte, gemeinsame Versuche und erste Schritte »eine andere Welt aufzubauen«. Das geht nur auf gleicher Augenhöhe. Um zu einem globalen solidarischen Miteinander zu kommen, sehe ich drei Arenen: Es geht um öffentlichen Streit über die Politik und die Regeln auf nationaler und internationaler Ebene. Dabei sehe ich eine zentrale Rolle für die Menschenrechte als Rahmen. Es geht zweitens um selbstorganisierte Alternativen, die bereits im Hier und Jetzt aufzeigen, dass es anders geht und auch wohin. Und drittens geht es um das individuelle Handeln. Denn vermeintlich nebensächliche Handlungen jedes Einzelnen können in der Summe entscheidende Konsequenzen haben, wie zum Beispiel das Ess- oder Mobilitätsverhalten. Solidarität in der Situation heutiger globaler Verflechtungen erfordert auch, darauf hinzuarbeiten, dass sich die eigene Lebensgestaltung nicht nachteilig auf Andere auswirkt.


Das Interview führte terre des hommes-Geschäftsführerin Danuta Sacher.


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Quelle:
die zeitung, 3. Quartal 2010, S. 4
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
Ruppenkampstraße 11a, 49084 Osnabrück,
Tel.: 0541/71 01-0, Fax: 05 41/70 72 33
E-Mail: info@tdh.de
Internet: www.tdh.de

die zeitung - terre des hommes erscheint
4 Mal jährlich. Der Verkaufspreis wird durch Spenden
abgegolten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. September 2010